IMI-Standpunkt 2022/015 - in: Telepolis, 26.3.2022

Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU

Der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Prozess hin zu einer Militärunion. Aber was bedeutet das konkret? Eine Analyse

von: Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. März 2022

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Die EU-Staats- und Regierungschefs haben ein neues Grundlagendokument verabschiedet – den sogenannten Strategischen Kompass.

Er soll die Richtung für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik der nächsten fünf bis zehn Jahre vorgeben, indem auf Basis einer erstmals vorgenommenen gemeinsamen Bedrohungsanalyse gleich ein ganzes Bündel an Maßnahmen zum Ausbau der militärischen und rüstungsindustriellen Fähigkeiten der Union präsentiert werden.

Die Verhandlungen zum Strategischen Kompass sind zwar älter als der Krieg in der Ukraine, doch der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Prozess hin zu einer Militärunion. Denn sowohl die Bedenken in den EU-Mitgliedstaaten als auch die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegen Militarisierungstendenzen und eine schlagkräftige Militärunion EU können in dieser Verunsicherung schnell beiseite gewischt werden.

Bei diesem Kompass geht es darum, wie EU-„Interessen“ strategisch autonom in der Außenpolitik konkret umgesetzt werden können. Bereits in der Global Strategy 2016 wurde festgehalten, dass die EU in der Lage sein muss, wichtige Handelsrouten und Seewege im eigenen Interesse zu sichern – zur Not auch militärisch.

Nach der Ankündigung, dass Großbritannien aus der EU austritt, wurde mit Pesco (Permanent Structured Cooperation), – dem Herzstück für die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik – eine entscheidende Weiche gestellt.

Damit wurden in dieser Legislaturperiode militärische Instrumente wie der Verteidigungsfonds – ein Fonds zur Entwicklung und Erschaffung neuer großer Rüstungsprojekte, die sogenannte Friedensfazilität –, ein Schattenhaushalt des EU-Rates, der die Lieferung tödlicher Waffen an Freunde und Partner ermöglicht –, oder die Military Mobility zur schnellen Verlegung von Truppen verankert.

Der Strategische Kompass bettet die Zielsetzung, die bereits geschaffenen Instrumente und weiterhin noch „benötigte“ militärische Kapazitäten in eine Gesamtstrategie für die EU ein. Das zugrunde liegende Bekenntnis ist dabei deutlich: Die EU ist gut gerüstet und eine eigenständige Macht in einer Zeit der großen Rivalität unter den Weltmächten.

Der Kompass will einen „Quantensprung“ in der Militarisierung der Europäischen Union einleiten, damit sie buchstäblich für die immer härter werdenden Großmachtkonflikte „besser“ gerüstet ist. Gleichzeitig fallen darin wichtig Aspekte wie Abrüstung, Rüstungskontrolle und Diplomatie nahezu völlig unter den Tisch.

Nicht nur Wirtschaftsmacht, sondern auch Militärmacht

Die Arbeiten am Strategischen Kompass wurden unter der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 begonnen und nun unter französischem Vorsitz zu Ende gebracht. Am Anfang stand, wie zuvor erwähnt, eine Bedrohungsanalyse, die allerdings so geheim gehalten wurde, dass sie nicht einmal von Abgeordneten im Europaparlament oder in der Geheimschutzstelle des Bundestages eingesehenen werden konnte.

Dennoch ist davon auszugehen, dass diese Bedrohungsanalyse, die künftig alle drei Jahre aktualisiert werden soll, in das erste Kapitel des Kompasses („Die Welt, in der wir leben“) einfloss.

Die EU sehe sich „vielfältigen Bedrohungen“ ausgesetzt, die von „Terrorismus, gewaltbereitem Extremismus und organisierter Kriminalität bis hin zu hybriden Konflikten, Waffenproliferation und irregulärer Migration“ reichen würden. Diese Gefährdungen würden „die Sicherheit der EU an unseren südlichen und östlichen Grenzen und darüber hinaus“ betreffen – also nahezu überall.

Genauso vage und schwammig geht es weiter, wenn es heißt, die „jüngsten geopolitischen Veränderungen“ würden es erfordern, dass die EU „dringend mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“ müsse, und zwar sowohl „in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus“ und das auch „nach Möglichkeit mit Partnern und notfalls allein.“

Dennoch lässt sich deutlich ein dominierendes Thema ausmachen, nämlich das, was die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits 2019 als die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ bezeichnete, in der Deutschland und die EU „nicht neutral“ bleiben könnten, schließlich seien sie „Teil dieses Konkurrenzkampfs“.

