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Nato will Schnelle Eingreiftruppe auf über 300.000 aufstocken

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 29. Juni 2022

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Schon kurz vor dem heutigen offiziellen Beginn des NATO-Gipfels in Madrid ließ die NATO die buchstäbliche Bombe platzen: Im Lichte der sich im weiter verschärfenden Konflikte mit Russland erhöht das Bündnis den Umfang seiner Schnellen Eingreiftruppe (NATO Response Force, NRF) auf mehrere hunderttausend SoldatInnen. Woher allerdings das Personal und das Geld für diese ambitionierten Pläne kommen sollen, ist allerdings derzeit noch vollkommen schleierhaft.

Response Force im Wandel der Zeit

Bereits unmittelbar nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges leitete die NATO mit ihrem Strategischen Konzept von Rom im November 1991 eine Schwerpunktverschiebung weg von Russland und hin zu Militäreinsätzen im Globalen Süden („Out-of-Area“) ein. Auch das bislang aktuellste Strategische Konzept aus dem Jahr 2010 betrachtete Russland noch primär als Partnerin und widmete sich vorwiegend der Frage, wie Auslandseinsätze „effektiver“ gestaltet werden könnten.

An diesem Einsatzprofil orientierte sich dementsprechend zunächst auch die Schnelle Eingreiftruppe der NATO, die 2002 auf dem Prager Gipfeltreffen beschlossen und vier Jahre später mit einem Umfang zwischen – die Angaben schwanken – 13.000 und 17.000 SoldatInnen für voll einsatzbereit erklärt wurde. Die ersten Jahre fokussierte sich die innerhalb kürzester Zeit verlegbare NRF auf Einsätze gegen tendenziell kleinere Gegner wie sie beispielsweise im Jahr 2006 bei der Übung Steadfast Jaguar auf den Kapverdischen Inseln geprobt wurden. Damals übte sich die NRF darin, einen Konflikt zum Zwecke der Rohstoffsicherung zu „befrieden“:

„Ethnische Konflikte in einem afrikanischen Land, ein Krieg um die Kontrolle natürlicher Ressourcen zwischen vier Ländern in Afrika – dies sind die Szenarien, die dem bisher größten Manöver der im Aufbau befindlichen ‚schnellen Eingreiftruppe‘ der Nato zugrunde liegen. Rund 7.000 Soldaten der Land-, See- und Luftstreitkräfte sind an der Übung ‚Steadfast Jaguar‘ beteiligt, die am 1. Juni für eine Dauer von sechs Wochen auf den Kapverden im Atlantischen Ozean begann. […] Wie die Militärs bestätigen, hat innerhalb der Nato eine Debatte um die Sicherung von Energiequellen begonnen, einschließlich Öl- und Gaspipelines.“ (Misser, Facois: Nato übt weltweite Intervention, taz, 22.6.2006)

Spätestens mit der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen ab 2014 änderte sich dann aber auch der Schwerpunkt der NRF, die in einem ersten Schritt beim Gipfeltreffen in Wales auf 40.000 SoldatInnen deutlich aufgestockt wurde. Von nun ab gewannen dann auch wieder Auseinandersetzungen mit technologisch gleichrangigen Gegnern, wie die Vorbereitung auf mögliche kriegerische Auseinandersetzungen mit Russland (oder China) in NATO und Bundeswehr meist genannt wird, auch für die NRF wieder mehr und mehr an Bedeutung. Der vorläufige Gipfel dieser Entwicklungen wird nun auf dem Madrider Treffen der NATO-Staats- und Regierungschefs erreicht.

