IMI-Standpunkt 2020/026

Frankreich: Realismus als Erfolgsrezept?

von: Sven Wachowiak | Veröffentlicht am: 16. Juni 2020

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Dieser Beitrag über Rekrutierung in Frankreich erschien in der Juni-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.

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Kurz vor der Jahrtausendwende vollzog auch Frankreich den endgültigen „Abschied von Großpapas Armee“ (Chirac) zugunsten einer flexibel einsetzbaren, professionellen Freiwilligenarmee. Nachdem die Wehrpflicht 1997 ausgesetzt wurde, verflüchtigte sich auch schnell das hehre Bild von der Armee als „republikanischem Schmelztiegel“. Eine interne Erhebung von 2010 stellte etwa fest, dass 39% der Soldat*innen des französischen Heeres dem Arbeitermilieu (welches in der französischen Sozialstatistik nur 20% der Gesamtbevölkerung ausmacht) und 23% der unteren bis mittleren Ebene der Dienstklasse entstammen (ebenfalls 20% im Landesschnitt).[1]

Unter Hollande verkehrte sich der aus den 1990er Jahren stammende Trend zur Verschlankung der Armeen wieder ins Gegenteil. Nach den Terroranschlägen im November 2015 wurde massiv aufgestockt, um den gigantischen personellen Anforderungen des inländischen Schutz- und Überwachungseinsatzes („Opération Sentinelle“) Genüge zu tun. Anheuern können Kandidat*innen in einem der landesweit 104 Informations- und Rekrutierungszentren der Streitkräfte (Centres d’information et de recrutement des forces armées, CIRFA). Die größeren CIRFAs richten sich nach einer Benchmark von 300 bis 350 Rekrutierungen pro Jahr. Jeder der acht bis zehn Anwerber muss also, wenn er seine Zielvorgabe erreichen will, durchschnittlich im Monat drei bis vier Kandidaten*innen erfolgreich anwerben. Bevor 350 Rekrut*innen in trockenen Tüchern sind, müssen allerdings erst 1500 bis 2000 Kandidat*innen vorstellig werden.[2] Am Ende bleiben pro Posten im Schnitt lediglich 1,7 geeignete Kandidat*innen übrig.[3]

Obwohl die Arbeitslosenquote der unter 25-jährigen mit 19% deutlich über dem EU-Schnitt liegt, reißt sich die französische Jugend nicht darum, zum Militär zu gehen. In einem patriotischen Elan, der das Land nach den Terroranschlägen von Januar und November 2015 ergriff, schnellte die Bewerberzahl kurzzeitig nach oben, flachte aber bald wieder ab. Aufgrund der hohen Fluktuation (pro Jahr stehen 15.000 Einstellungen 12.000 Abgängen gegenüber) ist das Militär gezwungen, „proaktiv“ vorzugehen.

Im öffentlichen Raum sind die Werbekampagnen der französischen Armee allgegenwärtig. Neben den traditionellen Plakatoffensiven an Bus-, Bahn- und Metrostationen finden diese zeitgemäß via Social Media statt, teils unter Einbeziehung von Youtube-Influencern.

Großes Medienecho fand die aktuelle Kampagne SENGAGER.FR. Diese gibt sich eher authentisch, ja nachdenklich, und setzt sich damit bewusst von der plumpen Bauernfängerei ab, die parallel immer mal wieder auf den offiziellen Social Media-Accounts der Armee beobachtet werden kann (wo man teilweise versucht, die Jugendlichen mit James Bond, Fast & Furious und dem Dschungelcamp zu ködern). Ein Verantwortlicher der PR-Firma berichtet stolz: „Die Kampagne wurde […] in einer ganzen Reihe von Filmen und Serien (insbesondere für Teenager) aufgegriffen, so erst kürzlich in der Netflix-Serie „Mortel“. Außerdem dient sie in den Neuauflagen verschiedener Schulgeschichtsbücher zur Illustration des Themas der französischen Landesverteidigung.“[4]

Die beste Antwort auf die subtile Heuchelei gab die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, welche als Reaktion auf den tödlichen Helikopterabsturz in Mali die Original-Slogans der Kampagne („Ich beschütze mein Land und bringe mein Leben voran“ usw.) wirksam mit Zeichnungen von uniformierten Totenskeletten, Särgen und Kränzen kontrastierte.

Anmerkungen


[1] Carine Lepage, Jérôme Bensoussan: Les militaires et leur famille, Direction des ressources humaines du ministère de la Défense, 2010, S. 116.

[2] Leïla Minano, Justine Brabant: Mauvaise Troupe, Les Arènes, 2019.

[3] Bénédicte Chéron: Le soldat méconnu: Les Français et leurs armées: état des lieux, Arman Colin, 2018.

[4] Damien Schoennahl: Communication de recrutement de l’armée de Terre. Pourquoi une telle „cristallisation“?, linkedin.com, 18.12.2019