IMI-Standpunkt 2015/031 - in: AUSDRUCK (Oktober 2015)
Der „unsichtbare“ Krieg gegen den IS – Ein Blick auf die Folgen
von: Michael Haid | Veröffentlicht am: 25. August 2015
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Der Krieg aus der Luft mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Marschflugkörpern oder Drohnen für Angriffe auf Einzelpersonen oder Personengruppen sowie als Kampfunterstützung für am Boden eingesetzte eigene Einheiten oder für verbündete Kriegsparteien scheint in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen zu haben. Für diese Methode der Kriegsführung stehen beispielsweise die Drohneneinsätze der USA (und teils von Großbritannien) in Pakistan, Afghanistan, dem Irak, Libyen, Somalia und dem Jemen oder die Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten. Auch die Militäroperation »Unified Protector« gegen das Gaddafi-Regime in Libyen 2011 als auch jüngst die Operation »Inherent Resolve« – der Luftkrieg einer von den USA angeführten Koalition gegen die Organisation »Islamischer Staat« (IS) im Irak und in Syrien – lässt sich hierzu zählen. US-Präsident Barack Obama bezeichnete einen systematischen Einsatz von Luftschlägen als die erste von vier Säulen in seiner Strategie gegen den IS.[1] An diesem Luftkrieg sind, neben den USA, Kanada und Jordanien, die in beiden Ländern Angriffe fliegen, im Irak noch Australien, Dänemark, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien beteiligt, in Syrien sind es Bahrain, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.[2] Dabei führten die USA im Irak circa zwei Drittel und in Syrien nahezu alle Angriffe aus, der Rest der Luftschläge wurde durchgeführt durch die übrigen an dieser Koalition beteiligten Staaten, wie die nachfolgende Übersicht zeigt.
Operation »Inherent Resolve« – US- und Nicht-US-Luftangriffe (08.08.2014-08.08.2015)[3]
Irak | Syrien | Total | |
US-Angriffe | 2.503 (68 %) | 2.190 (95 %) | 4693 |
Nicht-US-Angriffe | 1.180 (32 %) | 116 (5 %) | 1296 |
Total | 3683 | 2306 | 5989 |
Der Titel eines Beitrags des Deutschlandfunks zu den Luftangriffen gegen den IS lautete „Der unsichtbare Krieg“.[4] Tatsächlich dürfte aus Sicht der Befürworter dieser Methode diese Art der Kriegsführung auch deshalb attraktiv sein, weil sie sehr geringe bis keine eigenen Verluste produziert und angeblich auch die Zivilbevölkerung weitestgehend unberührt lässt – so wird es zumindest mit dem Bild eines sog. sauberen Krieges vielfach propagiert. Dadurch dürften sich die mediale Aufmerksamkeit in Grenzen halten bzw. positiv ausbilden und dadurch die Luftangriffe sich politisch durchführbarer gestalten. Kürzlich ist jedoch eine Publikation des Projekts »Airwars« erschienen, das auf die Folgen bzw. die Opfer dieser Luftkriegsführung aufmerksam machte. Der Beitrag gibt eine Zusammenstellung der wichtigsten dort angegebenen Erkenntnisse und anderer Quellen wieder, bietet einen Überblick über die Ausbildungs- und Ausstattungsmission der Bundeswehr als deutschen Beitrag am Boden zur Ergänzung des Luftkriegs und soll dazu dienen, diesen Krieg „sichtbarer“ zu machen.
