IMI-Analyse 2015/033
Der Kampf gegen die Remilitarisierung der BRD
1955 – Jahr der Entscheidungen
von: Arno Neuber | Veröffentlicht am: 9. November 2015
Am 6. Juni 1955 wurde das “Amt Blank” in “Bundesministerium für Verteidigung” umbenannt und Theodor Blank als erster Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland vereidigt.
Eine erste Etappe der Remilitarisierung Westdeutschlands, die unmittelbar nach der totalen Niederlage der Wehrmacht und des Nazi-Faschismus begann, fand damit ihren Abschluss.
Nie wieder
”Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen”, hatte Franz Josef Strauß nach 1945 getönt.
Und der SPD-Politiker Carlo Schmid erklärte 1946: ”Wir wollen unsere Söhne niemals mehr in die Kasernen schicken, und wenn noch einmal irgendwo der Wahnsinn des Krieges ausbrechen sollte, dann wollen wir eher untergehen und dabei das Bewusstsein haben, dass nicht wir Verbrechen begangen und gefördert haben. In einem wollen wir kategorisch sein: Wir wollen in Deutschland keinen Krieg mehr führen, und wir wollen darum auch keine Vorbereitungen treffen, die das Kriegführen ermöglichen können, weder im politischen noch im wirtschaftlichen Sinne.“ [1]
Auch Konrad Adenauer gab sich pazifistisch:
”Wir sind einverstanden, dass wir völlig abgerüstet werden, dass unsere reine Kriegsindustrie zerstört wird (…) Ja, ich will noch weitergehen, ich glaube, dass die Mehrheit des deutschen Volkes einverstanden wäre, wenn wir wie die Schweiz völkerrechtlich neutralisiert würden.”[2]
Diese Äußerungen führender Politiker der westlichen Besatzungszonenstanden standen in Einklang mit der Stimmung und Überzeugung der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Aber sie dienten lediglich dem Zweck zu verbergen, was hinter den Kulissen geschah. Schon bald nach dem 8. Mai 1945 machten sich westdeutsche Politiker, ehemalige Wehrmachtsgeneräle und US-amerikanische Militärs daran, Deutschland erneut aufzurüsten und – wie es damals noch entwaffnend offen hieß – so schnell wie möglich eine neue deutsche Wehrmacht aufzubauen.
Bekannt wurde eine Besprechung amerikanischer Politiker, Militärs und Wirtschaftsführer am 15. April 1945 im US-Außenministerium, bei der verabredet wurde, „Deutschland wieder aufzubauen und dann zu remilitarisieren. Deutschland sollte zu einem Bollwerk gegen Russland gemacht werden.“[3]
Konrad Adenauer pflegte schon früh beste Kontakte zu führenden Wehrmachtsgenerälen. „Es gab ein beachtliches militärisches Netzwerk“, das für den späteren Kanzler beratend tätig war. Bereits im November 1945 soll eine erste Denkschrift von General Speidel an Adenauer gegangen sein.[4]
„Seit 1947 hatten sich unter größter Diskretion private Gesprächsrunden politischer und militärischer Fachleute organisiert. Unter wohlwollender Duldung der amerikanischen und britischen militärischen Geheimdienste wurden die Treffen sogar institutionalisiert.“[5]
Im Dezember 1948 beauftragte Adenauer den General mit der Ausarbeitung eines geheimen Memorandums über „1. die augenblickliche Unvermeidlichkeit einer Wiederaufrüstung und 2. ihren ungefähren Umfang und Charakter“.[6]
Auch der Parteivorstand der SPD diskutierte Ende 1948 Militärfragen und sprach sich für die Einbeziehung Westdeutschlands in ein Militärbündnis nach Art des Brüsseler Paktes aus.
Die erste Wehrdebatte
War dies den Menschen in Westdeutschland weitgehend unbekannt, so konnte man in britischen und US-amerikanischen Zeitungen bereits recht offene Aussagen lesen.
Am 21. März 1949, kurz vor Unterzeichnung des Nordatlantik-Paktes, erläuterte Adenauer einem Korrespondenten der Presseagentur UP, es sei „eine der ersten Aufgaben einer westdeutschen Regierung“, den Beitritt Westdeutschlands zur NATO zu vollziehen.[7]
Am 3. Dezember 1949 gab Adenauer im Kanzleramt dem Korrespondenten einer Zeitung aus Cleveland, Ohio („Cleveland Plain Dealer“) ein Interview, in dem er die „Schaffung einer europäischen Armee, der auch deutsche Soldaten angehören sollten“[8] vorschlug.
Das Interview löste eine heftige Diskussion aus. Die Stuttgarter Zeitung kommentierte den Vorgang am 6.12.1949 unter der Überschrift „Landsknechte gesucht“ und schrieb. „Die Entwicklung hat jetzt einen Punkt erreicht, an dem die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr schweigend zusehen kann.“
Die KPD-Fraktion im Bundestag verlangte, dass der Kanzler dem Parlament Rede und Antwort steht. Nachdem Adenauer noch am 6. Dezember sich öffentlich als Gegner der Wiederaufrüstung bezeichnet und der Bundestagspräsident den KPD-Antrag zunächst für nicht zulässig erklärt hatte, befasste sich am 16. Dezember 1949 zum ersten Mal der Bundestag mit der Remilitarisierung.
Der Bonner Journalist und Publizist Norbert Tönnies bezeichnet es in seiner Chronik der Remilitarisierung aus dem Jahre 1957 als einen „Treppenwitz der deutschen Nachkriegsentwicklung (…) dass die erste Bundestagsdebatte über die Frage eines deutschen Verteidigungsbeitrages auf einen Antrag der damaligen kommunistischen Bundestagsfraktion zurückging.“[9]
Natürlich war es alles andere als das. Es war vielmehr bezeichnend für das Demokratieverständnis des Bundeskanzlers, dass er in ausländischen Medien die Wiederbewaffnung erörterte und heimlich Vorkehrungen traf, das Parlament aber nicht informierte.
In der Bundestagssitzung vom 16. Dezember 1949 antwortete Adenauer auf fünf konkrete schriftliche Fragen der KPD-Abgeordneten mit nichts anderem als den fünf Worten: Nein, Nein, Nein, Nein, Nein. Fünf offensichtliche Lügen.
Eine offene Debatte wollten offensichtlich auch die bürgerlichen Fraktionen im Bundestag nicht. „In einer interfraktionellen Vereinbarung waren alle Parteien des Bundestages rechts der KPD darin übereingekommen, keine offene Wehrdebatte durchzuführen, sondern in individuellen Fraktionsstellungnahmen zu sagen, was man glaubte sagen zu müssen“[10], notiert Tönnies.
