IMI-Standpunkt 2022/047
Wenn von Verteidigung der Freiheit fabuliert wird, ist Gefahr im Verzug
Friedenspolitisches Denken in medialer Schlacht um die Ukraine
von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 11. November 2022
Wieder einmal versucht die Bundesregierung, die Bevölkerung mit der Verteidigung der Freiheit von einem Krieg zu überzeugen. Heute geht es um die Ukraine; die gelte es „vollumfänglich zu unterstützen und damit unsere gemeinsame Freiheit zu verteidigen“, so die Grünen-Politikerin Göring-Eckardt. (1) Wie fragwürdig solche Argumentationen sind, zeigt ein Blick auf die Geschichte der Kriege in Afghanistan und Vietnam. Denn diese Kriege im Namen der Freiheit zeitigten furchtbare Opfer – und das Gegenteil freiheitlicher Folgen.
Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck behauptete, Deutschlands Freiheit werde am Hindukusch verteidigt und warb damit für die Beteiligung der Bundeswehr am zwei Jahrzehnte langen NATO-Krieg in Afghanistan. (2) Zur „Verteidigung“ der Freiheit waren ab „2001 Truppen der NATO in Afghanistan im Einsatz gegen Taliban, den Islamischen Staat und Al-Kaida. Auch die Bundeswehr beteiligt sich seit 2002 an diesem Einsatz.“ Deutschland war 2013 mit 5.000 Soldat*innen die drittgrößte Militärmacht in Afghanistan. (3) In der Folge gab es in Afghanistan eine schreckliche Entwicklung, die größte Zweifel am Sinn des Bundeswehr-Einsatzes dort auslösen muss: „Im Krieg gegen die islamistischen Taliban und die Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ (IS) sind [2017] in Afghanistan das vierte Jahr in Folge mehr als 10.000 Zivilisten getötet oder verletzt worden. […], wie aus einem […] Jahresbericht der Vereinten Nationen hervorgeht. [… Es] machten Frauen und Kinder 42 Prozent aller zivilen Opfer aus. […] “ (4)
Heute, nach Abzug der NATO, regieren wieder die Taliban Afghanistan. Welche bürgerlichen Freiheiten gelten dort jetzt? Wie sieht es mit Freiheitsrechten für Frauen in Afghanistan aus?
Auch der Vietnamkrieg von etwa 1955 bis 1975 wurde mit Freiheit gerechtfertigt. „1965 sahen […] 44 % der Westdeutschen den Vietnamkrieg der USA als Verteidigung der Freiheit gegen den Kommunismus.“ (5) Die U.S. Air Force führte als Erweiterung des Vietnamkriegs 1970 bis 1973 eine „Operation Freedom Deal“ durch. (6) „[Zuvor…] schlossen [… die USA] mit Südvietnam am 23. Dezember 1950 einen militärischen Beistandsvertrag und am 7. September 1951 einen Vertrag über Wirtschafts- und Technologiehilfen.“ [… Zudem] erreichte die US-Regierung im September 1954 die Gründung der SEATO – mit Australien, Frankreich, Großbritannien, Neuseeland, Pakistan, den Philippinen und Thailand –, welche bei einer „bewaffneten Aggression“ gegen einen Unterzeichnerstaat […] gemeinsames militärisches Eingreifen vorsah…“ (sic) (5)
Auch dieser sogenannte Freiheitskampf hatte schockierende Folgen. „Die Gesamtzahl der durch diesen Krieg getöteten Vietnamesen wird verschieden geschätzt, weil […] Aufzeichnungen fehlen, geheimgehalten oder gefälscht wurden [… Eine konservative Schätzung ergab] „insgesamt 1.353.000 Menschen, darunter 627.000 Zivilisten, 444.000 kommunistische Soldaten und 282.000 amerikanische und südvietnamesische Soldaten, die zwischen 1965 und 1974 durch Kriegshandlungen getötet wurden. […] Wissenschaftler schätzen, dass die US Air Force von 1965 bis 1971 die zwei- bis dreifache Menge an Bombenmunition (bis zu sieben Millionen Tonnen) auf Vietnam abwarf wie im gesamten Zweiten Weltkrieg. Sie hinterließen geschätzte 21 Millionen Bombenkrater; manche Regionen Vietnams sind so dicht übersät damit, dass sie einer Mondlandschaft gleichen. Geschätzte 3,5 Millionen Landminen und etwa 300.000 Tonnen nicht explodierter Kriegsmunition befinden sich im Boden Vietnams. […] Dioxinhaltige Herbizide [zur Entlaubung und freier Feindsicht], vor allem Agent Orange, richteten langfristige Umweltschäden an. Sie traf geschätzte 3,3 Millionen Hektar Wald, kontaminierte 3.000 vietnamesische Dörfer […].
Nach Angaben der vietnamesischen Regierung an von Agent Orange verursachten Schäden starben bis 2009 400.000 Vietnamesen. [Grammatik-Fehler von wikipedia]“ (5)
Freiheitliche Folgen findet man auch nach Ende des Vietnamkriegs kaum. „Nordvietnamesen töteten seit 1975 etwa 60.000 „unerwünschte“ Südvietnamesen, internierten hunderttausende Anhänger des Thieu-Regimes in Zwangsarbeitslager und unterzogen diese einem intensiven politischen Umerziehungsprogramm; manche wurden gefoltert. Bis 1978 wurden die meisten, bis 1995 alle politischen Häftlinge freigelassen.“ (5)
Weil Kriege auch im Namen der Freiheit fatale Folgen wie oben haben können, ist das Fabulieren der Bundesregierung von Militär und Verteidigung der Freiheit verantwortungslos gegenüber den Bevölkerungen Europas und der Ukraine.
Anmerkung
„1966 gab die US-Regierung doppelt so viel für den Vietnamkrieg aus wie für soziale Reformprogramme. Bis 1968 stiegen die Kriegskosten auf 80,5 Milliarden Dollar (heutiger Wert 590 Mrd. USD) und verursachten einen Anstieg der Inflation von 2,7 auf 4 %. Im März 1968 kam es zu einer Krise des Goldmarkts. Daraufhin forderten auch Wirtschaftseliten in den USA ein baldiges Kriegsende.“ (5)
Quellen
(1) „Direkte Panzerlieferung an Kiew klären“ Frankfurter Rundschau 25.07.2022
(2) „Regierungserklärung zu Afghanistan: Merkels Zeugen: Schmidt und Struck“ die tageszeitung 23. 4. 2010
(3) „Hunderte Bundeswehr-Soldaten sollen in Afghanistan bleiben“ Süddeutsche Zeitung, 18.04.2013
(4) „UN zählen 2017 mehr als 10 000 zivile Opfer in Afghanistan“ Frankfurter Rundschau, 16.02.2018