IMI-Analyse 2013/033 - in: AUSDRUCK (April 2014)
Was passiert mit der verlassenen NATO-Militärbasis in Neapel?
Zur anstehenden Konversion eines Ortes der Kriegskoordination
von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 10. Dezember 2013
Der vollständige Artikel im AUSDRUCK-Layout als PDF: „Was passiert mit der verlassenen NATO-Militärbasis in Neapel?“
Die NATO ist seit 1954 im neapolitanischen Viertel Bagnoli stationiert, wo sie eine Fläche von mehr als 210.660m² mietete. Auf diesem Komplex befindet sich eine Wohnanlage, in welcher mehr als 2.100 Soldat_Innen und ihre Familien beherbergt wurden, ein olympisches Schwimmbecken, eine Kirche, ein Theater, ein Helikopterlandeplatz, auf dem einst John F. Kennedy landete und eine Sportanlage mit Panoramablick auf die Insel Nisida, den Vesuv und das Mittelmeer. Die Anlage gehört bis heute der Stiftung Fondazione Banco di Napoli per l’assistenza all’infanzia (Stiftung der Bank Neapels für die Kinderfürsorge), welche 1940 die Anlage als Internat Costanzo Ciano für bedürftige Kinder vorsah. Während der letzten Jahre des zweiten Weltkrieges wurde sie zunächst von den italo-deutschen und später von den anglo-amerikanischen Truppen benutzt. Später wurde sie in eine Notunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert und letztendlich ab 1954 von der NATO gemietet. Die Anlage befindet sich im Stadtteil Bagnoli auf dem Hügel San Laise, welcher zu den größten der wenigen grünen Lungen Neaples gehört. Dieses Jahr ist die NATO in eine neue, modernere Anlage in Lago Patria gezogen. Lago Patria ist eine kleine, etwas abgelegene Küstenstadt, welche sich noch in der Metropolregion Neapels befindet und zugleich besser an die Infrastruktur anderer Militärinstallationen in der Umgebung angebunden ist.
Am ersten Dezember öffnete die nun ehemalige NATO-Militärbasis in Bagnoli zum ersten Mal für die Öffentlichkeit ihr eisernes Eingangstor, dass sich auf der Viale della Liberazione (Allee der Befreiung) befindet, für die gesamte Stadt. Eine Friedensaktivistin der anti-militaristischen Gruppe Donne in Nero meinte zu diesem Anlass: «Es ist ein bewegendes Ereignis; seit Jahrzehnten machen wir dreißig Meter vor dem Eingangstor halt, um gegen die NATO zu demonstrieren. Und heute sind wir hier, heute stehen wir vor den Gebäuden, von denen aus all diese Kriege geführt wurden.»
Im Laufe der letzten Jahrzehnte gab es viele Anlässe für die Gruppe, vor der NATO zu protestieren. In dieser Militärbasis der Allied Joint Force Command Naples und zuvor des AFSOUTH (Allied Forces Southern Europe) Kommandos wurden mit der Beteiligung von bis zu 22 Nationen unter anderem der NATO-Einsatz im Kosovo, die sogenannten Anti-Terror- und Anti-Pirateriemissionen seit 2001 und die Militäroffensive gegen Lybien mitkoordiniert. Doch diese Militärbasis ist nicht die einzige, die Neapel in europäische und US-amerikanische Kriegsgeschehen weltweit involviert. Die Metropolregion Neapels ist mit sieben nicht-italienischen Militärinstallationen geprägt durch die Präsenz der NATO und der US-amerikanischen Armee.
Die ehemalige Militärbasis hat das Potential, zukünftig auf vielfältige Art und Weise von den Neapolitaner_Innen genutzt zu werden. Nicht nur private Investoren und die staatlichen Institutionen vor Ort beschäftigen sich mit verschiedenen Zukunftsszenarien der Anlage, sondern auch die Anwohner_Innen. Verschiedene lokale Kollektive fordern, dass über die Zukunft des ehemaligen NATO-Geländes nicht im Rathaus, sondern in einer öffentlichen Versammlung entschieden werden soll. Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Wohnungslose, Migrant_Innen und Student_Innen sollen die Möglichkeit erhalten, in der Anlage wohnen zu können. Des Weiteren sollen die Kinder und Jugendlichen die Sportanlage benutzen dürfen und die Agrarflächen sollen für Permakultur verwendet werden.