Es bleibt festzuhalten, dass sich in der Politik der Remilitarisierung verschiedene Interessenstränge zusammenfanden. Dazu gehört „das Interesse der politischen Kreise um Konrad Adenauer an einer starken Armee, möglichst mit Atomwaffen, auf die sie ihre Politik stützen und die Wiedereinverleibung der ‚Sowjetzone‘ erreichen konnten.
Zweitens das Interesse der alten Wehrmachtsführung an ihrer Rehabilitierung und der Wiederbelebung der militaristischen deutschen Traditionen.
Zum Dritten – und ohne das ging es nicht – das Interesse des US-Imperialismus an deutschen Hilfskräften im Kampf gegen die Sowjetunion und die Zurückdrängung des Sozialismus.
Sowohl die Adenauer-Regierung als auch die US-Führung waren auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges aus. Adenauers erstes außenpolitisches Ziel war die Wiedereinverleibung der ‚Sowjetzone‘ und die US-Politik betrieb unter den Schlagworten ‚containment‘ und ‚roll back‘ den globalen Kampf gegen den Sozialismus.“[11]
Es macht sich daher zu leicht, wer wie der Marburger Wissenschaftler Wilfried von Bredow, in seinem Lehrbuch zu „Militär und Demokratie in Deutschland“ meint, es brauche“nicht betont zu werden, dass es in erster Linie die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten waren, die ihren ’neuen‘ Verbündeten das Tempo“[12] der Remilitarisierung vorgaben. Im Staatsverständnis der westdeutschen Eliten war eine starke Armee die notwendige Voraussetzung für einen souveränen Staat und sie war es umso mehr, als Adenauer und die ihn stützenden Kräfte im Militär die einzige Option auf den Anschluss ‚der Zone‘ sahen.
Ohne uns
In einem Memorandum vom August 1950 hatte Kanzler Adenauer ohne Rücksprache mit der Bundesregierung und ohne Information und Beteiligung des Parlamentes dem US-Hochkommissar McCloy deutsche Truppen im Rahmen „einer internationalen westeuropäischen Armee“ angeboten.
Außerdem verlangte er „die Verstärkung der Besatzungstruppen“ und die Genehmigung zum Aufbau einer Polizeitruppe gegen „offene oder getarnte Aktionen“, für die laut Adenauer „eine kommunistische fünfte Kolonne“ seit September 1949 in den Westzonen bereit stünde.[13]
Aus Protest dagegen trat der damalige Innenminister Gustav Heinemann am 31.08.1950 zurück. In einer Denkschrift vom 13. Oktober 1950 fasste Heinemann seine Beweggründe zusammen:
„Die Aufstellung deutscher Truppen bedeutet eine schwere Belastung unserer sozialen Gestaltungsmöglichkeiten (…) Besonders bedeutungsvoll ist die Frage, ob eine westdeutsche Beteiligung auf Russland provozierend wirken würde. Wenn das Wiedererstehen des deutschen Soldaten in Frankreich ein tiefes Missbehagen auslöst, was wird es in Russland auslösen, das den furor teutonicus in besonderem Maße erlebt und ebenfalls nicht vergessen hat? (…) Ein europäischer Krieg unter unserer Beteiligung wird für uns nicht nur ein nationaler Krieg sein wie für die anderen betroffenen Völker, sondern obendrein ein Krieg von Deutschen gegen Deutsche. Er wird sich, so wie die Dinge liegen, auf deutschem Boden abspielen (…) Aber wir legitimieren unser Deutschland selbst als Schlachtfeld, wenn wir uns in die Aufrüstung einbeziehen.“[14]
Am 26. Oktober 1950 richtete Adenauer eine Dienststelle für Fragen der Remilitarisierung ein, die ihm direkt unterstellt war. Ihr Name war eine typisch Adenauersche Verschleierung: „Bevollmächtigter des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“. Leiter wurde der CDU-Abgeordnete Theodor Blank.
Während im Verborgenen weiter die Remilitarisierung vorbereitet wurde, entwickelte sich der Widerstand.
Zunächst spontan entstand Ende 1950 die „Ohne uns Bewegung“. Waren es anfangs vor allem Kriegswitwen, -waisen und -invaliden, die Protestbriefe schrieben und Versammlungen veranstalteten, nahmen die Aktionen bald organisiertere Formen an und wuchsen im Laufe der Jahre 1951/52 in eine breite Bewegung für eine Volksbefragung zur Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages hinüber.[15]
Meinungsumfragen aus dem Jahr 1950 belegen die breite Ablehnung der Wideraufrüstung in der westdeutschen Bevölkerung. Im Januar 1950 fragte das Emnid-Institut „Würden Sie es für richtig halten, wieder Soldat zu werden, oder dass Ihr Sohn oder Ihr Mann wieder Soldat werden würde?“ 74,5 Prozent der Befragten antworteten mit Nein.[16]
Bereits am 5. Mai 1949 hatte sich das Vorbereitungskomitee der Friedensbewegung in Westdeutschland konstituiert, die koordinierende Führungsgruppe nannte sich später „Friedenskomitee der BRD“. Der Antikriegstag, der in den Jahren 1947-49 vor allem von Arbeiterjugend-Organisationen am 1. September mit Veranstaltungen und Kundgebungen begangen wurde, erreichte 1950 einen ersten Höhepunkt in der Beteiligung. Aus dieser Zeit stammt das Zitat von Carlo Schmid, Mitglied des Parteivorstandes der SPD: „Der Antimilitarismus ist die eigentliche Weltanschauung der deutschen Jugend nach dem Krieg geworden.“[17]
Pazifistische und christliche Gruppen wie die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG), die Internationale der Kriegsdienstgegner (IDK), der Internationale Versöhnungsbund und der Friedensbund Deutscher Katholiken gründeten am 23. Oktober 1949 die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände (ADF).[18]
Anfang April 1950 konstituierte sich der Demokratische Frauenbund Deutschland (DFD). Als Hauptaufgabe des Verbandes wurde beschlossen, dafür zu wirken, „dass der Frieden erhalten bleibt und jede Vorbereitung eines neuen Krieges verhindert wird, dass die Einheit unseres Vaterlandes wiederhergestellt wird und ein Friedensvertrag für Deutschland abgeschlossen wird.“[19]
Der zweite evangelische Kirchentag im August 1950 in Essen positionierte sich eindeutig gegen die Remilitarisierung. Der bürgerliche „Nauheimer Kreis“ trat für eine international garantierte Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands mit Friedensvertrag ein. So unterschiedlich die Gruppen waren, sie unterstützten alle, mit Ausnahme der SPD-Führung, eine koordinierte Zusammenarbeit aller Aufrüstungsgegner, unabhängig von ideologischer Ausrichtung und Organisation.