Historisch genaueste Luftschläge?: Zwischen 489 und 1.247 tote Zivilisten
Der Beginn der Operation »Inherent Resolve« jährte sich Anfang August 2015 zum ersten Mal. Die Luftwaffen der an diesem Krieg beteiligten Staaten haben innerhalb dieses Jahres 45.259 Flüge absolviert. Dabei seien allein auf die Stadt Kobani in Syrien 660 Bomben in den fünf Monaten von August 2014 bis Januar 2015 abgeworfen worden und hätten damit kurdischen Kämpfern einen ihrer größten Siege beschert. So jedenfalls lässt es sich auf einer Internetseite der US-Luftwaffe nachlesen.[5]
Generalleutnant Charles Q. Brown, Kommandeur der Luftstreitkräfte beim US-Zentralkommando, scheint keinen Zweifel daran zu hegen, die Zahl ziviler Opfer und größerer Kollateralschäden am Boden auf ein Minimum begrenzt zu haben. Er behauptete: „Von den mehr als 20.000 Bomben und Flugkörpern, die die Anti-IS-Koalition im Laufe des vergangenen Jahres gegen die Terrormiliz eingesetzt hat, waren 99 Prozent präzisionsgelenkt. Die Luftschläge der Koalition können als die bislang genauesten in der Geschichte militärischer Auseinandersetzungen gelten.“[6]
Zumindest hat sich die Zahl der Waffeneinsätze mit der Dauer des Krieges intensiviert und im Juli dieses Jahres den bisherigen Höchststand erreicht. Nach einer im Mai 2015 veröffentlichten Schätzung des US-Militärs seien dadurch rund 12.000 als Kämpfer für den IS Verdächtige getötet worden.[7] Nach Angaben der US-Luftwaffe hätten diese Verluste allerdings durch einen stetigen Zulauf an neuen Kämpfern kompensiert werden können. Denn die Stärke der IS-Kämpfer habe derzeit mit circa 20.000 bis 31.500 Kämpfern in etwa den Stand erreicht, wie er zu Beginn der Operation auch betragen habe.[8] Durch die 6.228 Luftschläge der Koalition (Stand: 20. August 2015) seien bis zum 7. August 2015 des Weiteren insgesamt 10.684 Ziele zerstört oder beschädigt worden. Die getroffenen Ziele wurden in Panzer (119), Fahrzeuge (340), Lager (510), Gebäude (3.262), Kampfstellungen (2.577), Ölinfrastruktur (196) und andere Ziele (3.680) des IS aufgeschlüsselt. Aus dieser Auflistung des US-Verteidigungsministeriums geht allerdings nicht hervor, ob es im Zuge der Luftangriffe auch zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung gekommen ist bzw. was unter der Bezeichnung „andere Ziele“ verstanden werden kann.[9] Nach der offiziellen Darstellung scheint sich dieser Krieg nur gegen Kombattanten zu wenden. An dieser Stelle kann das Projekt »Airwars« etwas Licht ins Dunkel bringen. Nach Informationen dieses Projekts kamen seit Beginn der Luftangriffe in bislang erst 53 untersuchten Fällen mindestens 489 bis maximal 1.247 Zivilisten ums Leben, darunter 100 Kinder, und es hätte 111 bis 184 Tote unter verbündeten Kämpfern durch sog. „Friendly Fire“ gegeben.[10] Die Hauptaussage eines Berichts von »Airwars« hierzu lautete, dass trotz der gegenteiligen Behauptung der Anti-IS-Koalition unter Hinweis auf die angebliche Präzision ihrer Raketen, Zivilisten bedeutenden Risiken durch Luftschläge der Koalition im Irak wie in Syrien ausgesetzt blieben.[11]
Minimum der berichteten zivilen Opfer nach »Airwars«[12]
Zeitraum | Getötete Zivilisten | Verletzte Zivilisten | Luftangriffe |
Aug.-Sept. 2014 | 29-32 | 15 | 5 |
Okt.-Dez. 2014 | 110-137 | 41 | 15 |
Jan.-März 2015 | 67-94 | 23-24 | 13 |
April-Juni 2015 | 255-334 | 157-338 | 20 |