Die politischen Kollektive in Neapel versuchen momentan mit Einbeziehung der Einwohner_Innen einen umfassenden, konkreten Plan für die Anlage zu erarbeiten. Jeder Schritt der Institutionen wird beobachtet, um einzuschreiten, wenn Entschlüsse nicht gemeinsam getroffen werden und um zu vermeiden, dass die Entscheidungskraft in die Hände von Spekulanten und privaten Investoren gerät. In diesem Zusammenhang haben Schüler und Schülerinnen Bagnolis am vierten Dezember vor der Anlage protestiert und planen weitere Versammlungen und Proteste, in denen sie erklären, weshalb sie das Gelände für sich beanspruchen. Dadurch, dass das Gelände der „Stiftung der Bank Neapels für die Kinderfürsorge“ ursprünglich dem Wohl der Kinder gewidmet werden sollte, scheint die Forderung der Schüler_Innen nur allzu legitim zu sein. Zudem ist die infrastrukturelle Situation für die junge Generation der Metropolregion Neapels mehr als unzureichend. Es mangelt an Schulräumen und an kulturellen Freizeitangeboten für die junge Generation. Die Schule „Boccioni“ wird bald einem Hotel weichen und die „Labriola“ mietet Gebäude von Privateigentümern, um ihren Klassenraummangel auszugleichen. Die „Rossini“ hat das gleiche Platzproblem, doch sie hat eine andere vorübergehende Lösung gefunden: der Unterricht wird über den Tag verteilt in drei Schichten gehalten.
Die Schüler und Schülerinnen der Region Neapels sowie verschiedene Kollektive aus der Umgebung fordern eine sofortige und partizipative Nutzung der ehemaligen Militärbasis. Der Ort, von dem aus während der letzten sechzig Jahren Kriege geführt wurden, wird nun vielleicht einen wertvollen Beitrag zur Stadtentwicklung Neapels leisten. Gerade Bagnoli ist ein Stadtteil, welchem ein gemeinsam gestalteter Raum in vielerlei Hinsicht helfen würde. In Bagnoli ist die Arbeitslosenrate besonders hoch, mehrere verlassene großflächige Projektruinen verunstalten den Stadtteil und die Krebsrate liegt weit über dem nationalen Durchschnitt. Die hohe Krebsrate scheint zum einen das Resultat des Müllgeschäfts der Camorra zu sein, durch das auch Giftmüll vergraben oder im Meer entsorgt wird, sowie das des Industriegebiets, das seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts das Viertel prägte. Das ehemalige Stahlwerk von Italsider hat nach fast hundertjährigem Bestehen 1992 zusammen mit der Zementfabrik Cementir, sowie mit Eternit, wo Asbestzement produziert wurde, und der Ex-Federconsorzi eine noch immer verunreinigte Ruine von über 160 Hektar, mehr als achttausend entlassene Arbeiter_Innen und eine enorme Umweltverschmutzung hinterlassen, unter der Bagnoli bis heute leidet. Auch ehemalige Freizeiteinrichtungen reihen sich in die Liste der Ruinen in Bagnoli ein. Ein Erfolg und Lichtblick Neaples war das interaktive, naturwissenschaftliche Museum Città della Scienza (Stadt der Wissenschaft), das in einem Teil des ehemaligen Industriegebiets errichtet wurde, doch das Museum wurde Anfang März dieses Jahres niedergebrannt. Im März 2013 haben die Jugendlichen Neapels nicht nur dieses großartige Museum verloren, welches seit den 90ern ein Ausflugsziel von Schulen aus der gesamten Region war, sondern auch einen Freizeitpark und den Zoo. Beide Strukturen wurden seit 2003 gemeinsam von Park and Leisure unter der Leitung von Cesare Falchero in den Bankrott gewirtschaftet. Der Vergnügungspark Edenlandia war als eines der wenigen Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche in der Umgebung seit 1965 ein fester Bestandteil einer neapolitanischen Kindheitserfahrung. Seit März hängen Protestbanner an dem geschlossenen Eingang. Sie erinnern an einen Arbeitskampf der fast hundert entlassenen Angestellten, die die letzten fünf Monate ohne Bezahlung arbeiteten in der Hoffnung, ihre Arbeitsplätze dadurch erhalten zu können. Sie klagen an, dass der Bürgermeister seinen Versprechen nicht nachkommt und dass Neapel ein solches Ende der historischen Einrichtungen nicht hinnehmen darf.
Von verschiedenen Bürgermeistern wurden über die letzten Jahrzehnte hinweg viele Versprechen für eine sinnvolle Konversion der Strukturen gegeben, doch keins wurde eingehalten. All diese verlassenen Strukturen, die selbst für Besucher_Innen in Bagnoli unübersehbar sind, und die Erinnerung an die leeren Versprechen, die durch ihr Anblick wachgerufen werden, verstärken die Dringlichkeit der momentanen Mobilisierung für eine sofortige und partizipative Reintegration der ehemaligen Militärbasis in das Stadtviertel. Der Bürgermeister Neapels, Luigi de Magistris, erklärte, dass er offen sei für alle Ideen der Einwohner_Innen für die Gestaltung der Ex-NATO-Fläche. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Versprechen ernst gemeint ist und der Druck der Bevölkerung auf den Bürgermeister stärker ist, als die Korruption und Klientelwirtschaft im neapolitanischen Ratshaus. Wenn die Energie der momentanen Bewegung erhalten bleibt, kann eine Konversion des ehemaligen Ortes der Kriegskoordination in einen partizipativ gestalteten Raum gelingen und wird sich hoffentlich auch gegen die fortdauernde Militärpräsenz der NATO sowie der US Armee auch in anderen Vierteln Neapels richten.