Die KPD legte am 16. März 1950 dem Bundestag einen Gesetzentwurf vor, der die Herstellung und Einführung von Waffen untersagte, ebenso den Handel mit jeglicher Art von Kriegsmaterial und die Beteiligung an ausländischen Rüstungsunternehmen.
Im Frühsommer 1950 wurden für einen Appell des Weltfriedensrates zur Ächtung von Atomwaffen in kurzer Zeit zwei Millionen Unterschriften gesammelt. Zur gleichen Zeit gab es in der BRD rund 600 örtliche und regionale Friedensinitiativen.
Im Juni 1950 wurde öffentlich bekannt, dass die US-amerikanische Besatzungsmacht am Loreley-felsen Sprenglöcher, Sprengschächte und -tunnels anlegen ließ. Es wurden Vorbereitungen getroffen, um im Kriegsfall „mit der Sprengung des mächtigen Felsens den Rhein an seiner engsten Stelle zuzuschütten und so das gante Rheintal zu überfluten. Westdeutschland sollte für den Gegner – gemeint war die Sowjetunion – unpassierbar gemacht werden.“[20] Auch die Rheinuferstraßen und sämtliche Brücken wurden für Sprengungen vorbereitet.
In den Betrieben gärte es. Ende 1950 nutzten die westdeutschen Zechenbesitzer den erhöhten Kohlebedarf der US-amerikanischen Schwer- und Rüstungsindustrie, der durch den Koreakrieg ausgelöst wurde, um verstärkt Sonderschichten für die Bergleute anzuordnen. Die Sonderschichten wurden von den Kumpels „Panzerschichten“ genannt. Die KPD gab die Losung heraus: „Auf Panzerschichten folgen Panzerschlachten“. Aus spontanen Aktionen entwickelte sich eine politische Streikbewegung gegen den Rüstungskurs. Und die Aktionseinheit der Bergleute hatte Erfolg, trotz Polizeieinsätzen und Verhaftungen. Ende Januar 1951 mussten die Sonderschichten abgesetzt werden.[21]
Hatten 1950 rund 80.000 Arbeiter an Streiks teilgenommen, waren es im Folgejahr doppelt so viele. „Die Streiks erfassten insgesamt 1.878 Betriebe. Die Arbeitsniederlegungen trugen einen ausgeprägt politischen Charakter. Wirtschaftliche und sozialpolitische Forderungen waren häufig mit dem Verlangen nach Verzicht auf die Wiederaufrüstung gekoppelt.“[22]
Einen wichtigen Impuls für die Friedensbewegung gab Martin Niemöller, der Adenauer aufgefordert hatte, eine Volksbefragung über die Wiederaufrüstung durchzuführen. Auf einem breit getragenen Friedens-Kongress am 20. Januar 1951 in Essen wurde ein „Manifest gegen die Remilitarisierung Deutschlands“ beschlossen und ein Ausschuss zur Vorbereitung einer Volksbefragung gewählt.
Die Frage, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wurde, lautete: „Sind Sie gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland im Jahre 1951?“
Die Stimmung in der Bevölkerung war eindeutig im Sinne eines Ja zu dieser Frage.
Die KPD orientierte daher im Kampf gegen die Remilitarisierung auf „die Erweiterung der Friedensbewegung in Westdeutschland. In diesen Kampf sind alle Massenorganisationen in Stadt und Land sowie auch die nicht organisierten Massen einzubeziehen.“[23]
Die Bundesregierung versuchte mit einem Verbot der Volksbefragung am 24.04.1951 zu verhindern, dass diese Stimmung zu einer politischen Manifestation gegen ihre Politik wird. Innenminister Lehr begründete das Verbot damit, dass die Volksbefragung auf einen „Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung des Bundesgebietes“ abziele.[24]
Auch die SPD-Führung unterstützte das Verbot mit der formaljuristischen Argumentation, im Grundgesetz sei keine Volksbefragung vorgesehen.
Einen Eindruck von der Hetze gegen die Volksbefragung verschafft ein Blick in das Protokoll der Bundestagssitzung vom 26. April 1951.[25] Als erster sprach der CDU-Angeordnete Brookmann.
„Im Zuge des von den Sowjets inszenierten kalten Krieges (Abg. Renner: Kalter Kaffee!) und nachdem die Grotewohl-Briefaktion und der sogenannte Appell der Volkskammer kein Echo in Westdeutschland gefunden haben, (Abg. Renner: Bei euch nicht! — Zurufe von der KPD: Das ist doch ein Witz! —Das glauben Sie selber nicht!) hat man von sowjetzonaler Seite eine neue Aktion
gestartet und in Essen kürzlich einen Hauptausschuss für die Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrags im Jahre 1951 gegründet (…).
Meine Damen und Herren, der Zweck der Interpellation ist, von der Regierung einmal zu erfahren, was sie gegen diese Aktion zu unternehmen gedenkt. Ich darf zunächst einmal mit einer gewissen Befriedigung feststellen, dass das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen sofort nach der Errichtung dieses Zentralausschusses insoweit reagiert hat, als es der Presse ein Kommuniqué übergab und darin die deutsche Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe und über die eigentlichen Regisseure dieses Unternehmens aufklärte. (Zuruf des Abg. Renner.)
Ich bin der Meinung, dass das nicht genügt. Politische Erklärungen oder Demonstrationen oder auch Manifestationen (Abg. Rische: Polizei wollen Sie!) können heute nicht mehr genügen. (Abg. Rische: Zuchthäuser wollen Sie!) Wir wollen von der Regierung wissen, welche Maßnahmen sie zu ergreifen beabsichtigt, um diese verfassungswidrige Aktion zu unterbinden. (Abg. Renner: Ja, ja, kann ich Ihnen nachfühlen! — Weitere Zurufe von der KPD.)
Meine Damen und Herren, worauf spekuliert man seitens der sowjetzonalen Machthaber und seitens der Herren Renner und Genossen in Westdeutschland? (Lachen bei der KPD.) Letztlich doch nur auf die politische Naivität breiter Volkskreise. Man spekuliert sogar auf das natürliche und gesunde Empfinden des deutschen Volkes für den Gedanken des Friedens. Man spekuliert auf die Unwissenheit über die wahren Hintergründe dieses ganzen teuflischen Unternehmens.“
Innenminister Lehr griff die vorbereitete Provokation dankbar auf.
