IMI-Standpunkt 2019/037

Militärbischof für Aufrüstung und Wehrpflicht

von: Peter Bürger | Veröffentlicht am: 21. August 2019

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Dr. Sigurd Rink übt als erster evangelischer Militärbischof der Bundesrepublik Deutschland sein Amt hauptamtlich aus. Er hat in diesem Jahr ein Buch „Können Kriege gerecht sein?“ vorgelegt. Der Titel setzt ein Fragezeichen hinter den neuen Friedensdiskurs der Ökumene. So hat etwa der Papst im Buchgespräch mit Dominique Wolton bekräftigt: „Kein Krieg ist gerecht. Die einzig gerechte Sache ist der Frieden.“ Diese Feststellung wird hierzulande auch von mehreren evangelischen Landeskirchen sowie in bedeutsamen Entschlüssen der Ökumene auf weltkirchlicher Ebene getroffen.

Transparent ist die Tatsache einer Mitwirkung des Bundesministeriums für das Militärressort bei der Publikation des Militärbischofs. Sigurd Rink schreibt: „Ich danke der Presseabteilung des Verteidigungsministeriums für die sehr genaue Durchsicht des Manuskripts, einen Faktencheck gleichsam. Das heißt nicht, dass wir in allem einer Meinung wären. Das wäre auch seltsam. Aber gewonnen hat das Buch durch die Zusammenarbeit, und Fehler, die sich dennoch eingeschlichen haben, nehme ich getrost auf mich.“ (S. 13)

Zweifel und Leerstellen

Es sei nachdrücklich vermerkt: Militärbischof Sigurd Rink übt sich – fernab von etwaigen Unfehlbarkeitsansprüchen – in größter Demut: „Das Thema [Krieg und Militär] ist kompliziert und brisant. Meine Gedanken mögen manchem falsch und naiv erscheinen.“ (S. 11) „Ich kann und will in diesem Buch keine Antworten geben“ (S. 28). „Politik ist ein schwieriges, hoch komplexes Unterfangen. Sie ist immer Interessenspolitik, und einen Kräfteausgleich herzustellen ist eine Sisyphusarbeit.“ (S. 123) „Manchmal frage ich mich, wenn ich mich mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr beschäftige […], ob ich nicht schon abgestumpft bin, den Krieg als Realität akzeptiert habe“ (S. 209). „Afghanistan macht mich ratlos, ich muss es gestehen. Die Wirklichkeit ist immer zu komplex, als dass es ein eindeutiges Richtig oder Falsch gäbe, aber in Afghanistan ist die Lage besonders vielschichtig und verworren.“ (S. 211)

Alles ist fürchterlich komplex und unübersichtlich. Doch wir werden sehen: Das Militärwesen hat aus Sicht des Militärbischofs trotz alledem unsere tatkräftige Solidarität verdient! Ausführlich erörtert wird im Buch (S. 140-164, 170) z.B. die Beteiligung des deutschen Militärs mit über tausend Soldaten an MINUSMA in Mali, das ist die „zurzeit gefährlichste Mission der Vereinten Nationen und der zweitgrößte Einsatz der Bundeswehr“ (S. 159). Indirekt erschließt sich, dass die Gewalt­eskalation in Mali ab Anfang 2012 auch den Folgen der NATO-Bombardierung Libyens 2011 zuzurechnen ist. Das in den Lineal-Grenzen Afrikas eingebrannte Kolonialregime der Europäer ist mitnichten Vergangenheit. Namentlich Frankreich verfolgt in Mali ganz eigennützig gravierende Rohstoffinteressen (S. 149); auch die europäischen „Migrationspartnerschaften“ mit afrikanischen Schwerpunktstaaten sind keine Werke der selbstlosen Nächstenliebe. Der Militärbischof kommentiert die NATO-Devise „Werte und Interessen“ wie ein Realpolitiker: „Mag es auch den moralischen Wert einer Handlung schmälern, wenn mit dieser ebenso eigene Interessen verbunden sind, so kann eine solche Handlung dennoch legitim und sogar geboten sein.“ (S. 150) Zwei besondere Schwachstellen des Buches kommen im Mali-Kapitel zum Tragen: S. Rink sieht zwar das Ungleichgewicht der internationalen Organisation zugunsten der reichen Industrienationen (S. 150-151) und destabilisierende „Globalisierungseffekte“ (S. 166), doch es kommt ihm nicht der Gedanke, der grassierende Staatenzerfall („failed states“) könne überhaupt systemisch zusammenhängen mit einer Wirtschaftsweise, die den ganzen Globus knebelt und nach Wahrnehmung des Papstes über Leichen geht. Zum anderen staunt man, dass im Kontext der Sahelzone nicht nachdrücklich die infolge der Klimakatastrophe prognostizierte Explosion von Massenelend zur Sprache kommt. Die Unterbelichtung der ökologischen Frage im Buch ist überhaupt frappierend (Klimaflucht, Krieg um Wasser, militärische Umweltzerstörung …). Insgesamt beleuchtet Rink den Mali-Einsatz kritisch. Die (u.a. im Sinne Frankreichs gestützte) Regierung taugt offenbar nicht viel. Keiner kann sagen, ob die militärischen Ausbildungsmaßnahmen und die – den Waffenschmuggel anheizenden – Rüstungslieferungen für Mali bald nicht doch wieder den Islamisten zugutekommen. Droht am Ende gar eine „Afghanistanisierung“ (S. 159), also ein Militäreinsatz ohne Ende und Ausstiegsmöglichkeit? Das Schlussfazit des Militärbischofs fällt erstaunlich und mutig aus: Der „Sinn von MINUSMA“ steht für mich „nicht infrage“ (S. 164).

