IMI-Standpunkt 2018/028 - in: AUSDRUCK (Oktober 2018)

Rezension: „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“

von: Mirko Petersen | Veröffentlicht am: 10. September 2018

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Jörg Kronauer, Soziologe und freier Journalist, hat mit seinem Buch „Meinst du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg“ mit Sicherheit kein vollkommen neues Thema erschlossen.[1] Doch angesichts der Entwicklungen in den russisch-westlichen Beziehungen bleibt der Umgang Deutschlands und der USA mit Moskau weiterhin ein aktuelles Thema, zu dem immer noch nicht alles gesagt und geschrieben ist. Neue Vorkommnisse sorgen zudem fortlaufend für Gesprächsbedarf: Der vermeintliche Eingriff Russlands in den Präsidentschaftswahlkampf von 2016 beschäftigt die US-amerikanische Öffentlichkeit bis heute und der sogenannte Fall Skripal erregt die Gemüter in London und anderen europäischen Hauptstädten seit März dieses Jahres.[2]

Es sind jedoch weniger diese aktuellen Ereignisse, sondern vielmehr die historisch gewachsenen Strukturen in den deutsch-russischen und US-amerikanisch-russischen Beziehungen, die in Kronauers Buch im Mittelpunkt stehen. Die geschichtliche Entwicklung dieser Beziehungen wird in den ersten beiden Kapiteln behandelt. Im dritten Kapitel geht es um die russische „Westpolitik“ und im vierten und letzten Kapitel liegt das Augenmerk dann auf dem sog. Neuen Kalten Krieg.[3] Der Autor möchte, wie der Titel des Buches andeutet, herausarbeiten, welche Motive sich hinter der aktuellen russischen Außenpolitik verbergen. Er argumentiert schlüssig, dass hierzu jedoch ebenfalls eine Analyse der deutschen und US-amerikanischen Politik gegenüber Moskau nötig ist, da das Handeln des Kremls häufig eine Reaktion auf ebendiese darstellt.

USA und Deutschland: Unterschiedliche Ansätze

Besonders die Darstellung der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen ist sehr interessant, da sie viele wenig bekannte Fakten enthält. Die historische Beschreibung bildet ein Jahrhundert wechselhafter Verbindungen ab. Sie beginnt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und endet mit dem Krieg in der Ukraine. Speziell Kronauers Analyse der Ambivalenz in den Haltungen der verschiedenen deutschen Staaten (bzw. ihrer Regierungen) gegenüber Russland ist besonders treffend. Anders als andere Bücher zu diesem Thema[4] fokussiert sich Kronauer nicht auf die reine Feindbildkonstruktion, sondern hebt auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit hervor: „Erbitterte innere Auseinandersetzungen prägen die deutsche Politik gegenüber Russland nicht erst seit kurzem. Bereits der deutsche Umgang mit der Sowjetunion, ja sogar mit dem Zarenreich ist stets von widersprüchlichen Polen geprägt worden. Einerseits gab es ein Interesse an Kooperation, vor allem in der Wirtschaft, die Zugang zu Russlands Absatzmarkt und zu den Rohstoffen suchte. Eine gewisse Zusammenarbeit strebten immer wieder auch führende Politiker an, denen es – meist in Phasen eigener Schwäche – um einen Verbündeten in Auseinandersetzungen mit Staaten im Westen ging. Zuweilen suchten selbst Militärs den Schulterschluss mit Moskau. Umgekehrt hat es stets auch eine Politik scharfer Konfrontation gegeben – vor allem dann, wenn das deutsche Establishment sich mächtig genug fühlte, seine Interessen im Osten auch gegen Russland bzw. die Sowjetunion durchzusetzen (S.9-10).“ Zweifelsohne überwiegen seit Jahren die konfrontativen Aspekte in der deutschen Politik gegenüber Russland, dennoch existiert weiterhin eine Vielzahl an Stimmen in den deutschen Debatten, die (aus wirtschaftlichen und politischen Motiven) vor einem kompletten Bruch mit Moskau warnen.