„Die SED-Politiker der Sowjetzone führen zur Zeit den bisher massivsten Angriff gegen die Bundesregierung. Alle Kräfte der politischen Organisationen des Kommunismus sind für die sogenannte Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und den Abschluss eines Friedensvertrages 1951 planmäßig eingesetzt. (Bravo! bei der KPD.) Die Aktion ist seit längerer Zeit planmäßig und umfassend vorbereitet und zielt in Wirklichkeit auf einen Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung des Bundesgebietes ab.“
Bekannt ist das Wort Adenauers, dass alle, die für ein neutrales Deutschland eintreten, entweder Dummköpfe oder Verräter seien. Die Niederländer Rudy Kousbroek fasste die Hemmungslosigkeit des Antikommunismus 1954 treffend zusammen und konstatierte, dass „man sich nicht mehr auf das Bekämpfen des Kommunismus beschränkt, sondern dass man das, was man bekämpfen will, Kommunismus nennt.“[26]
Da sowohl die Westmächte, als auch die Adenauer-Regierung entschlossen waren, Westdeutschland ohne Rücksicht auf die Folgen militärisch aufzurüsten und in ein westliches Militärbündnis einzugliedern, wurden Vorschläge der DDR-Regierung und der Sowjetunion niemals ernsthaft erwogen, sondern stets propagandistisch verteufelt.
So gab es auch keinen Spielraum für Kompromissvorschläge der außerparlamentarischen Opposition.
Antikommunistische Zugeständnisse bürgerlicher Friedensaktivisten verfehlten daher ihren Zweck und nutzten den militaristischen Kräften.
„Eine Grundschwäche der Opposition gegen die Rüstungspolitik der Bundesregierung“, so die Einschätzung von Ulrich Albrecht, „war schließlich ihre Gespaltenheit.“[27]
Die SPD
Auf dem Hamburger Parteitag der Sozialdemokraten im Mai 1950 wurde die Remilitarisierung noch unmissverständlich abgelehnt. „Der Parteitag bestätigt und bekräftigt den Beschluss des Parteivorstandes, sich jeder Remilitarisierung Deutschlands mit allen Mitteln zu widersetzen. Die SPD lehnt eine Wiederaufrüstung und die Einführung einer militärischen Dienstpflicht ab.“[28]
Schon zu diesem Zeitpunkt hatten aber entscheidende Führungszirkel der SPD ganz andere Positionen und Pläne. Im November 1950 erklärte der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher im Bundestag, dass seine Partei nichts einzuwenden habe gegen eine „genaue, exakte, gewissenhaft verantwortliche politische und militärische Untersuchung der Voraussetzungen eines deutschen Beitrags.“ Und er entwickelte auch, unter welchen Voraussetzungen die SPD auf den Remilitarisierungskurs einschwenken wollte. „Nur wenn die demokratischen Streitkräfte hier in Deutschland so stark sind, dass sie die Kraft haben, bei einem Angriff aus dem Osten im sofortigen Gegenstoß die Kriegsentscheidung außerhalb der deutschen Grenzen zu tragen, nur dann kann das Deutsche Volk seinen militärischen Beitrag für die Verteidigung in der Welt leisten.“[29]
Noch während der Konferenz der Außenminister der Westmächte in New York, bei der die deutsche Remilitarisierung auf der Tagesordnung stand und Adenauers Memorandum vorlag, veröffentlichte die Deutsche Presseagentur Auszüge einer Rede von Kurt Schumacher vor SPD-Funktionären aus Baden-Württemberg, in der er ausführt: „Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen und sich mit größtmöglicher Macht an der Elbe etablieren.“[30]
„Die öffentlich erklärte Ablehnung der Adenauerschen Militärpolitik hinderte die SPD-Führung nicht daran, sich seit Sommer 1950 an den laufenden Vorarbeiten der Bundesregierung über die Aufstellung einer westdeutschen Armee zu beteiligen.“[31]
Allein in den Monaten September und Oktober 1950 traf sich Kurt Schumacher siebenmal mit den ehemaligen Wehrmachtsgenerälen Speidel und Heusinger, die zu den engsten militärischen Beratern Adenauers gehörten. Dabei ging es nicht mehr um pro oder contra neue deutsche Wehrmacht, sondern nur noch um die geeignete Form einer neuen (west-)deutschen Armee.
Der Beschluss von Hamburg blieb offizielle Position der SPD bis zum Berliner Parteitag 1954, „wo erstmals eine sozialdemokratische Teilnahme an der Wiederaufrüstung nicht mehr prinzipiell abgelehnt, sondern nur noch von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wurde.“[32]
In der Praxis jedoch war der Hamburger Beschluss spätestens seit Beginn des Korea-Krieges nur Teil eines „rein taktischen Verhaltens geworden, das auf Ablehnung der Aufrüstungsbeschlüsse, aber Teilnahme an deren Durchführung hinauslief“.[33]
Die Gewerkschaften
Die widersprüchliche Position des DGB spiegelt eine Entschließung des Bundesvorstandes von Ende 1950 wider, in der einerseits die „Wiedererrichtung einer selbständigen deutschen Armee“ abgelehnt wird und es anschließend heißt: „Andererseits sind sich die deutschen Gewerkschaften darüber klar, dass eine Verteidigung der westlichen Kultur und der persönlichen Freiheit auch an Deutschland Anforderungen stellt, denen sich das deutsche Volk nicht verschließen kann.“[34]
Obwohl die Stimmung unter den Mitgliedern eindeutig gegen die Remilitarisierung war und sich der Widerstand in Betrieben, in den Einzelgewerkschaften und DGB-Verwaltungsstellen vor Ort, in der Gewerkschaftsjugend formierte, warnte der DGB Bundesvorstand im Januar 1951 die Gewerkschaftsmitglieder vor einer Teilnahme an der Volksbefragung.