Schon im allerersten Entwurf vom 9. November 2021 war gegenüber dem letzten zentralen Planungsdokument, der EU-Globalstrategie aus dem Jahr 2016, eine deutliche Akzentverschiebung vorgenommen worden, indem der Konkurrenz unter den Großmächten ein deutlich größerer und bedrohlicherer Stellenwert eingeräumt und festgehalten wurde, dass die EU für ihre Wirtschaft wichtige Handelsrouten und Seewege, nach Lage auch militärisch verteidigen können muss.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde der Kompass außerplanmäßig ein weiteres Mal überarbeitet und ein eigenes Unterkapitel „Die Rückkehr der Machtpolitik in einer umstrittenen multipolaren Welt“ eingefügt. Darin werden vor allem gegenüber Russland noch einmal schärfere Töne angeschlagen und das „aggressive und revisionistische Handeln“ Moskaus als „ernste und unmittelbare Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung und die Sicherheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger“ eingestuft.

Diese Sätze sind der Nährboden, um ausreichend Handlungsdruck aufzubauen, der sich dann in den folgenden Passagen in Formulierungen niederschlägt wie: „Unsere Sicherheit steht auf dem Spiel“, die EU müsse ihre „Anstrengungen zur Umsetzung unseres integrierten Ansatzes für Sicherheitsfragen, Konflikte und Krisen verdoppeln“ und „aufgrund der neuen strategischen Landschaft mit deutlich verstärkter Dringlichkeit und Entschlossenheit handeln“.

Während allerdings die im ersten Kapitel präsentierte Bedrohungsanalyse nach dem russischen Angriff auf die Ukraine recht gründlich überarbeitet wurde, gilt dies nicht für die in den späteren Kapiteln enthaltenen Handlungsempfehlungen.

An sich ist dies aber auch nicht weiter verwunderlich, denn das übergeordnete Ziel, die Europäische Union unter dem Stichwort einer „Strategischen Autonomie“ als eigenständigen militärischen Machtfaktor in Stellung bringen zu wollen, bestand ja auch schon lange bevor sich Moskau zu diesem fatalen Schritt entschlossen hatte.

Eingreiftruppe ohne Konsens

Auf der Grundlage der Bedrohungsanalyse werden im Strategischen Kompass im Anschluss rund 60 Vorschläge unterbreitet, die größtenteils mit konkreten Zeitplänen in den vier unterschiedlichen Bereichen („Handeln“, „Sichern“ „Investieren“, „Mit Partnern zusammenarbeiten“) versehen wurden.

Am meisten Aufmerksamkeit erhielt dabei der von Anfang an enthaltene Plan, eine 5.000 Soldat:innen umfassende Schnelle Eingreiftruppe aufzubauen. Damit soll bereits in diesem Jahr begonnen werden, bis 2025 soll sie voll einsatzfähig sein. Als Einsatzfelder sind nicht nur „Rettungs- und Evakuierungseinsätze“, sondern auch die „Anfangsphase von Stabilisierungseinsätzen“, also Kriegseinsätze in einem „nicht bedrohungsfreien Umfeld“ vorgesehen.

Gleichzeitig sollen die Entscheidungsmechanismen überarbeitet werden, um so das bislang gültige Konsensprinzip bei Beschlüssen zum Beginn von Militäreinsätzen in wesentlichen Teilen auszuhebeln. Gelingen soll das durch eine Kombination aus der Bildung von Ad-hoc-Koalitionen (Artikel 44 EUV), die als Kleingruppen im Namen der EU-Militäreinsätze durchführen sollen, und mit der Einführung von „konstruktiven Enthaltungen“ (Artikel 31 EUV).

Bei derlei Enthaltungen kommt ein Beschluss nur dann nicht zustande, sollten ihm mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, nicht zustimmen – das bislang gültige Konsensprinzip wäre damit in einem wesentlichen Punkt faktisch ausgehebelt und der Einfluss insbesondere von Deutschland und Frankreich würde noch einmal erheblich steigen.

Ob dies tatsächlich gelingen wird, ist noch offen, gerade für kleine und mittelgroße Mitgliedsstaaten ist das Konsensprinzip ein wesentliches Mittel, um überhaupt einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der EU zu haben. Angekündigt wurde jedenfalls, bis 2023 über die praktischen Modalitäten zu entscheiden.

Außerdem sieht der Kompass in diesem Zusammenhang vor, ebenfalls bis 2025 die Kapazitäten der „Militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit“ so zu erweitern, dass es als EU-Hauptquartier Einsätze im Umfang von bis zu 5.000 Soldat:innen leiten kann.

Auch die Finanzierungsanteile von Militäreinsätzen aus dem EU-Haushalt sollen erhöht werden. Die Botschaft ist eindeutig: Die EU will künftig „einfacher“ und „besser“ Krieg führen können, und zwar bis an die Zähne bewaffnet.

Rüstungsmaßnahmen

Neben Kapitel 1 („Handeln“) finden sich vor allem im Kapazitäten-Kapitel (Kapitel 4, „Investieren“) die konkretesten und auch problematischsten Vorschläge. Dort werden generell größere Investitionen in den militärischen Bereich sowie höhere Verteidigungsausgaben angekündigt: Bereits bis Mitte 2022 sollen „Ziele für höhere und verbesserte Verteidigungsausgaben“ festgelegt werden. Bis 2023 will die EU den „Planzielprozess überarbeiten“, der militärische Zielvorgaben an Soldat:innen und militärischem Gerät formuliert.

