IMI-Analyse 2014/018
Westliche Kredite an die Ukraine: Soziale und wirtschaftliche Demontage
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 15. Mai 2014
Am 7. Mai 2014 überwies der Internationale Währungsfonds (IWF) die erste Tranche der zugesagten Finanzhilfen, die angeblich dem Ziel dienen sollen, der Ukraine wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. Allein wenn man berücksichtigt, was Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Ende März 2014 vom Stapel ließ, kommen daran jedoch erhebliche Zweifel auf: „Wenn wir an den Punkt kommen, wo wir die Ukraine stabilisieren müssen, können wir auf die Erfahrungen mit Griechenland zurückgreifen.“ (Handelsblatt, 27.03.2014)
Was dies konkret bedeutet, führte etwa Alexis Tsipras, der Vorsitzende der griechischen Oppositionspartei Syriza, aus: „Die Bürger der Ukraine sollten sich darüber klar werden, dass jene, die sich Erretter nennen, in Wirklichkeit eher Henker und Mörder sind. […] Das Volk der Ukraine muss wissen, was in den letzten vier Jahren Griechenland ergangen war: Der IWF, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank haben das griechische Volk sozial geplündert.“ (RIA Novosti, 13.05.2014)
Drei Aspekte stechen angesichts der westlichen Kredite an die Ukraine besonders hervor: Erstens, dass ihr Umfang angesichts des Finanzbedarfs recht bescheiden ist; zweitens, dass dafür, wovor Tsirpas richtigerweise warnt, weitreichende Kürzungen im Sozialbereich durchgeführt werden müssen; und drittens, dass die „Hilfen“ auch noch als zusätzliches Druckmittel verwendet werden sollen, um der Ukraine dauerhaft die Kontrolle über ihre Wirtschaftspolitik zu entziehen und eine periphere wirtschaftliche Angliederung an das EU-Zentrum über die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens zu bewerkstelligen.
Vom IWF zum Maidan und wieder zurück
Im November 2013 beschloss die damalige ukrainische Regierung die Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen. Der Grund waren einmal – vollkommen berechtigte – Bedenken über die wirtschaftlich überaus problematischen Auswirkungen des Abkommens für die ukrainische Wirtschaft (siehe hierzu weiter unten sowie ausführlich IMI-Studie 2014/2b).
Mit ausschlaggebend seien aber nach Auskunft des damaligen Regierungschefs Nikolai Asarow auch Forderungen des IWF gewesen, im Austausch für Kredite im Umfang von 15 Mrd. Dollar umfassende „Reformen“ einleiten zu müssen: “Der ‚letzte Tropfen‘ sei die Forderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom 20. November gewesen, die Gaspreise für die ukrainischen Haushalte zu erhöhen, die Gehälter einzufrieren und die Ausgaben zu kürzen. Nur dann dürfe die Ukraine mit Krediten rechnen.“ (RIA Novosti, 22.11.2013)
Was danach kam, ist weitgehend bekannt: Umgehend nach der Entscheidung, die Verhandlungen um das Assoziationsabkommen auszusetzen und sich Geld bei Russland anstatt beim IWF zu borgen, begannen die vom Westen massiv unterstützten sogenannten Maidan-Proteste gegen die ukrainische Regierung. Sie mündeten im Februar 2014 in einen gewaltsamen Putsch und die Einsetzung einer durch nichts legitimierten „Übergangsregierung“, die – unter substanzieller Beteiligung rechtsradikaler Kräfte – von der dezidiert pro-westlichen Timoschenko-Partei „Batkiwschtschina“ dominiert wird.