Dennoch war die Beteiligung in den Betrieben groß. Das zeigen zahlreiche Beispiele aus Nürnberg, Mannheim, Stuttgart und vielen anderen Städten. Auf Betriebsversammlungen forderten die Beschäftigten der Duisburger und Esslinger Straßenbahnen, der Daimler-Werke in Sindelfingen, die Beschäftigten von Lanz in Mannheim die Durchführung der Volksbefragung. Mitgliederversammlungen der IG Bau, Steine, Erden in Neustadt an der Weinstraße, der Holzarbeitergewerkschaft in Offenbach oder der IG Chemie in Offenburg und Freiburg taten es ihnen gleich. Die Bosch-Belegschaft in Stuttgart stimmte mit überwältigender Mehrheit gegen eine Remilitarisierung, in den BASF-Werken gaben über 20.000 Arbeiter und Angestellte ihre Stimme ab.
Das sind nur einige wenige Beispiele, die deutlich machen sollen, welche gewaltige Wirkung der Widerstand der Belegschaften in den Betrieben hätte entfalten können, wenn die Gewerkschaftsführungen ihn aktiv und einmütig unterstützt hätten.
Im Dezember 1951 hielt das Bundesvorstandsmitglied Ludwig Rosenberg vor dem DGB-Bundesausschuss ein Referat, in dem für die Mitwirkung des DGB bei der Wiederbewaffnung geworben wurde. Es gab keinen Widerspruch der versammelten Funktionäre.
Während der Auseinandersetzungen um die Pariser Verträge im Frühjahr 1952 wuchs die Oppositionsstimmung an der Basis der Gewerkschaften weiter an und führte zu zahlreichen Streikaktionen. Allein in Süddeutschland fanden bis Februar 1952 in 65 Betrieben Warnstreiks statt, in Nordrhein-Westfalen wurden 24 Warn- und Proteststreiks gezählt.
Die Haltung der DGB-Spitze führte zu einer „Folge von innerorganisatorischen Rebellionen“[35], die schließlich personelle Konsequenzen hatten.
Auf dem zweiten Bundeskongress des DGB Mitte Oktober 1952 in Westberlin stand die Remilitarisierungsfrage gar nicht auf der Tagesordnung. Ein Antrag auf Debatte zum Thema wurde auf Empfehlung des DGB-Vorsitzenden Christian Fette abgelehnt. Dennoch kam es im Anschluss an das Referat des Vorsitzenden zu einer ausführlichen Diskussion. In der Konsequenz wurden Fette und sein Stellvertreter nicht wieder in ihre Ämter gewählt, Anträge gegen die Remilitarisierung wurden jedoch von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt.
Im folgenden Jahr blendete der DGB das Thema einfach aus, obwohl die Bundestagswahlen vor der Tür standen und der Bundestag die EVG-Verträge ratifiziert hatte. Gleichzeitig distanzierte sich der DGB öffentlich von jedem Gedanken an einen Generalstreik gegen die Remilitarisierungspläne.
Mit dieser Position blieb der Gewerkschaftsbund für die entscheidende Phase des Widerstandes in den Jahren 1950/51 „gestalt- und wirkungslos“, wie Ulrich Albrecht feststellte.[36]
Kampf um Helgoland
Ende Dezember 1950 landeten die Studenten Renè Leudesdorff und Georg von Hatzfeld auf Helgoland, das der britischen Luftwaffe als Bombenabwurfplatz diente. Sie hissten dort neben der Flagge Helgolands die Fahnen der BRD und die Europaflagge. In einer von Leudesdorff verfassten Denkschrift wird vorgeschlagen, „Helgoland bis zur Bildung der Vereinten Nationen von Europa den Status eines unabhängigen Freistaates zu geben“.[37]
Bis in die ersten Januartage des Jahres 1951 waren es 15 „Invasoren“, die die Insel besetzt hielten und weltweites Aufsehen erregten und Sympathie ernteten.
Nachdem die Bombenabwürfe zunächst wieder aufgenommen worden waren, gelang es am 23. Februar 1951 sieben Jugendlichen auf Helgoland zu landen. Sie waren Mitglieder der FDJ, der Gewerkschaftsjugend und von Sportverbänden. Der Helgoländer Heimatverein „Halluner Moats“ sowie die „Deutsche Aktion Helgoland“, die mit der studentischen Besetzung sympathisierte, distanzierten sich jedoch von dieser Aktion.
Anfang April 1951 gelang es fünfzehn Jugendlichen, darunter Mitgliedern der FDJ und der Falken, auf der Insel zu landen. Sie richteten sich im ehemaligen Flakturm ein und hissten die Flaggen Helgolands, der BRD und die blaue Fahne mit weißer Taube der Friedensbewegung.
Insgesamt folgten fünf Besetzungen der Insel, an denen sich Mitglieder der Guttemplerjugend, der FDJ, der Falken, der Evangelischen und Katholischen Jugend, dem Bund Europäischer Jugend sowie der Schreberjugend beteiligten, wie Marianne Wilke zum Jahrestag der Befreiung der Insel in der UZ berichtete. [38]
Ein Höhepunkt der Proteste war eine Aktion von einhundert Helgoländer Fischern im Juli 1951, die mit achtzehn Kuttern die Insel anliefen, um auf ihre Fischfanginteressen aufmerksam zu machen.
Am 1. März 1952 reagierten die Briten auf die Aktionen und die immer größer werdende internationale Beachtung, die sie fanden und gaben die Insel an die Bundesrepublik zurück.
Die Volksbefragung
In einem Interview mit dem Autor berichtet Hilde Wagner aus Karlsruhe über ihre persönlichen Erlebnisse:
„Bei der Durchführung der Volksbefragung gab es die unterschiedlichsten Formen und Methoden. Es gab Abstimmungen in Versammlungen von Parteien und Organisationen, in Betriebsversammlungen, Vereinsversammlungen, Kinos und Kulturveranstaltungen ja in Theater. Es gab Abstimmungen vor Betrieben und in Wohnungen.
Ich z.B. habe damals die Volksbefragung in Mannheim mit organisiert und durchgeführt. Wir standen morgens vor den Betrieben und verteilten Flugblätter, welchen wir Stimmzettel beigefügt hatten. Wir teilten den Kollegen mit, dass wir nach Feierabend mit Urnen vor dem Betrieb stünden und die Zettel einsammeln würden. Wir baten die Kolleginnen und Kollegen, ihren Stimmzettel schon auszufüllen und abends in die Urne zu werfen, was von bis zu 90% der Belegschaften so gemacht wurde. Oft erschien die Polizei und beschlagnahmte unsere Urnen. Wir beriefen uns dann darauf, dass die Polizei die beschlagnahmten Gegenstände bescheinigen müsste und die Polizisten waren dazu auch bereit. Sie bescheinigte uns, soundsoviele Urnen, mit soundsovielen Stimmzetteln, davon soundsoviel Ja-Stimmen und soundsoviel Nein-Stimmen beschlagnahmt zu haben. Damit hatten wir sozusagen sehr schnell vor Ort die amtliche Bestätigung unserer Tätigkeit. Die Bescheinigungen lieferten wir dann beim Volksbefragungsausschuss in Mannheim ab.