Aus Sicht der Rüstungsindustrie sei es der „perfekte Krieg“,[13] meinte ein Branchenkenner eines Marktforschungsunternehmens. Die Luftangriffe erwiesen sich nach Meinung der FAZ als eine „Goldgrube für die Rüstungsindustrie“, denn sie bescherten „amerikanischen Rüstungsfirmen steigende Aktienkurse und potentielle Milliardeneinnahmen“.[14] Nur ein Beispiel: Das US-Rüstungsunternehmen Raytheon sicherte sich Ende September 2014 einen 251 Mio. US-Dollar schweren Auftrag des Pentagons, der Marine weitere Tomahawk-Lenkraketen zu liefern. Am ersten Tag der Angriffe in Syrien, dem 23. September 2014, feuerten Kriegsschiffe 47 Tomahawks ab (Kostenpunkt pro Rakete: 1,4 Mio. US-Dollar).[15] Tatsächlich ist dieser Krieg nicht billig: Nach einer Bilanz des US-Verteidigungsministeriums sollen die Gesamtkosten dieser Operation 3,5 Milliarden US-Dollar betragen (Stand: 31. Juli 2015) bzw. in den 357 Tagen, seit die Operation am 8. August 2014 im Irak begonnen habe (in Syrien seit dem 23. September 2014), habe jeder einzelne Tag dieses Luftkriegs 9,8 Mio. US-Dollar gekostet.[16]
Der deutsche Beitrag: Die Ausbildungs- und Ausstattungsmission der Bundeswehr
Deutschland beteiligt sich zwar nicht am Luftkrieg, leistet aber mit einer Mission der Bundeswehr im Umfang von höchstens 100 Bundeswehrangehörigen, die vom Bundestag am 29. Januar 2015 beschlossen wurde, für die Peschmerga, die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistans im Nordirak, eine sog. Ausbildungs- und Ausstattungshilfe. Das bedeutet, sie bildet die Peschmerga, seit Juni 2015 auch Kämpfer der Jesiden und seit kurzem auch der Kakai,[17] für den Krieg gegen den IS aus. Zudem lieferte sie erhebliche Mengen an Kriegsmaterial, die insgesamt einen Wert von etwa 70 Mio. Euro haben sollen. Die Problematik, dass nach Abgabe dieses Materials Deutschland keine Kontrolle mehr darüber ausüben kann, in wessen Hände diese Waffen gelangen, wollte die Bundesregierung auf Basis einer sog. Endverbleibserklärung lösen. Darin sollte seitens der kurdischen Regionalregierung die verbindliche Sicherstellung des Endverbleibs bestätigt werden.[18] Es scheint sich aber lediglich bestätigt zu haben, dass die Endverbleibserklärung das Papier nicht wert war, auf dem sie geschrieben wurde. Denn nach Thomas Wiegold, Betreiber der Internetseite »Augengeradeaus!«, seien in türkischen Medien die Vorwürfe zu lesen gewesen, dass nun doch deutsche Waffen ihren Weg zur PKK oder ihr nahestehenden Organisationen gefunden hätten, was ein heikler Vorwurf angesichts der Tatsache sei, dass die Türkei (erneut) mit Waffengewalt gegen die PKK vorgehe. Auffällig daran sei gewesen, dass die Bundesregierung nicht mehr wie zuvor die Möglichkeit der Weitergabe der deutschen Waffen kategorisch ausgeschlossen habe, sondern eben das für eine Möglichkeit hielt, für die es aber noch keinen Beleg gebe.[19] Neben den Ersatzteilpaketen und den Werkzeug-/ Wartungssätzen für Waffen und Fahrzeuge ist ab Herbst 2015 eine Folgelieferung mit Winterbekleidung geplant. Der gesamte Umfang der bislang gelieferten Waffen und sonstiger Gegenstände kann folgender Aufstellung entnommen werden.[20] Dieses Engagement Deutschlands dürfte einmal mehr ein Beispiel dafür sein, dass Waffenlieferungen an Kriegsparteien und die Ausbildung für den Krieg von Konfliktteilnehmern Folgeprobleme schaffen können sowie den Konflikt selbst verschärfen und ihn kaum lösen werden.
Lieferungen von Kriegsmaterial aus Deutschland in den Irak[21]
Lieferung 2014 (Tranche 1-3) | Folgelieferungen 2015 |
40 Abschussgeräte schwere Panzerfaust (nur Beleuchtung) (1. 000 Munition) | 3 schwere Panzerfäuste (nur Beleuchtung) zur Ausbildung (60 Leuchtmunition sowie Zubehör etc.) |
30 Abschussgeräte Panzerabwehrwaffe MILAN (500 Munition) | 30 Panzerabwehrwaffe MILAN (500 Lenkflugkörper sowie Zubehör, Übungsgeräte etc.) |
200 Abschussgeräte Panzerfaust 3 (2.500 Munition) | 200 Panzerfaust 3 (2.400 Munition, 800 Übungsmunition sowie Ausbildungsgerät) |
10.000 Handgranaten | 10.000 Handgranaten |
100 Signalpistolen (4.000 Munition) | |
8.000 Pistolen P 1 (1 Mio. Munition) | 40 Pistolen P 1 für Ausbildung |