Aus dem Drama der Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 schließt der Verfasser, „dass Atomwaffen als ultimatives Abschreckungsmittel noch immer nicht ausgedient haben, doch technologisch sind sie kaum mehr zeitgemäß“ (S. 276). Diese lapidare Abhandlung des Themas kommt einer Befürwortung oder zumindest weiteren Duldung der atomaren Bewaffnung gleich. Dem Militärbischof dürfte aber kaum verborgen sein, dass derzeit an „zeitgemäßen“ – und insbesondere auch leichter einsetzbaren – Nuklearwaffen gearbeitet wird und hierbei im Rahmen eines neu aufgelegten atomaren Wettrüstens Kosten in astronomischer Höhe anstehen. Rein gar nichts wird im Buch ausgeführt zur neuen Qualität der Ächtung schon der Infrastruktur atomarer Massenvernichtung auf Ebene der UNO und im weltkirchlichen Diskurs, zum skandalösen Agieren der deutschen Bundesregierung im Sinne der Atombombenbesitzer (und der eigenen völkerrechtswidrigen „Teilhabe“ an der Bombe), zur zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Atomindustrie (Gronau), zum Fortdauern der NATO-Erstschlagoption, zur Nuclear Posture Review (USA 2018) und zu den in Deutschland stationierten Atomwaffen, für die Deutschland neue Flugzeuge beschaffen will und die im Ernstfall von Soldaten bedient werden, für deren Seelenheil der Militärbischof Verantwortung trägt. Sollten die Kirchen hierzulande – eingedenk der lästerlichen Bomben-Apologien von deutschen Staatskatholiken und Staatsprotestanten im 20. Jahrhundert – jetzt nicht endlich eintreten in jenen Kreis der Ökumene, der dem Atomgott widersagt?

Deutsche Rolle – Fehlanzeige!

Ganz ausgespart ist im Buch der rüstungsindustrielle Komplex Deutschlands, der im Weltvergleich einen Spitzenplatz einnimmt, seit Jahrzehnten Kriegsgüter exportiert, die dem Unfrieden in aller Welt dienen, und nicht zuletzt Voraussetzung dafür ist, durch Waffenlieferungen (anstelle von Soldatenentsendungen) deutschen Einfluss in fernen Ländern zu sichern. Der u.a. von den USA unterstützte Krieg einer von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz im Jemen hat eine der größten „humanitären Katastrophen“ der Gegenwart herbeigeführt. (Im Buch von Sigurd Rink werden dem Schauplatz Jemen auf S. 119 fünf Wörter gewidmet.) Erst aufgrund eines Beschlusses des italienischen Parlaments kann eine Tochter des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, dessen Kriegsprofite stetig steigen, seit Sommer 2019 keine Mordbomben mehr für den Einsatz im Jemen liefern.

Inzwischen gehört es gleichsam zur Staatsräson, dass die eigene Militärdoktrin mit der Sicherung geostrategischer und geo-ökonomischer Machtinteressen, mit Rohstoffsicherung, mit freien Märkten, Meeren und Handelswegen sowie mit der Abwehr (!) von Flüchtlingen aus Elendsregionen zu tun hat. Spätestens ab 2006 haben tausende Christinnen und Christen von unten die großen Kirchen in einer Ökumenischen Erklärung aufgerufen, eine solche Militarisierung der deutschen Politik öffentlich anzuklagen. In ihrem Schreiben vom 1. September 2015 fordern die evangelischen und katholischen Friedensorganisationen gemeinsam alle Kirchenleitungen im Lande zu einer öffentlichen Klarstellung darüber auf, dass Zielvorgaben zur geostrategischen und ökonomischen Interessenssicherung in Militärplanungen schon mit dem Minimalkonsens der ökumenischen Friedensethik unvereinbar sind. Der Komplex der Militärdoktrin ist zentral für die von Sigurd Rink bearbeitete Frage „Können Kriege gerecht sein?“, doch er schweigt sich in seinem Buch hartnäckig über dieses Thema aus.