Wir führten auch sehr viele Volksbefragungen bei Hausbesuchen in Wohnungen durch, mit einem Wort gesagt, wir waren damals Tag für Tag, Woche für Woche unermüdlich für den Frieden unterwegs.“[39]
Die Volksbefragungsaktion wurde Mitte März 1952 beendet. Am 16.03.1952 tagte das erweiterte Präsidium des Hauptausschusses in Hohensyburg (Westfalen) und veröffentlichte einen Schlussbericht über die Aktion.
Danach wurden 71.812 Befragungsaktionen in Betrieben, Stadtteilen und Dörfern durchgeführt. Es gab 6.136 öffentliche Versammlungen und Kundgebungen. Dazu kamen gewerkschaftliche Urabstimmungen, Entschließungen von Organisationen und Umfragen von Zeitungen und Universitäten. Dabei sprachen sich „9.119.667 Männer, Frauen und Jugendliche der Bundesrepublik, des Saargebietes und der Westsektoren Berlins für den sofortigen Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und gegen jede Remilitarisierung und Wiederaufrüstung aus.
In persönlicher Abstimmung bejahten von 6.267.302 befragten Deutschen auf Versammlungen, Kundgebungen und mit Stimmzetteln, die in Urnen gesammelt wurden, 5.917.683 (= 94,41%) die gleiche Forderung.“[40]
„Der Ausschuss registrierte 8.781 polizeiliche Einsätze gegen die Volksbefragungsaktionen. Dabei wurden 7.331 Helfer verhaftet und mehr als 1.000 Gerichtsverfahren eingeleitet.“[41] Das alles in einem Zeitraum von zwölf Monaten.
Das Ergebnis wurde von den Staatsorganen stets in Zweifel gezogen. Der Umfang der Repression zeigt aber deutlich, wie verunsichert Regierung und Staatsapparat waren.
Zu Adenauers politischen Gewissheiten gehörte stets die Furcht, die Westdeutschen würden, vor die Wahl gestellt zwischen Remilitarisierung mit Westbindung oder Neutralität plus Einheit, die falsche Wahl treffen. Der britische Hochkommissar, Sir Ivone Kirkpatrick notierte noch im Dezember 1955 in einem geheimen Memorandum: „Dr. Adenauer lässt (…) mitteilen, dass er diesen Plan [die sowjetische Deutschland-Initiative, A.N.] ablehnt. Der Grund dafür sei schlicht, dass er kein Vertrauen zu deutsche[n]m Volk habe. Ihn treibe die Furcht um, dass sich, wenn er einmal nicht mehr da sei, eine deutsche Regierung auf ein Geschäft mit den Russen auf Kosten der Deutschen einlassen könnte. Er habe daraus für sich den Schluss gezogen, dass die Integration Westdeutschlands in den Westen wichtiger sei als die Wiedervereinigung.“[42]
Jugendkarawane
Am 2. März 1952 fand in Darmstadt ein „Westdeutsches Treffen der Jungen Generation“ statt. Eingeladen hatte der „Darmstädter Aktionskreis“. Es kamen rund 1.200 Jugendliche aus kirchlichen Jugendverbänden, Falken, Gewerkschafts- und Naturfreundejugend, Pfadfinder, pazifistischen Gruppen, der bündischen Deutschen Jungenschaft und der DRK-Jugend. Das Treffen rief zur Bildung lokaler Aktionsgruppen „unter Ausschluss von Verfechtern totalitärer Systeme und Ideologien“[43] auf.
Auf einer Arbeitstagung am 1. Mai wurde beschlossen, für den 11. Mai zu einer Jugendkarawane nach Essen einzuladen. Man wollte mehrere Zehntausend Jugendliche mobiisieren. Auf einer Abschlusskundgebung sollten Gustav Heinemann, Pfarrer Hans Meyer und der Landesvorsitzende der Falken, Rudi Arndt, sprechen.
Am 10. Mai, also am Tag vor der Massenaktion, erließ die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ein Verbot mit der Begründung, es stünden nicht genügend Ordnungskräfte zum Schutz der Veranstaltung zur Verfügung.
Dennoch kamen rund 30.000 Jugendliche nach Essen, viele hatten von dem kurzfristigen Verbot gar nichts mitbekommen. Vor der Gruga-Halle warteten bereits Hundertschaften von Polizisten, die mit Gummiknüppeln und Schüssen die Demonstranten auseinandertrieben. Es gab mehrere Schwerverletzte, der 21jährige Arbeiter Philipp Müller aus München wurde von einem Polizisten erschossen. 260 Jugendliche wurden verhaftet.
Neue Etappe der Auseinandersetzung
Als die Öffentlichkeit erfuhr, dass Adenauer Ende Mai 1952 die Militärverträge (Generalvertrag und EVG-Abkommen) unterzeichnen wollte, flammte der Protest erneut auf.
Die Bundesregierung reagierte mit einer Verschärfung der Repression.
Am 11. Juli 1952 wurde das Strafrechtsänderungsgesetz, Blitzgesetz genannt, erlassen. Die Strafbestände des Hoch- und Landesverrates wurden damit „gefährlich und dehnbar formuliert“.[44]
Bei einer Vielzahl darauf folgender Prozesse machten die Richter „von den ihnen belassenen Handlungsspielräumen (…) reichlich, geradezu exzessiv Gebrauch.“[45]
Mit dem Vorwurf der „Wühlarbeit“ übernahmen die Richter einen Kampfbegriff, mit dem schon die Nazi-Richter ihr drakonisches Vorgehen gegen jede Regung von Widerstand gerechtfertigt hatten.