Nachdem Russland daraufhin nachvollziehbarerweise seine Geldzusagen zurückzog, fand sich das Land in derselben Situation wie vor etwa einem halben Jahr wieder – mit dem Unterschied, dass nun pro-westliche Machthaber an den Schaltstellen in Kiew saßen. Und so wendete sich die neue „Regierung“ umgehend erneut an den IWF, um die drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden – das Spiel ging also von neuem los: „Bereits am 4. März nahm die IWF-Mission ihre Arbeit in Kiew auf und am 27. März wurde ein ‚Staff Level Agreement‘ verkündet. Die hohe Geschwindigkeit der Ereignisse zeigt wie dringend das Land die finanzielle Unterstützung braucht, aber auch wie entschlossen die neue Regierung die entscheidende Aufgabe der makroökonomischen Stabilisierung angeht.“ (Deutsche Beratergruppe Ukraine, Newsletter Nr. 65, März 2014)
Tropfen auf dem heißen Stein
Angesichts der augenscheinlichen Bereitschaft, IWF-Diktate umsetzen zu wollen, bewilligte der Internationale Währungsfonds am 30. April 2014 einen Kredit in Höhe von 17 Mrd. Dollar. Er soll bis 2016 in vierteljährlichen Raten ausbezahlt werden, wobei die erste Tranche im Umfang von 3,2 Mrd. Anfang Mai 2014 überwiesen wurde. Von den USA wurden Bürgschaften über 700 Mio. Dollar zugesagt und die EU hat sich auf 1,6 Mrd. Euro verpflichtet (Deutsche Welle, 08.05.2014). So imposant sich das zunächst anhören mag, so ist das noch nicht einmal der berüchtigte Tropfen auf dem heißen Stein: Die Ukraine drückt ein riesiger Schuldenberg, der Investitionsstau ist ebenfalls gigantisch und ganz unmittelbar reicht die erste IWF-Tranche noch nicht einmal aus, um die 3,5 Mrd. Dollar aufgelaufenen Gasschulden an Russland zu begleichen.
Dies wird aber insofern notwendig sein, da Moskau ankündigte, ab Juni 2014 nur noch auf Vorkasse liefern zu wollen und sollte sich die Ukraine dem verweigern, den Gashahn schlicht abzudrehen. Kiew deutete nun an, die Schulden begleichen zu wollen, allerdings nur, wenn Moskau im Gegenzug die Streichung der Gas-Rabatte rückgängig mache, die den von Russland berechneten Preis pro 1000 Kubikmeter seit April von 268,5 auf 485 US-Dollar hat hochschnellen lassen (RIA Novosti, 15.05.2014). Doch es ist kaum davon auszugehen, dass sich Russland hierauf einlassen wird, da es schon in der Vergangenheit eine hohe Bereitschaft an den Tag gelegt hat, Gaslieferungen als politisches Druckmittel einzusetzen (siehe AUSDRUCK, August 2007). Es besteht also eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es Anfang Juni zu einem Lieferstopp kommt, was zur Folge haben könnte, dass die Ukraine – wie dies 2009 bereits schon einmal der Fall war – für Westeuropa bestimmtes Transitgas für den Eigenbedarf abzweigen könnte. Je nachdem, wie lange ein solcher Zustand andauern würde, könnte der Konflikt für viele Länder buchstäblich in einen Neuen Kalten Krieg münden. Hier liegt der Grund dafür, dass Brüssel die Ukraine dazu drängt, die Kredite zur Begleichung der Gasrechnung an Russland zu verwenden.
Sozialer Kahlschlag
Wie auch immer der Streit um die Gaslieferungen ausgehen wird, fest steht, dass die westlichen Finanz“hilfen“ – so sie denn gut gemeint wären, was sie ohnehin nicht sind – der Ukraine vom Umfang her sicher kaum aus der tiefen wirtschaftlichen Patsche helfen werden. Die „Übergangsregierung“ selbst bezifferte den Finanzbedarf allein in den nächsten zwei Jahren auf mindestens 35 Mrd. Dollar (Manager Magazin, 27.02.2014) und auch IWF-Chefin Christine Lagarde gibt – ohne allerdings zu sagen, woher das Geld kommen soll – an: „Die Ukraine braucht weitaus mehr als 17 Milliarden Dollar.“ (Zeit Online, 12.05.2014)