NRF für den Neuen Kalten Krieg

Mit der anstehenden Verabschiedung eines neuen Strategischen Konzeptes kehrt die NATO nun auch offiziell in ihrem wichtigsten Strategiedokument in die alten Fahrwasser des Kalten Krieges zurück, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seiner gestrigen Pressekonferenz betonte:

„Unser neues Konzept wird uns in einer Ära strategischer Konkurrenz die Richtung weisen. Ich gehe davon aus, dass wir deutlich machen werden, dass die Allianz Russland als die größte Bedrohung ihrer Sicherheit erachtet.“

Schon seit einiger Zeit war die Rede davon, die NATO beabsichtige eine massive Erhöhung der NRF – zunächst war dabei von 240.000 SoldatInnen die Rede. In seiner gestrigen Pressekonferenz ging Stoltenberg noch einmal einen Schritt darüber hinaus, indem er eine Aufstockung auf über 300.000 ankündigte. Nach Informationen von Bruxelles2 soll das neue NRF-Modell bereits 2023 eingeführt werden, bei dem auch das Verlegetempo durch vorpositioniertes Material und dergleichen beschleunigt werden soll. Medienberichten zufolge sollen Teile der NRF künftig innerhalb von 10 Tagen, andere in spätestens30 oder 50 Tagen verlegbar sein. Außerdem scheint vorgesehen zu sein, die jeweiligen Kräfte eines Landes einem bestimmten Gebiet zuzuordnen, woraus sich für Deutschland eine „Zuständigkeit“ für Litauen oder gar die gesamte baltische Region ergeben könnte.

Etwas unter ging angesichts der schwindelerregenden sechsstelligen Zahlen eine weitere Ankündigung des NATO-Generalsekretärs, nämlich die bisherigen – inzwischen acht – NATO-Bataillone (~1.000 bis 1.500 SoldatInnen) in Osteuropa auf Brigadelevel (~3.000 bis 5.000) auszubauen. Unklar ist, ob das bedeutet, dass tatsächlich alle acht Bataillone zu einer Dauerpräsenz von dann bis zu 40.000 SoldatInnen aufgestockt werden sollen. Auch auf Nachfrage wollte sich Stoltenberg in seiner Pressekonferenz dazu nicht eindeutig festlegen. Er deutete allerdings an, dass es hier für jedes Land unterschiedliche Formen geben könnte, was auch dazu passt, dass Deutschland zum Beispiel in Form von Bundeskanzler Olaf Scholz bereits Anfang des Monats angekündigt hatte, seine Präsenz in Litauen zu einer “robusten Kampfbrigade” weiterzuentwickeln, während sich dann allerdings herausstellte, dass damit – vorläufig zumindest – vor allem die entsprechenden Kommandostrukturen gemeint waren. Bruxelles2 beschreibt die flexible Herangehensweise folgendermaßen (übersetzt mit deepl.com): „Nicht alle alliierten Truppen werden notwendigerweise im Land stationiert sein. Es wird jedem Land überlassen sein, sein System zu definieren. Das ‚deutsche Modell‘ sieht beispielsweise vor, schwer transportierbare Geräte in Litauen unterzubringen. Während mehr mobile Truppen und Ausrüstung in Deutschland stationiert bleiben. Denn laut Berlin sind sie nah dran, brauchen also nicht lange, um an die litauisch-russische Grenze zu kommen.

Völlig unklar ist, woher das Personal für den deutschen Anteil an der drastisch ausgebauten NRF kommen wird. Laut „Mittelfristiger Personalplanung“ soll die Bundeswehr von aktuell rund 180.000 SoldatInnen auf knapp 200.000 bis 2025 anwachsen, das dürfte aber „nur“ ausreichen, um der NATO den bis zu diesem Zeitpunkt zugesagten voll ausgestatteten („kaltstartfähigen“) Divisionsgroßverband (~15-20.000 SoldatInnen) dauerhaft zur Verfügung stellen zu können.

Vor der Rekrutierungsoffensive

Völlig unklar ist, woher das Personal für den deutschen Anteil an der drastisch ausgebauten NRF kommen wird. Erste Details zum möglichen deutschen NRF-Anteil lieferte Spiegel Online: „Die Bundeswehr werde sich mit einer mechanisierten Division mit zwei Kampftruppenbrigaden an der neuen Struktur beteiligen. Hinzu kommen 65 Kampfjets und Transportflieger, 20 Kriegsschiffe und auch Einheiten der Spezialeinheit »Kommando Spezialkräfte« (KSK). […] Die neue Struktur solle bis 2024 stehen. Bei der Bundeswehr bereitet sich bereits die 1. Panzerdivision für die Nato-Verpflichtungen vor.“