Im darauffolgenden Kapitel behandelt Kronauer die US-amerikanisch-russischen Beziehungen. Auch bei diesem Kapitel handelt es sich um eine Darstellung der historischen Entwicklungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Krieg in der Ukraine. In Bezug auf das Handeln Washingtons gegenüber Moskau hebt der Autor die Unterschiede im Vergleich zur deutschen Herangehensweise hervor: „Die US-Politik gegenüber Moskau folgt gänzlich anderen Prämissen als die deutsche. Seit die Vereinigten Staaten zur weltweit operierenden Macht aufstiegen, ist das ferne Russland stets vor allem eines gewesen: ein potentieller Rivale. Selbstverständlich haben auch US-Unternehmen immer wieder die Chance gesucht, einträgliche Geschäfte mit Russland zu machen. Diese haben jedoch nie die herausragende Bedeutung erlangt, die sie für deutsche Firmen besaßen. Dafür hat Washington sich stets bemüht, den Einfluss des russischen bzw. sowjetischen Rivalen zu bekämpfen und Moskau selbst zu schwächen (S.81-82).“ Unter Berufung auf den Politologen und Gründer des Think Tanks „Stratfor“, George Friedman, ergänzt Kronauer, dass ein zentrales Bestreben der US-Politik stets das Verhindern eines deutsch-russischen Bündnisses sein werde. Ein solches Bündnis hätte erhebliche Auswirkungen auf die dominante Rolle der USA im globalen geopolitischen Staatengefüge.

Russland: Von Kooperation zu Konfrontation

Im dritten Kapitel des Buches steht anschließend die russische Außenpolitik im Mittelpunkt. Der Autor schildert die Entwicklung des russisch-westlichen Verhältnisses nach dem Ende des Kalten Krieges, wobei dieser Abschnitt weniger innovative Analysen bereithält als die vorherigen Teile des Buches. Kronauer hebt hervor, dass Moskau lange versuchte, durch wirtschaftliche und politische Kooperationen ein gewinnbringendes Verhältnis zum Westen aufzubauen, sich aber gezwungen sah, diese Linie aufzugeben. Die Strategie, speziell durch enge deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen die außenpolitische Konstellation zu verbessern, scheiterte: „Die ‚Strategische Partnerschaft‘, die Berlin im Jahr 2000 ausgerufen hatte, stand diesbezüglich nur auf dem Papier. Und all die papierenen Bekenntnisse konnten die Bundesrepublik nicht davon abhalten, in Osteuropa ihre Hände immer stärker nach dem unmittelbarsten russischen Interessengebiet auszustrecken: Ab Mitte der 2000er Jahre wurde in Berlin und Brüssel eine engere EU-Anbindung der Ukraine, Belarus´, Moldawiens und der drei Staaten des Südkaukasus auf die Tagesordnung gesetzt. Dass die Östliche Partnerschaft, wie man das Vorhaben ab 2009 offiziell nannte, nicht nur den deutschen Einfluss stärken, sondern auch die Bindung der genannten Länder an Russland schwächen und damit klar zu Lasten Moskaus gehen würde, das war klar (S.133).“ Infolge des Scheiterns des kooperativen Ansatzes ging Moskau anschließend zu einer aggressiveren Außenpolitik über, die den NATO-Staaten klar die Grenzen aufzeigen sollte. Speziell seit dem Georgien-Krieg 2008 verschlechterten sich die russisch-westlichen Beziehungen immer weiter. Diese Entwicklung fand im ukrainischen Krieg 2014 ihren vorläufigen Höhepunkt.

