IMI-Standpunkt 2023/022

Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie

Wehrhaft! Wertebasiert? Interessengeleitet!

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 23. Juni 2023

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Nun ist sie also da: Nach monatelanger Verspätung, die wohl vor allem dem Gerangel um Machtkompetenzen diverser Ministerien geschuldet war, erschien am 14. Juni 2023 Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie (NSS). Das unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellte Dokument namens „Integrierte Sicherheit für Deutschland. Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig“ umreißt die Grundlagen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die bislang im Weißbuch des Verteidigungsministeriums beschrieben wurden. Auch wenn ihre Erstellung bereits im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung angekündigt wurde, ist sie nun vor allem gedacht als ein „Kompass für die Zeitenwende-Politik der Bundesregierung“ (Handelsblatt, 9.6.2023).

Dementsprechend rückt die Konfrontation mit Russland und China unter dem Banner der Verteidigung einer „Regelbasierten Internationalen Ordnung“ nun noch weiter ins Zentrum der Planungen. Die verfolgte Grundlinie ist dabei allerdings keineswegs neu: Die Aufrüstung Deutschlands und Europas soll das Land nicht nur für die Auseinandersetzungen mit den erklärten Gegnern wappnen, sondern gleichzeitig auch die Position im Bündnis mit den USA „verbessern“. Deshalb wird in dem Papier vor allem für die Stärkung der Rüstungsindustrie, den Ausbau der Rüstungsexporte und die Erhöhung der Militärausgaben getrommelt. Schließlich müsse Deutschland „wehrhaft“ sein, um eine Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, die „wertebasiert und interessengeleitet“ sei.

Es folgt eine kurze Einschätzung insbesondere der militärrelevanten Teile der NSS, die sich bei näherer Betrachtung vor allem als Kompass entpuppt, der konsequent in Richtung einer Verschärfung der Großmachtkonflikte zeigt.

Interessen, Regeln und Bedrohungen

Im Zentrum der Nationalen Sicherheitsstrategie steht der Anspruch, die „Regelbasierte Internationale Ordnung“ zu verteidigen, die in Zeiten „wachsender Multi­polarität und zunehmender systemischer Rivali­tät“ (NSS: S. 23) zunehmend unter Beschuss gerate: „Den Versuchen, die Welt in Einflusssphären einzuteilen, stellen wir das positive Modell einer solchen regelbasierten Ordnung entgegen. […] Geprägt von ihrer Auffassung von systemischer Rivalität stre­ben einige Staaten jedoch an, diese Ordnung zu untergraben und so ihre revisionistischen Vor­stellungen von Einflusssphären durchzusetzen.“ (NSS: S. 16 und 23)

Wer in dieser Gemengelage als zentraler Gegner identifiziert wird, überrascht nicht sonderlich: „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ (NSS: S. 22) Doch auch China wird mehr und mehr als direkter Gegner begriffen: „China ist Partner, Wettbewerber und sys­temischer Rivale. Dabei sehen wir, dass die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben. China versucht auf verschiedenen Wegen, die bestehende regelbasierte internationale Ordnung umzugestalten, beansprucht immer offensiver eine regionale Vormachtstellung und handelt dabei immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten.“ (NSS: S. 23)

Was denn so genau unter der viel beschworenen regelbasierten Ordnung verstanden werden soll, ist in dem Dokument ebenfalls vage zu finden: „Wir sind entschlossen, die Prinzipien einer regel­basierten internationalen Ordnung mit starken Vereinten Nationen in ihrem Zentrum gemein­sam mit unseren Verbündeten und Partnern weltweit zu verteidigen und durchzusetzen: Rechte und Regeln, die alle Staaten gleicherma­ßen schützen und verpflichten; souveräne Gleichheit aller Staaten; friedlicher Interessenausgleich und Konfliktvermeidung; multilaterales Zusammenwirken zum Wohle der Menschheit und zum Schutz unserer natür­lichen Lebensgrundlagen; freie Entfaltungsmöglichkeiten für alle Men­schen, wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschrieben.“ (NSS: S. 48)

Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, aber unerwähnt darf es natürlich nicht bleiben, dass nicht zuletzt der Westen nahezu jedes dieser hehren Prinzipien verletzt hat bzw. verletzt. In andern Ländern wird die regelbasierte Ordnung deshalb längst als Kampfbegriff zur Aufrechterhaltung der westlichen Vorherrschaft wahrgenommen – der Westen erhebt über sie nicht nur den Anspruch, die internationalen Spielregeln aufzustellen und beliebig auszulegen, sondern sie auch im Gegensatz zu anderen ein ums andere Mal brechen zu dürfen (siehe dazu ausführlich IMI-Analyse 2023/19).