Grundsätzlich soll die Anbahnung länderübergreifender europäischer Rüstungsprojekte noch stärker gefördert werden, unter anderem durch stärkere Anreizsysteme im EU-Verteidigungsfonds. In diesem Zusammenhang wird die Kommission auch beauftragt, bis 2023 einen Vorschlag auszuarbeiten, „der eine Mehrwertsteuerbefreiung ermöglichen würde, um die gemeinsame Beschaffung von und das gemeinsame Eigentum an Verteidigungsfähigkeiten, die gemeinschaftlich innerhalb der EU entwickelt werden, zu fördern“.

Auf dieser Grundlage wird gefordert, eine ganze Reihe äußerst kostspieliger EU-Großprojekte in den Bereichen Land, Luft, Marine, Cyber und Weltraum aufzulegen. Bereits beginnend mit diesem Jahr soll es außerdem künftig „jährliche Tagungen der Verteidigungsministerinnen und -minister zu EU-Verteidigungsinitiativen zur Fähigkeitenentwicklung“ geben, um dem Thema stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Vertane Chance

Während sich in Sachen Truppengenerierung und Kapazitätsausbau einiges tut, geht es in den beiden Kapitel „Sichern“ und „Partner“ deutlich ruhiger zu. Generell fällt auf, dass einem zentralen Thema wie der „Förderung von Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle“ in dem über vierzigseitigen Dokument nicht einmal eine halbe Seite als Unterabschnitt im „Sichern“-Kapitel des Kompasses gewidmet wurde.

Bei den „Partnern“ wird zwar auf die Vereinten Nationen und die OSZE verwiesen, im Gegensatz zu den anderen Teilen gibt es hier aber nur wenige und sehr vage formulierte Handlungsankündigungen.

Einzig was die Bedeutung der Nato und die Intensivierung der Nato-EU-Zusammenarbeit anbelangt, wird es wieder etwas konkreter. Diese Passagen wurden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ebenfalls noch einmal etwas aufgewertet, ohne jedoch den Anspruch fallen zu lassen, als eigenständiger militärischer Akteur in das Ringen der Großmächte nicht nur wirtschaftlich, sondern bei Bedarf auch militärisch noch intensiver als bislang einzutreten.

Der Kompass hätte ein Anfang sein können, um ernsthaft an einer europäischen Friedensordnung zu arbeiten. Stattdessen ist er ein bloßes Arbeitsprogramm zur Aufrüstung der Union geworden. Dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in der EU und dem Frieden wird so nicht gedient – im Gegenteil.

Krieg und militärische Gefechte als Normalität

Der Krieg in der Ukraine, der strategische Kompass, die massiven Aufrüstungswellen in allen europäischen Staaten und allen voran in Deutschland verdeutlichen die Zäsur, in der wir uns befinden.

Deutschland will zukünftig weltweit den drittgrößten Militäretat haben und die Wirtschaftsmacht EU, die bisher erklärte, eine Diplomatie-Macht zu sein, wird weiterentwickelt zu einer Militärunion – wohlgemerkt mit einer besonderen Rolle von Deutschland und Frankreich darin.

Doch hinter allen vergangenen oder noch kommenden Kriegen steht das Ziel der ökonomischen und politischen Macht. Nun beobachten wir, wie die rivalisierenden Mächte der wirtschaftlich entwickeltesten und politisch mächtigsten kapitalistischen Staaten, um die Aufteilung der Welt untereinander streiten – ökonomisch und politisch und zu Not auch militärisch.

Dabei ist das Hauptkonfliktpotenzial um die entscheidenden Märkte der Zukunft in Asien, zwischen den zwei ökonomisch größten Weltmächten – der aktuellen Nummer eins USA und der ökonomisch immer weiter aufstrebende Weltmacht China, noch gar nicht in dem vollen Bewusstsein vieler.

Auch die Militärmacht Russland kündigte mit dem Beginn des Angriffskrieges an, sich in Zukunft wirtschaftlich und industriell weiterentwickeln zu wollen. Spiegelverkehrt macht es auch Deutschland.

Die in der EU ökonomisch stärkste Macht Deutschland will mit Frankreich zusammen auch die EU zu einer schlagkräftigen Militärunion ausbauen. Das große Kriegspotenzial, das hinter all den Ankündigungen steht und der bereits direkt begonnene Wirtschaftskrieg, sollte uns Warnsignal genug sein.

Denn die Kriege und dieser Machtkampf wird in allen Staaten auf dem Rücken der breiten Bevölkerung und der Arbeiter:innen ausgetragen. Damit sie nicht dafür mit Leib und Leben oder Hab und Gut bezahlen müssen, braucht es eine starke Friedensbewegung.