IMI-Standpunkt 2020/064 -in: AUSDRUCK (Dezember 2020)
Eine Hand wäscht die andere?
Der strategische Einsatz von Reservist_innen in der Wirtschaft
von: Emma Fahr | Veröffentlicht am: 9. Dezember 2020
Jedes Jahr verlassen tausende Soldat_innen die Bundeswehr. Die meisten von ihnen konnten dort studieren oder eine Ausbildung machen – im Gegenzug für einige Jahre Dienst auf Zeit.[1] Überspitzt könnte man von einer konstanten Wissensabwanderung sprechen.
Diese Zeitsoldat_innen sind nach Dienstzeitende in vielen Wirtschaftsbranchen beliebt – aufgrund ihrer „Disziplin und […] Belastungsfähigkeit“, aber vor allem wegen des „Fachwissen[s]“, dass sie während ihrer Dienstzeit erworben haben.[2] Wenngleich auch immer wieder der „weisungsorientierte Führungsstil“ beklagt wird,[3] suchen Konzerne wie Amazon sogar explizit nach sogenannten „Amazon-Warriors“ für Führungspositionen.[4]
Aus dieser Not des permanenten Personalstroms in die Wirtschaft möchte die Bundeswehr eine Tugend machen und „in die Spitzengruppe der attraktivsten Arbeitgeber vorstoßen“.[5] So sieht es die „Agenda Attraktivität“ (2014) vor.[6]Doch die Probleme mit der gesellschaftlichen Akzeptanz und damit auch der Rekrutierung sind so alt wie die Bundeswehr selbst. Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 kommt der Nachwuchs nicht mehr von allein. Gleichzeitig steigt aber der Bedarf an qualifiziertem Personal in einer „Bundeswehr im Einsatz“[7] – ein Dilemma.
Reservist_innen: die Lösung?
Die Lösung sollen nun die rund 900.000 Reservist_innen sein, von denen etwa 29.000 zurzeit eine feste Verwendung haben.[8] Sie sollen als werbeträchtige „Botschafter_innen“ in der Gesellschaft fungieren, denn der allgemeine Zugriff auf diese Ex-Soldat_innen ging der Bundeswehr 2011 verloren.[9] Im Gegensatz zu Einsatzkräften des THW beispielsweise, die bis heute laut Gesetz für ihr Engagement freigestellt werden müssen,[10]ist die Bundeswehr auf die Bereitschaft der Reserve und die Kooperation der zivilen Arbeitgeber_innen angewiesen. Für letztere ist es aber nicht immer attraktiv, insbesondere in kleineren oder hoch spezialisierten Teams, wenn sie Mitarbeitende für Wehrübungen freistellen – selbst wenn die Bundeswehr Gehaltszahlungen und Sozialabgaben für die Einsatzdauer übernimmt.
Wie Bundeswehr und Reservistenverband klagen, hänge die Freistellung von Reservist_innen daher häufig davon ab, ob die Vorgesetzten selbst „gedient haben“.[11] Daher sei „eine enge Kooperation […] entscheidend“.[12] Hier schließt sich das Konzept der „Agenda Attraktivität“, welche die betrieblichen Bedürfnisse der Armee mit der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz verbinden soll.
Die Praxis: Triple-Win?
Ein Beispiel, wie diese „enge Kooperation“ aussehen kann, ist ein Pilotprojekt des Hessischen Landeskommandos, in welchem das sogenannte Lebensarbeitszeitmodell entwickelt wurde. Es ist der Versuch, den beruflichen Werdegang einer Person durch „abgestimmte Rekrutierungs-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen“ fließend zwischen ziviler und militärischer Verwendung zu gestalten.[13] So sollen diejenigen Soldat_innen mit geringer schulischer Bildung wie auch spezialisierte Fachkräfte in der zivilen Wirtschaft untergebracht werden.[14] Die Unternehmen profitieren beispielsweise dadurch, dass sie Reservist_innen in konjunkturschwachen Phasen an die Bundeswehr abtreten können.[15] Die Soldat_innen haben eine sichere Jobaussicht und die Bundeswehr weiterhin dringend benötigtes Personal: in der Theorie eine „Triple Win Situation“.[16] Die Gesellschaft, deren Zuspruch und Unterstützung eigentlich generiert werden sollte (Agenda), bleibt dabei außen vor.
Mittlerweile gibt es dennoch mehrere solcher Pilotprojekte und rund 5000 Kooperationen mit Unternehmen.[17] Darunter befinden sich auch personelle Big Player wie die DB, WISAG, DHLund REWE.[18] Mit Amazon steht die Bundeswehr aktuell in Verhandlung.[19] Polemisch überspitzt, bildet die Bundeswehr mit Steuergeldern und Kameralächeln Führungskräfte für Konzerne aus.