„Mundtot gemacht wurden alle Kritiker, die kein remilitarisiertes Deutschland wollten und eigene friedenspolitische Vorstellungen jenseits des Kalten Krieges entwickelten und es nicht ablehnten, unter allen in dieser existenziellen Frage Gleichgesinnten nach Bündnispartnern zu suchen.“[46]
„Staatsanwaltschaft und Gericht operierten mit dem juristischer Konstruktionsphantasie entsprungenen Begriff der ‚Kontaktschuld‘.“[47] Diether Posser vergleicht diese Konstruktion mit der griechischen Sagenwelt, in der alles, was der König Midas berührt, zu lebensfeindlichem Gold wird. „So wurde alles, was Kommunisten unterstützten, sofort verfassungsfeindlich. Das war die Faustregel der Urteilsfindung.“[48]
Und es darf nicht vergessen werden, „dass die Richter und Staatsanwälte, die in den 50er und 60er Jahren Kommunisten und andere Antifaschisten für die Betätigung ihrer Gesinnung bestraften, noch dieselben waren, die schon unter Hitler gedient“ hatten.[49]
Paulskirche
Am 29. Januar 1955 tagte in der Frankfurter Paulskirche, dem Ort, an dem 1848-49 die erste frei gewählte Volksvertretung gearbeitet hatte, eine Versammlung der Gegner der Pariser Verträge. Der Einladerkreis repräsentierte ein breites Bündnis. Dazu gehörten der DGB-Vorsitzende Walter Freitag, der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, Gustav Heinemann, die Professoren Helmut Gollwitzer, Renate Riemeck und Alfred Weber. Die Versammlung verabschiedete ein „Deutsches Manifest“, das in den Pariser Verträgen die Gefahr einer vertieften Spaltung Deutschlands und die Verschärfung der Kriegsgefahr in Europa sah.
Die Kundgebung in der Paulskirche stand unter dem Motto „Rettet Einheit, Frieden und Freiheit! Gegen Kommunismus und Nationalismus!“
Die SPD-Führung tat alles, um Kommunisten aus Führungspositionen der Bewegung auszuschließen. Die ließen sich dennoch „nicht in ihrer festen Linie beirren, alle Aktionen konsequent zu ermutigen und zu unterstützen.“[50]
In Folge kam es, nach Einschätzung der KPD, „zu den umfassendsten Massenaktionen, die es bis dahin im antiimperialistischen Kampf in der Bundesrepublik gegeben hatte.“[51]
Die SPD kündigte zur Jahreswende 1954/55 „ein Kampfjahr“ gegen die Remilitarisierung mit 6.000 Veranstaltungen, Kundgebungen, Schweigemärchen und Fackelzügen im gesamten Bundesgebiet an. Gleichzeitig gab sie zu erkennen, dass sie die Ratifizierung der Pariser Verträge durch den Bundestag respektieren werde.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund unterstützte jetzt die Protestbewegung mit zahlreichen Kundgebungen und Veranstaltungen.
Die KPD, die wegen der staatlichen Verfolgung nur noch halblegal arbeiten konnte, organisierte zu Jahresbeginn eine Kampfwoche gegen Remilitarisierung mit Demonstrationen in mehreren Städten.
Auch die DFG und die IdK organisierten Demonstrationen, bei denen auch Gewerkschaftsfunktionäre und SPD-Abgeordnete auftraten.
Der Demokratische Frauenbund (DFD) protestierte bei eigenen Aktionen mit der Losung „Nicht Wehrstellen sondern Lehrstellen“.
Trotz der breiten Bewegung, die zahllose Menschen im Protest vereinte, hatten die Aktionen die Schwäche, dass sie ausschließlich auf die parlamentarischen Abstimmungsprozesse orientiert waren. Im Bundestag waren die Mehrheitsverhältnisse für die Wiederbewaffnung längst fest gefügt. Allein die KPD hatte mit ihrem Vorschlag, jetzt von der Volksbefragung zur Volksabstimmung voranzuschreiten, eine Aktionslosung anzubieten, die Erfolg versprach, wenn sie außerhalb der Parlamente, in den Betrieben Unterstützung fand.
Dafür aber war die SPD-Führung nicht zu haben. Offensichtlich wollte sie lediglich den Protest kanalisieren und wenn möglich daraus wahlpolitische Erfolge machen.
Am 24. Februar 1955 begann trotz Protesten im Bundestag die Ratifizierungsdebatte zu den Pariser Verträgen. Die zweite Lesung am 26. Februar wurde mit der Zustimmung der Regierungsparteien zu den Verträgen abgeschlossen.
Danach verebbte der Protest rasch.
Bilanz
Die Bewegung gegen die Remilitarisierung bestand aus sehr unterschiedlichen Kräften. Man rechnet, dass es mehr als 250 Gruppierungen gab, die auf unterschiedlichem organisatorischem Niveau und ausgehend von sehr verschiedenen politischen Ansätzen sich gegen eine Wiederbewaffnung aussprachen und einsetzten.
Ein wirksames Mittel zur Spaltung und Lähmung der Bewegung war der Antikommunismus, der von der herrschenden Propaganda bis zur Hysterie betrieben wurde und der auch diverse bürgerliche Gruppen und Persönlichkeiten zu Abgrenzungsmaßnahmen veranlasste und oftmals ein koordiniertes Vorgehen verhinderte oder gar zu einem Gegeneinander führte.
Die Verfolgungsmaßnahmen des Staatsapparates richteten sich zielstrebig gegen die konsequentesten und am besten organisierten Gegner der Remilitarisierung, gegen die KPD, die FDJ, die VVN und andere Organisationen und schwächten so den Widerstand entscheidend.
Zwar hat die Friedensbewegung die Remilitarisierung der BRD, ihre Integration in das westliche Kriegsbündnis NATO, nicht verhindern können, dennoch wurden die Pläne der Militaristen entscheidend gestört und ihre Realisierung um Jahre verhindert.
„Hätte Adenauer sein Konzept rasch – sagen wir einmal: 1953 – durchsetzen können, dann wäre das zeitlich mit einer Phase US-amerikanischer Politik zusammengefallen, in der die US-Amerikaner ernsthaft mit dem Konzept des ‚Roll back‘ durch Gewaltaktionen gespielt haben. Adenauer hat wohl ziemlich realistisch darauf spekuliert, dass in der EVG die Bundesrepublik bald der ausschlaggebende Faktor geworden wäre. Sie hätte dann – in Übereinstimmung mit der ‚Roll-back‘-Politik – darangehen können, die DDR und die neuen polnischen Westgebiete auf ihre Weise zu ‚befreien‘. Wäre das geschehen, so wäre das die unmittelbare Gefahr eines Dritten Weltkrieges und einer welthistorischen Katastrophe geworden (…) Es bleibt das ungeheure Verdienst der Friedensbewegung, dass sie durch diese Verzögerung, die sie erzwungen hat, doch eine potentielle Katastrophe abgewendet hat.“[52]
Anmerkungen
[1] Zitiert nach Matthias Münch: Bundeswehr – Gefahr für die Demokratie? Köln, 1983
[2] Rheinische Post vom 30.12.46, hier zitiert nach: Fritz Vilmar, Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus. Hamburg, 1973.