Ob das allerdings alles sein wird, darf bezweifelt werden, schließlich stellt die Bundeswehr nach Eigenangaben mit aktuell bereits 13.700 SoldatInnen rund ein Drittel der derzeitigen NATO Response Force. Nun lässt sich dieser Anteil nicht eins zu eins auf eine dann sechsstellige NRF übertragen, da der deutsche Anteil nicht immer so hoch wie derzeit ist. Wie hoch er tatsächlich sein wird, steht aktuell noch in den Sternen, legt man aber zum Beispiel den NATO-Finanzierungsschlüssel an, so beläuft sich der deutsche Anteil dort auf 16,34 Prozent, was umgerechnet in NRF-SoldatInnen rund 50.000 bedeuten und deutlich über den von Spiegel Onlineberichteten ersten Zusagen liegen würde. 

Jedenfalls sieht die „Mittelfristige Personalplanung“ derzeit vor, die Bundeswehr von aktuell rund 180.000 SoldatInnen auf knapp 200.000 bis 2025 zu vergrößern, das dürfte aber „nur“ ausreichen, um der NATO einen bisher bereits zugesagten voll ausgestatteten („kaltstartfähigen“) Divisionsgroßverband (~15-20.000 SoldatInnen) zur Verfügung stellen zu können.

Auf 2024 vorgezogene und mutmaßlich auch noch einmal höher liegende deutsche Beiträge dürften die Bundeswehr vor mindestens zwei Probleme stellen: Einmal hat die Truppe schon derzeit ihre Liebe Müh und Not, an genug RekrutInnen zu gelangen, um ihre Zahl konstant zu halten. Es ist völlig unklar, wie sie den geplanten Aufwuchs um 20.000 SoldatInnen oder sogar noch einmal deutlich mehr bewerkstelligen will. Eine massive Rekrutierungskampagne ist deshalb praktisch vorprogrammiert, ob diese aber „Erfolg“ haben wird, ist durchaus fraglich. So wurde unlängst über sinkende BewerberInnenzahlen seit Beginn des Ukraine-Krieges ebenso berichtet wie auch darüber, dass sich seither die Zahl derjenigen, die aus der Bundeswehr ausscheiden würden, gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt habe.

Fass ohne Boden

Die zweite Frage, vor der (nicht nur) die Bundeswehr absehbar stehen dürfte wird sein, woher das Material und besonders das Geld für die zusätzlichen Truppen kommen soll. Schon jetzt wird in der militärnahen Presse gewarnt, das Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Mrd. Euro mit dem in den nächsten fünf Jahren Ausgaben von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreicht werden, würde hier nicht ausreichen:

„Schon die bis jetzt vom Baltikum bis Ungarn aufgestellten Battlegroups brachten die NATO-Partner mit Ausnahme der USA an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Schwere Waffensysteme, Munition und gut trainierte Gefechtsverbände größerer Dimension sind nicht nur in der Bundeswehr Mangelware. Neben einem Gipfelbeschluss wird es viel Geld und dauerhaften politischen Willen benötigen, den Worten des strategischen Konzepts die Hardware folgen zu lassen.“ (Die Welt, 28.6.2022)

Auch diesem Problem widmete sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seiner gestrigen Pressekonferenz, der zunächst die drastischen Ausgabenerhöhungen der letzten Jahre lobte. Und tatsächlich veröffentlichte die NATO ebenfalls gestern neue Zahlen, denen zufolge die Militärhaushalte der Mitgliedsländer von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1190 Mrd. Dollar (2022) gestiegen sind. Laut Stoltenberg würden inzwischen neun Nato-Mitgliedstaaten zwei oder mehr Prozent in ihr Militär investieren, 19 weitere hätten angekündigt, diesen Wert bis 2024 erreichen zu wollen. Doch auch das scheint nicht mehr genug: Obwohl Militär und Rüstungsindustrie vor nicht allzu langer Zeit nicht nur hierzulande von Ausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP nur hätten träumen können, gab Stoltenberg nun die neue Devise aus, diese zwei Prozent seien nunmehr nur noch „ein Boden, keine Decke“.

Hierbei handelt es sich um eine leicht aktualisierte und erweiterte Fassung eines Artikels, der zuerst am 28. Juni bei Telepolis erschien.