„Partner der Reserve“: eine Anekdote über Eigenlob
Seit 2016 verleihen das BMVg und der Reservistenverband gemeinsam die Auszeichnung „Partner der Reserve“. Dieser undotierte Preis wird jährlich an Unternehmen und öffentliche Träger vergeben, die „die Reserve in ihrem Engagement für die Bundeswehr vorbildlich unterstützen“.[20]
Die bisher 16 ausgezeichneten Unternehmen verbinden zweierlei Merkmale. Zum einen ist die Öffentlichkeitsarbeit sehr bescheiden, obwohl das Ziel ist, sich öffentlichkeitswirksam um das „[Verhältnis] zwischen Bundeswehr und Gesellschaft verdient [zu] machen“.[21]Nicht einmal die Unternehmen aus der Rüstungsbranche machen jedoch ihre Auszeichnung im Internet kenntlich. Zum zweiten sticht ins Auge, dass entweder die „Geschäftsführer […] selbst bisweilen Uniform [tragen]“[22]oder die Firmen in der Wehr- und Sicherheitstechnik beheimatet sind.[23] Einige der Preisträger_innen unterhielten außerdem bereits vor der Auszeichnung Verträge mit der Armee – wie bspw. MarServices (Luftwaffe) oder die WISAG (Personalvermittlung).[24] Die Öffentlichkeitswirksamkeit beschränkt sich also auf eine Echokammer. Umso absurder scheint, dass es seit 2019 zusätzlich den „Förderer der Reserve“ gibt – für alle, die es nicht zum „Partner“ geschafft haben.
Resümee
Die Bundeswehr entlässt jedes Jahr tausende junger Menschen auf jenen Arbeitsmarkt, auf welchem sie dann erbittert mit der Wirtschaft um eben jenes Personal konkurriert, das sie selbst und mit staatlichen Mitteln ausgebildet hat. Kooperationsmodelle und eine „Attraktivitätsoffensive“ scheinen da auf der Hand zu liegen. Schaut man sich jedoch an, welche Unternehmen besonders engagiert sind, scheint weniger eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz geschaffen worden zu sein, als dass in einer Blase um verzweifelt benötigtes Personal geschachert wird.
Grundlegend steht doch in Frage, ob die temporäre Weiternutzung von ehemaligem Personal eine nachhaltige Strategie ist, um die Kapazitätsprobleme zu lösen, zu denen u.a. die Neuausrichtung der Bundeswehr selbst geführt hat. Stattdessen wäre wohl Ursachenforschung vonnöten, warum sich so wenige Menschen beim Militär verpflichten wollen. Die Soziologin Leonhard, selbst bei Bundeswehrinstitutionen beschäftigt, schreibt: „Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr“.[25] Wer sich diese Erkenntnis zu Nutzen macht, um junge Menschen zu locken und an sich zu binden, ist nicht in der „Spitzengruppe […] der Arbeitgeber“,sondern der Rattenfänger von Hameln.
Anmerkungen
[1] Vgl. Statista (2020): Anzahl der Soldaten und Soldatinnen bei der Bundeswehr im Jahr 2020 nach Art des Dienstes, de.statista.com.
[2] Fuest, Benedikt (2019): Bundeswehr-Soldaten auf dem Arbeitsmarkt so gefragt wie nie, welt.de.
[3] Ebd.
[4] BusinessInsider (2018): Darum suchen Amazon und Aldi jetzt gezielt bei der Bundeswehr nach Führungskräften, businessinsider.de.
[5] Ebd.
[6] Die Agenda nennt sich offiziell „Bundeswehr in Führung – Aktiv. Attraktiv. Anders.“ In: Bundeswehr (2014), bmvg.de.
[7] Vgl. Deutscher Bundestag (2020): Drucksache 19/17686, S. 7, bundestag.de.
[8] Behördenspiegel (2020): Wieviel Reservisten hat die Bundeswehr?, behoerden-spiegel.de.
[9] Reservistenverband (2016): Reserve und Wirtschaft: Ein kompliziertes Verhältnis, reservistenverband.de.
[10] Vgl. §3 Abs. 1 THWG.
[11] Vgl. Reservistenverband (2016).
[12] Oberstleutnant Holger Eberhardt. In: IHK (2017), ihk-nuernberg.de.
[13] Logistikkommando der Bundeswehr (2020): Das Logistikkommando der Bundeswehr „Zukunftsorientierung Kooperationen in der Logistik“, S. 4, bundeswehr.de.
[14] BMVg (2017): Bundeswehr kooperiert mit WISAG-Unternehmensgruppe, bmvg.de.
[15] Bundeswehr (2019): Reserve: Kooperation zwischen Bundeswehr und Wirtschaft, bundeswehr.de.
[16] Logistikkommando der Bundeswehr (2020).
[17] Fuest, Benedikt (2019).
[18] BMVg (2017).
[19] Fuest, Benedikt (2019).
[20] Bundeswehr (2020): Partner der Reserve 2020, bundeswehr.de.
[21] BMVg (2018): Gute Partnerschaft: Ministerin verleiht Preis „Partner der Reserve“, bmvg.de.
[22] BMVg (2019): Partner der Reserve: Die Bundeswehr unterstützen? Ehrensache!, bmvg.de.
[23] Marservices (2020): Fachberatung, marservices.de.
[24] BMVg (2016): Presseterminhinweis, marservices.de.
[25] Leonhard, Nina (2005): Soldat: Beruf oder Berufung?. In: Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline (Hrsg.): Militärsoziologie – Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 26.