Namhafte Stimmen auch aus dem bürgerlichen Spektrum warnen in diesem Jahr verstärkt vor einer Aufrüstungsspirale sondergleichen, die freilich schon längst entfesselt ist. Militärbischof Sigurd Rink beschreitet den gegenteiligen Weg, indem er für eine Erhöhung der deutschen Militärausgaben plädiert. Er bezieht sich hierbei auf die interessegeleiteten Klagen des profilierten Transatlantik-Brückenbauers und Zeit-Herausgebers Josef Joffe über „gravierende Ausstattungsmängel der Bundeswehr als Gefährdung der weltpolitischen Rolle unseres Landes“ (S. 278) und nimmt selbst so Stellung: „Um gleichwertiges Mitglied multilateraler Bündnisse zu sein, das den Erfordernissen der gegenwärtigen Welt gerecht wird, fehlt es der Bundeswehr erheblich an Personal und Ausstattung.“ Dies sei einer „gewollten jahrelangen Schrumpfung der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges“ geschuldet, und „in der stiefmütterlichen Behandlung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ sei ein „Verdrängungswunsch am Werk“ (S. 260). Dies ist nahezu der Originalton der Aufrüstungspropheten. Sigurd Rink wünscht für die europäischen Länder, „dass die USA an ihrer Seite bleiben“: Dafür „müssen sie ihren Beitrag zum Verteidigungsetat der NATO stabilisieren … Das ist ohnehin längst überfällig, um den USA Bündnispartner auf Augenhöhe zu sein – und erst recht nötig […], sollten die NATO-Länder gezwungen sein, ohne die USA ein europäisches Verteidigungsbündnis zu stärken.“ (S. 259) Dass in diesem Kontext via Nebensatz auch Investitionen „in Krisenprävention und Wiederaufbau“ gefordert werden, überzeugt nicht. Denn Sigurd Rink klärt seine Leserschaft nicht über die real existierenden Weltverhältnisse auf: Die globalen Budgets für humanitäre und friedensfördernde Aufgaben ohne Militäreinbindung verhalten sich zum „Weltrüstungshaushalt“ lediglich wie eine kleine Portokasse.

„Mehr Personal“ für die Bundeswehr lautet die Forderung, aber die willigen Bewerber bleiben aus. Eine allgemeine Wehrpflicht würde besser zu einem von Luther abgeleiteten Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“ passen als – vorzugsweise aus dem Kreis der Benachteiligten rekrutierte – Berufssoldaten oder Söldner aus jenem ökonomisierten (privatisierten!) Kriegskomplex, dessen Anwachsen Sigurd Rink durchaus mit Sorge betrachtet (S. 98-102, 261-263). Das Plädoyer des Militärbischofs für eine Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht kann keinem Leser des Buches verborgen bleiben; die Chancen für eine Verwirklichung dieses Ansinnens schätzt der Verfasser allerdings selbst denkbar gering ein.

Militärseelsorge ist in den Augen von Sigurd Rink heute kein Instrument mehr zur Bändigung ungehorsamer Soldaten, sondern: eine „Zwillingsschwester der Inneren Führung“ (sic!), gleichwohl ein staatsunabhängiges „Fenster zur Zivilgesellschaft“; einzige Sachwalterin des Beichtgeheimnisses; nicht dafür zuständig, „die Soldaten von der Sinnhaftigkeit ihrer Einsätze zu überzeugen“; raumgebend für Zweifel und „für das Nachdenken über das Nichtwissbare und Unberechenbare“; Hüterin von „Ressourcen christlich-religiöser Tradition“ und sogar „so etwas wie ein ‚Zukunftslabor der Kirche‘“ (S. 102-107, 136-137, 269-274). Verständlich ist das Bemühen, die Arbeit der Militärseelsorge gegenüber dem Bundesministerium, dem das Militärbischofsamt zugeordnet ist, und gegenüber der z.T. kritischen Kirchenöffentlichkeit in ein freundliches Licht zu stellen. Kritische Forschungen zur wirklichen „Reichweite“ der Seelsorge des Militärkirchenwesens bleiben unberücksichtigt.

Krieg; In wessen Namen?

Das Buch endet mit einem militärbischöflichen Predigtappell, welcher die Leser einem imaginären „Wir“ einfügt: „Deutschland ist weltweit an militärischen Einsätzen beteiligt […]. Das militärische Engagement der Bundeswehr geschieht in unser aller Namen, in der Verantwortung der deutschen Gesellschaft. Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen.“ (S. 279) Das sogenannte deutsche Militär-„Engagement“ (samt Entsendung von Soldaten, Aufrüstung, Rekrutierungspropaganda etc.) erfolgt aber keineswegs im Namen der friedenskirchlich ausgerichteten Christ*innen. Diese halten den Militärapparat für ein esoterisches Gefüge, dessen Heilsversprechen einer rationalen – wissenschaftlichen – Überprüfung nicht standhalten und weltbrandgefährlich sind.

 Eine Langfassung dieser Rezension ist beim Ökumenisches Institut für Friedenstheologie erschienen und kann hier eingesehen werden.