Dramatisch ist in jedem Fall, dass die „Hilfen“ an Bedingungen geknüpft sind, die vor allem die ohnehin schon bettelarme Bevölkerung überaus hart treffen werden: „Erwartungsgemäß sollen Löhne und Renten gedeckelt werden. Die bereits beschlossene, schrittweise Anhebung des Mindestlohns wird zurückgenommen. Die Lohnuntergrenze bleibt bis zum Ende des Jahres eingefroren. […] Auch die Anpassung der Renten an die Löhne wurde ausgesetzt, und für den öffentlichen Dienst gibt es einen Einstellungsstopp. […] Die bereits beschlossene Absenkung der Mehrwertsteuer wird zurückgenommen, sie verbleibt somit bei stolzen 20 Prozent. Auch für Gas und Wärme müssen die ukrainischen Bürger künftig tiefer in die Tasche greifen. Schon zum 1. Mai sollte der Endverbraucherpreis für Gas um 56 Prozent angehoben werden, hatten die neuen Herren in Kiew, denen die Nation so wichtig ist, dass sie darüber einen Bürgerkrieg beginnen, dem IWF versprochen. Zum 1. Juli wird die Fernwärme mit einem Preisaufschlag von 40 Prozent folgen. 2015 sollen dann sowohl Gas als auch Wärme noch einmal um 40 Prozent verteuert werden, und auch für nachfolgenden Jahre bis 2018 einschließlich sind weitere Aufschläge um dann jeweils 20 Prozent vorgesehen.“ (Telepolis, 15.05.2014)
Wirtschaftliche Entmündigung
Neben dem sozialen Kahlschlag geht es dem Westen auch darum, der Ukraine dauerhaft die Kontrolle über ihre Wirtschaftspolitik zu entziehen – auch hier erweisen sich die Kredite als vortreffliche Möglichkeit, diesbezügliche „Reformen“ zu „ermuntern“: „Ansonsten verpflichtet sich Kiew gegenüber dem IWF keine neuen Kapitalverkehrskontrollen einzuführen und auch den Wechselkurs der Währung dem Markt zu überlassen. Damit gibt sie zwei wichtige Instrumente aus der Hand, mit denen Regierungen einst, in einer Zeit, bevor neoliberale Ideologen die Herrschaft übernahmen, ihre Volkswirtschaften schützten.“ (Telepolis, 15.05.2014)
Schließlich sollen die „Hilfen“ dem Westen ein weiteres Druckmittel an die Hand geben, um die wirtschaftliche Entmündigung und Ausbeinung der Ukraine dauerhaft rechtlich zu kodifizieren. Das wesentliche Mittel hierfür ist das besagte Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union, über das Joachim Becker, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, schreibt: „Die geo-ökonomische und geo-politische Stoßrichtung der Abkommen wird im Fall der Ukraine besonders augenfällig. Weit über die Handelsliberalisierung hinausgehend, soll die Ukraine teilweise in den EU-Binnenmarkt integriert werden. Das würde bedeuten, dass die Ukraine substanzielle Teile der Wirtschaftsgesetzgebung der EU übernimmt. Die Ukraine würde nicht nur Möglichkeiten des Außenschutzes für die nationale Ökonomie verlieren, sondern auch Schlüsseloptionen für die nationalstaatliche Industriepolitik (z.B. über öffentliche Ausschreibungen). […] Eine ‚tiefe und umfassende‘ Freihandelszone ist Kernbestandteil des Abkommens. Für die Ukraine dürfte ‚vertiefter‘ Freihandel und die Übernahme von Kernbestandteilen der EU-Wirtschaftsgesetzgebung allerdings auf eine Vertiefung der De-Industrialisierung und vertiefte Abhängigkeitsstrukturen hinauslaufen.“ (W&E 03-04/2014)
Bereits am 21. März 2014 unterzeichnete die „Übergangsregierung“ den politischen Teil des Assoziierungsabkommens. Auf seiner Tagung am 12. Mai 2014 unterstrich der EU-Rat nochmals sein Interesse daran, die handelspolitischen Passagen schnellstmöglich nach den Wahlen am 25. Mai 2014 unter Dach und Fach zu bringen (Council conclusions on Ukraine, Brussels, 12 May 2014). Falls sich hiergegen trotz aller Vorarbeiten doch noch substanzieller Widerstand regen sollte, sollen allem Anschein nach die westlichen Finanz“hilfen“ die notwendige Überzeugungsarbeit leisten. Anders jedenfalls sind die Aussagen von Peter Stano, dem Sprecher von EU-Erweiterungs-Kommissar Stefan Füle, kaum zu deuten: „Diese noch nie dagewesene Höhe an Hilfsgeldern steht in direktem Zusammenhang damit, dass die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet und in Kraft setzt.“ (Deutsche Welle, 08.05.2014).