Den Begriff des Neuen Kalten Krieges (oder auch „zweiter Kalter Krieg“, wie im Titel des Buches) verwendet Kronauer für die Zeit seit dem Umsturz in der Ukraine, die er im vierten Kapitel betrachtet. Während die US-Politik gegenüber Russland nun ausschließlich konfrontativen Charakter besitzt, ist nach dem Ende der größten Auseinandersetzungen in der Ukraine laut Kronauer auf deutscher Seite nun wieder, wie schon häufiger in der Geschichte, eine Mischung aus kooperativen und konfrontativen Politikelementen („Congagement“) zu beobachten – „kooperativ, wo ökonomische Interessen bedient werden wollen, konfrontativ, wo es um die Machtfrage geht“ (S.166). Neben Teilen der SPD kann besonders der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, als einer der zentralen Befürworter dieser Art von Politik angesehen werden.

Schlussplädoyer

Aufschlussreich ist, wie der Autor die russische Politik der letzten Jahre beschreibt. Anders als häufig behauptet sei die häufig dem Kreml zugeschriebene hybride Kriegsführung – speziell der Einsatz von medialen Desinformationskampagnen und die Zusammenarbeit mit (teilweise rechtsradikalen) oppositionellen Bewegungen in anderen Ländern – keineswegs eine russische Erfindung. Vielmehr handle es sich um eine Spiegelung westlicher Methoden im postsowjetischen Raum. Einen Ausweg aus der Eskalationsspirale „böte wohl einzig und alleine eine gemeinsame Abrüstung, und zwar nicht nur auf militärischer, sondern auch auf politischer Ebene“ (S. 201), so das Schlussplädoyer des Buches.

Insgesamt ist es Jörg Kronauer gelungen, ein gut lesbares Buch zu verfassen, das neue wichtige Aspekte zu einem bereits viel behandelten Thema hinzufügt. Speziell in Bezug auf die deutsch-russischen Beziehungen legt er viele wertvolle, weniger bekannte Fakten dar. Die Analyse der russischen Außenpolitik ist weniger innovativ, gibt jedoch einen guten Überblick über die Ereignisse seit dem Ende des Kalten Krieges. In einigen wenigen Abschnitten fehlt es an einem kritischeren Blick auf die russische Politik, z.B. in Bezug auf Moskaus Anti-Terror-Krieg oder auch den Militäreinsatz in Syrien. Trotzdem ist die Dekonstruktion der westlichen Kritik an Russland, wie sie der Autor vornimmt, in jeglicher Hinsicht berechtigt. Die Lektüre des Buches ist empfehlenswert.

 

Kurzinformationen zum Buch:

Autor: Jörg Kronauer
Titel: „Meinst du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg“
Seitenzahl: 207
Verlag: PapyRossa
Erscheinungsjahr: 2018
Preis: 14,90 Euro

 

Anmerkungen

[1] Der Titel des Buches leitet sich aus einem Gedicht des sowjetischen Autors Jewgeni Jewtuschenko aus dem Jahr 1961 ab. Jewtuschenko verwies auf die großen Verluste der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und zweifelte an, dass die UdSSR in der Systemkonfrontation der damaligen Zeit einen weiteren Krieg riskieren würde. Der Autor war laut Jörg Kronauer um „mentale Abrüstung“ (S.7) bemüht.

[2] Der Journalist Brendan O’Neill kommentierte die Reaktionen auf den Giftanschlag auf den ehemaligen russischen nachrichtendienstlichen Mitarbeiter Sergej Skripal und seine Tochter in der englischen Stadt Salisbury folgendermaßen: „Die chauvinistische Russlandangst ist außer Kontrolle“ (vgl.: O’Neill, Brendan: The Jingoistic Fear of Russia is out of control, spiked.com, 13.03.2018). Einige bis heute wenig beachtete Aspekte zum Fall Skripal sind in diesem Artikel zu finden: Murray, Craig: Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 63, Nr.4, 2018, S. 53-57.

[3] Für kritische Anmerkungen zur Verwendung dieses Begriffes, vgl.: Westad, Odd Arne: Has a New Cold War Really Begun? Why the Term Shouldn’t Apply to Today’s Great-Power Tensions, foreignaffairs.com, 27.03.2018.

[4] Vgl. u.a.: Hofbauer, Hannes: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Wien: Promedia Verlag, 2016.