Selbstredend erachtet deshalb auch die NSS jeglichen Versuch, an diesen Regeln zu rütteln, als direkten Angriff auf die bislang doch recht komfortable Position, wie zum Beispiel aus Passagen wie dieser hervorgeht: „Auch die internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen sind immer mehr von macht­politischen Erwägungen geprägt. […] Die Gründung neuer, paralleler Institutionen mit abweichenden Regelsystemen zielt darauf ab, etablierte Organi­sationen bewusst zu umgehen. Das internationale Regelwerk für offene und faire Märkte und ein stabiles Finanzsystem sollen damit unterminiert werden.“ (NSS: S. 24)

Rüstung für Großmachtkonflikte

Während Militärinterventionen im Ausland im Weißbuch 2006 als wichtigste Aufgabe der Bundeswehr auserkoren wurden, stellte sie die Neufassung des Dokumentes aus dem Jahr 2016 auf die gleiche Stufe mit der sog. Landes- und Bündnisverteidigung, also der Vorbereitung auf eine Auseinandersetzung mit einer feindlichen Großmacht. Nun nimmt die Nationale Sicherheitsstrategie eine erneute Schwerpunktverlagerung vor, indem Großmachtkonflikte nun klar und deutlich an oberster Stelle stehen: „Der Kernauftrag der Bundeswehr ist die Lan­des- und Bündnisverteidigung, alle Aufgaben ordnen sich diesem Auftrag unter.“ (NSS: S. 32)

Das will man sich zuallererst einiges kosten lassen: „Im Lichte der Zeitenwende müssen wir dabei in besonderem Maße in unsere Wehrhaftigkeit und Verteidigungsfähig­keiten investieren. Zunächst auch durch das neu geschaffene Sondervermögen Bundeswehr werden wir im mehrjährigen Durchschnitt unseren 2%-BIP-Beitrag zu den NATO-Fähigkeitszielen erbringen.“ (NSS: S. 33) Die Bundeswehr müsse ein „Garant der konventionellen Verteidigung in Europa“ werden, weshalb ab 2024 Militärausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht werden sollen, betonte kürzlich auch Kanzler Olaf Scholz noch einmal. Um diese Ankündigungen mit Zahlen zu versehen: Vor der Zeitenwende beliefen sich die Ausgaben nach den hierfür ausschlaggebenden NATO-Kriterien im Jahr 2021 auf 53 Mrd. Euro. Legt man die aktuelle April-Schätzung des IWF zugrunde, entsprächen 2 Prozent des BIP im Jahr 2024 der Summe von rund 84 Mrd. Euro!

Generell sei die Bundesregierung bestrebt, über die „Erfüllung der NATO-Planungsziele die Bundeswehr in den nächsten Jahren zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa“ zu machen. Man wolle zudem die „militärische Präsenz im Bündnisgebiet zum Schutz unserer Bündnispartner weiter ausbauen und versteti­gen“ sowie „verbesserte Rah­menbedingungen für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ schaffen. (NSS: S. 33) Vor allem gehe es aber darum, die Europäische Union in der Ära der Großkonflikte „besser“ in Stellung zu bringen: „Die Bundesregierung unterstützt den Anspruch einer global handlungsfähigen, einigen Europäi­schen Union, die ihr Gewicht zur Geltung bringt, um die regelbasierte internationale Ordnung mit­zugestalten.“ (NSS: S. 37)

Hierfür bedürfte es vor allem eines – der Aufrüstung: „Eigenständige europäi­sche Handlungsfähigkeit ist zunehmend Voraus­setzung für die Sicherheit Deutschlands und Europas. Dazu gehören moderne, leistungsfähige Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten ebenso wie eine leistungs- und international wettbewerbs­fähige europäische Sicherheits- und Verteidi­gungsindustrie, die Grundlagen der militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte schafft. Gemeinsame Rüstungsprojekte und deren Exportfähigkeit ge­mäß den Maßstäben des zukünftigen Rüstungsex­portkontrollgesetzes tragen dazu bei, europäische Handlungsfähigkeit voranzutreiben und stärken damit den europäischen Pfeiler in der NATO. […] Die Bundesregierung ist entschlossen, die euro­päische sicherheits- und verteidigungsindustrielle Basis weiter zu stärken. Dies schließt den Schutz von Schlüsseltechnologien auf nationaler und europäischer Ebene ein.“ (NSS: 31 und S. 39)

Deutlich wird anhand solcher Sätze vor allem das Bestreben, zuerst die nationale Rüstungsindustrie zu stärken und aus dieser Position dann den Ausbau des EU-Rüstungssektors voranzutreiben, was dann wiederum durch die „Stärkung des europäischen Pfeilers“ in der NATO den dortigen Einfluss vergrößern soll.