40 Maschinengewehre MG 3 (1 Mio. Munition) | 10 Maschinengewehre MG 3 (508.800 Munition) |
8.000 Sturmgewehre G 36 (4. Mio. Munition) | |
8.000 Sturmgewehre G 3 (2. Mio. Munition) | 4.000 Sturmgewehre G 3 + 80 für Ausbildung (2 Mio. Munition) |
1 Tank LKW | |
5 Dingo 1 (geschütztes Rad-Transportfahrzeug) | 10 Dingo 1 (geschütztes Rad-Transportfahrzeug) |
40 LKW 2t Unimog | 10 Unimog Krankenkraftwagen inkl. Sani-Ausstattung |
4 Mio. Munition G 36 | |
60 LKW 0,5 t Wolf ungeschützt/teilgeschützt | |
1.500 Doppelfernrohre | 1.500 Doppelfernrohre (davon 500 irakische Zentralregierung) |
125 Zelte | 50 Leuchtsatz Zelte |
25 Feldküchen | 4.000 ABC-Schutzmasken + Filter (davon 3.000 irakische Zentralregierung) |
4.000 Schutzwesten | 400 Kocher, Diesel |
4.000 Ballistische Schutzbrillen | 150 Wasserfilter (davon 100 irakische Zentralregierung) |
270 Persönliche Sanitätsausstattungen | 850 Lebensmitteltransportbehälter |
40 Werkzeugsätze Munitionsbeseitigung | 1.250 Speisebehälter |
680 Nachtsichtgeräte | 1.500 Staubinden („Tourniquet“) (davon 750 irakische Zentralregierung) |
700 Funkgeräte SEM 52bsp; 20 Metallsuchgeräte | 5.500 Nachfüllpackungen Verbandsmaterial (davon 1.500 irakische Zentralregierung) |
30 Minensonden | 30 Minensonden (Gesamtmenge irakische Zentralregierung) |
4.000 Gefechtshelme | 6.000 Gefechtshelme (davon 2.000 irakische Zentralregierung) |
Anmerkungen
[1] Vgl. Tanya Somanader: President Obama Provides an Update on Our Strategy to Degrade and Destroy ISIL, www.whitehouse.gov, July 6, 2015.
[2] Vgl. Coalition Strikes Continue Against ISIL in Iraq, Syria, August 15, 2015, www.defense.gov.
[3] Vgl. Public Affairs Office, Combined Joint Task Force – Operation Inherent Resolve, in: Micah Zenko: One-Year Anniversary of Operation Inherent Resolve, Council on Foreign Relations, August 12, 2015.
[4] Sabrina Fritz: Der unsichtbare Krieg, www.deutschlandfunk.de, 7.8.2015.
[5] Vgl. Brian Everstine: Operation Inherent Resolve: One year after the first bombs fell, www.airforcetimes.com, August 7, 2015.
[6] Charles Q. Brown Jr., zitiert nach: Christian Dewitz: Inherent Resolve: ein Jahr nach dem ersten Luftangriff, 10.08.2015, www.bundeswehr-journal.de.
[7] Vgl. Micah Zenko, ebd..
[8] Vgl. Brian Everstine, ebd..
[9] Vgl. U.S. Department of Defense: Operation Inherent Resolve. Targeted Operations Against ISIL Terrorists, 07.08.2015, www.defense.gov/News/Special-Reports/0814_Inherent-Resolve.
[10] Vgl. Alice Ross: Hundreds of civilians killed in US-led airstrikes on ISIS targets – report, 03.08.2015, www.theguardian.com.
[11] Vgl. Airwars: Cause for Concern. Hundreds of civilian non-combatants credibly killed in first year of Coalition airstrrikes against Islamic States, August 2015, airwars.org, S. 6.
[12] Vgl. Alice Ross, ebd..
[13] Richard Aboulafia, in: Amerikanische Rüstungsindustrie: Die Hoffnung auf einen langen, profitablen Krieg, www.faz.net, 18.10.2014.
[14] Amerikanische Rüstungsindustrie, ebd..
[15] Vgl. Amerikanische Rüstungsindustrie, ebd..
[16] Vgl. U.S. Department of Defense, ebd..
[17] Vgl. Irak: Ausbildung von Kakai-Kämpfern, Erbil, 14.07.2015, www.bundeswehr.de.
[18] Vgl. BMVg Presse- und Informationsstab: FAQ zur Irak-Hilfe, Berlin, 31.08.2014, www.bmvg.de.
[19] Vgl. Thomas Wiegold: Waffenlieferung nach Kurdistan: Das Problem Weitergabe, 18. August 2015, augengeradeaus.net.
[20] Vgl. BMVg Presse- und Informationsstab: Stand der Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe in der Region Kurdistan-Irak, Berlin, 23.07.2015, www.bundeswehr.de.
[21] Vgl. BMVg Presse- und Informationsstab: Stand der Ausbildungs- und Ausstattungshilfe in der Region Kurdistan-Irak, Übersicht der Materiallieferungen in den Irak, Berlin, 23.07.2015, www.bundeswehr.de.