Am 24.06.51 klang es bei Adenauer schon ganz anders: “Wer die Neutralität und Demilitarisierung in Deutschland hier bei uns will, ist entweder ein Dummkopf allerersten Ranges oder ein Verräter”.
[3] Zitiert nach Eckart Dietzfelbinger: Die westdeutsche Friedensbewegung 1948-1955. Dort zitiert nach: Neuer Vorwärts, Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Hannover, 3.12.1954.
[4] Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005. München, 2005.
[5] Detlef Bald, Seite 21.
[6] Lorenz Knorr: Geschichte der Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Köln, 1983. Seite 36.
[7] Rolf Badstübner/Siegfried Thomas: Entstehung und Entwicklung der BRD 1945-1955. Restauration und Spaltung. Köln, 1979. Seite 412.
[8] Tönnies, Seite 51.
[9] Norbert Tönnies: Der Weg zu den Waffen. Die Geschichte der deutschen Wiederbewaffnung 1949-1957. Mit einem Vorwort von Bundesminister für Verteidigung Franz Josef Strauß. Köln, 1957. Seite 51.
[10] Tönnies, Seite 53.
[11] Arno Neuber: 60 Jahre auf dem „deutschen Weg“. In: Marxistische Blätter, Nr. 2/2005.
[12] Wilfried von Bredow: Militär und Demokratie in Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden, 2008. Seite 82.
[13] Tönnies, Seite 72/73.
[14] Zitiert nach Lorenz Knorr: Geschichte der Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Köln, 1983, Seite 35/36.
[15] Ulrich Albrecht: Die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Analyse und Dokumentation. Köln, 1980, Seite 35.
[16] Lorenz Knorr, Seite 41.
[17] Lorenz Knorr, Seite 42.
[18] Eckart Dietzfelbinger: Die westdeutsche Friedensbewegung 1948 bis 1955. Die Protestaktionen gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland. Köln, 1984. Seite 55.
[19] Ingeborg Nödinger: Frauen gegen Wideraufrüstung. Der Demokratische Frauenbund Deutschland (DFD) im antimilitaristischen Widerstand (1950 bis 1957). Frankfurt am Main, 1983. Seite 41.
[20]Dietzfelbinger, Seite 70.
[21] Fritz Krause: Antimilitaristische Opposition in der BRD 1949-55. Frankfurt am Main, 1971. Seite 62.
[22]Jan Wienecke/Fritz Krause: Unser Marsch ist eine gute Sache. Ostermärsche damals – heute. Frankfurt am Main, 1982.
[23]Entschließung des Münchner Parteitags der KPD, 3.-5.3.1951: Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der KPD. In: Günter Judick/Josef Schleifstein/Kurt Steinhaus (Hrsg.): KPD 1945-1968. Dokumente, Band 1. Neuss, 1989.
[24] Zitiert nach Udo Mayer und Gerhard Stuby: Das lädierte Grundgesetz. Beiträge und Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1949-1976. Köln, 1977. Seite 15.
[25] Deutscher Bundestag – 139. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 26. April 1951.http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01139.pdf
[26] Michael Werner: Zur Relevanz der „Ohne mich“-Bewegung in der Auseinandersetzung um den Wehrbeitrag. In: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hrsg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen, 2010. Seite 84.
[27] Ulrich Albrecht, Seite 37.
[28] Zitiert nach Udo Mayer und Gerhard Stuby: Das lädierte Grundgesetz. Beiträge und Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1949-1976. Köln, 1977. Seite 13.
[29] Udo Mayer und Gerhard Stuby, Seite 13.
[30] Tönnies, Seite 75.
[31] Gerhard Stuby: Die SPD während der Phase des kalten Krieges bis zum Godesberger Parteitag (1949-1959). In: v. Freyberg u.a.: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1863-1975. Köln, 1975. Seite 319.
[32] Karl A. Otto, Seite 86.
[33] Karl A. Otto, Seite 87.
[34] Zitiert nach Johannes M. Becker: Die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und das deutsch-französische Verhältnis. Die Haltung führender Offiziere beider Länder (1945-1955). Marburg, 1987.
[35] Karl A. Otto, Seite 79.
[36] Ulrich Albrecht: Die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Analyse und Dokumentation. Köln, 1980. Seite 49.
[37] René Leudesdorff: Wir befreiten Helgoland. Die friedliche Invasion 1950/51. Husum/Nordsee, 1987.
[38] Mariannne Wilke: Helgolandbefreiung ohne Befreier gefeiert. In: Unsere Zeit – Zeitung der DKP, 9. März 2012. http://dkp-online.de/uz/4410/s0201.htm
[39] Arno Neuber: Fragen an Hilde Wagner. http://www.dkp-karlsruhe.de/geschichte/hildewagner/fragen-an-hilde-17.html
[40] Dietzfelbinger, Seite 105.
[41] Fritz Krause: Antimilitaristische Opposition in der BRD 1949-55. Frankfurt am Main, 1971. Seite 103.
[42] Kirkpatricks Memorandum vom 16.12.1955. In: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hrsg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen, 2010. Seite 29.
[43] Karl A. Otto, Seite 83.
[44] Fritz Krause, Seite 117.
[45] Helmut Kramer: Die justizielle Verfolgung der westdeutschen Friedensbewegung in der frühen Bundesrepublik. In: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hrsg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen, 2010. Seite 49.
[46] Helmut Kramer, Seite 53.
[47] Helmut Kramer, Seite 56.
[48] Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968. München, 1991. Seite 253.
[49] Heinrich Hannover: Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. In: Friedrich-Martin Balzer: Justizunrecht im Kalten Krieg. Die Kriminalisierung der westdeutschen Friedensbewegung im Düsseldorfer Prozess 1959/60. Köln, 2006. Seite 10.
[50] Max Reimann: Entscheidungen 1945-1956. Frankfurt am Main, 1973. Seite 222.
[51] Max Reimann: Entscheidungen 1945-1956. Frankfurt am Main, 1973. Seite 221-222.
[52] Wolfgang Abendroth: Im Gespräch mit Frank Deppe, Klaus Fritzsche, Georg Fülberth, Christoph Jetter, Gert Meyer. Friedensbewegung und Arbeiterbewegung. Marburg, 1982. Seite 21/22.
Der Beitrag erschien zuerst mit weiteren Beiträgen in der GeschichtsKorrespondenz, dem marxistischen Arbeitskreis zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Partei die LINKE, Nummer 2/21 Jg., August 2015.