Rüstungsexporte: Freie Fahrt auch in Europa

Ein wesentliches Element zur Stärkung der nationalen und europäischen Rüstungsbasis sind Rüstungsexporte – selbst in Zeiten der Zeitenwende sind ansonsten die heimischen Märkte nicht groß genug, um auf Dauer eine stark aufgestellte Waffenindustrie unterhalten zu können. In Deutschland (Rüstungsexportrichtlinien) wie auch in der Europäischen Union (Gemeinsamer Standpunkt) behindern aktuell zwei Regelwerke zwar nicht rechtlich bindend, aber doch moralisch erschwerend den schrankenlosen Export von Rüstungsgütern. Schon lange wird deshalb mit diversen Methoden versucht, die diesbezüglichen Beschränkungen immer weiter auszuhöhlen (siehe IMI-Analyse 2019/21).

Vor allem die in beiden Dokumenten enthaltene Forderung, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu entsenden, geriet bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine unter Druck. Insofern war es auch wenig überraschend, dass sich die Bundesregierung bei den Waffenlieferungen an die Ukraine von diesen Exportrichtlinien nicht abhalten ließ und enorme Summen mobilisierte: „Die Mittel des Ertüchtigungstitels belaufen sich auf insgesamt rund 5,4 Milliarden Euro für das Jahr 2023 (nach 2 Milliarden Euro im Jahr 2022) zzgl. Verpflichtungsermächtigungen für die Folgejahre in Höhe von rund 10,5 Milliarden Euro.“

Weder die deutschen noch die europäischen Richtlinien sind bislang einklagbar – das soll nun aber durch ein künftiges Rüstungsexportgesetz zumindest in Teilen behoben werden, das aktuell unter der Ägide des grünen Wirtschaftsstaatssekretärs Sven Giegold erarbeitet wird. Gleichzeitig wird aus dem bislang vorliegenden Entwurf aber auch klar, dass in dem anvisierten Gesetz künftig Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete nahezu problemlos möglich sein sollen (siehe IMI-Analyse 2022/57). Und genau dieses Vorgehen soll wohl auch als Vorbild dienen, um Rüstungsexporten in Krisen- und Kriegsgebiete auch auf europäischer Ebene endgültig einen Blankoscheck auszustellen: „Wir wollen die europäische Rüstungsexportkontrolle stärker harmonisieren, auch um bedrohte Staaten in ihrem Recht auf Selbstverteidigung noch besser unterstützen zu können. Wir setzen uns deshalb für das Vorhaben einer EU-Rüstungsexportverordnung ein.“ (NSS: S. 45)

Zielkonflikte: Interessen vor Werte

Auch wenn die NSS die meiste Zeit suggeriert, es gäbe zwischen Werten und Interessen keinerlei Widerspruch, ist das natürlich wie die Autor*innen des Dokuments selber wissen vollkommener Quatsch, was teils sogar eingeräumt wird: „Bei der Verteidigung unserer Werte und Durch­setzung unserer Interessen müssen wir uns Zielkonflikten stellen, die politische Abwägungen und Entscheidungen erfordern.“ (NSS: S. 29)

Wo in einem Zielkonflikt dann die Prioritäten liegen, dürfte naheliegen und lässt sich beispielhaft anhand der Sätze über Rüstungsexporte auch ganz gut erahnen: „Bei der Kontrolle von Rüstungsexporten wird die Bundesregierung an ihrer restriktiven Grundlinie festhalten und dafür in einem Rüstungsexport­kontrollgesetz Maßstäbe festlegen. Bei Rüstungsexportentscheidungen finden Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Emp­fängerland besondere Berücksichtigung. Eine verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik be­rücksichtigt zugleich auch unsere Bündnis- und Sicherheitsinteressen, geostrategische Heraus­forderungen, die Unterstützung von Partnern, die unmittelbaren Bedrohungen ausgesetzt sind, und die Anforderungen einer verstärkten europäi­schen Rüstungskooperation.“ (NSS: S. 45)