IMI-Analyse 2011/025

Krieg gegen Libyen – Ursachen, Motive und Folgen


von: Lühr Henken | Veröffentlicht am: 28. Juni 2011

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eine gekürzte Version ist im AUSDRUCK (August 2011) erschienen: https://www.imi-online.de/download/09aug2011_henken.pdf

Am 19. März begannen westliche Länder gegen das Libyen Gaddafis einen Krieg. Er hat bereits die Länge des 78 Tage währenden NATO-Krieges gegen das Jugoslawien Milosevics überschritten. Die US-Regierung setzte am Tag nach dem Kriegsbeginn scheinheilig in die Welt, „der Einsatz in Libyen werde Tage nicht Wochen dauern.“ (FAZ 21.3.1) Dabei hatte die NATO bereits eine Frist von 90 Tagen angesetzt, nun hat sie den Krieg bis – vorerst – Ende September verlängert. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Die führenden Kriegstreiber Sarkozy, Cameron und Obama rühmen sich in einem gemeinsamen Zeitungsartikel, dass sie mit ihrem schlagartigen Kriegsbeginn am 19. März ein Blutbad im von Gaddafis Truppen belagerten Bengasi verhindert hätten. (http://www.ag-friedensforschung.de, 19.4.11) Und in der Times lesen wir von Cameron und Obama, sie hätten damit „eine humanitäre Katastrophe verhindert.“ (www.handelsblatt.com, 24.5.11) Die wahren Gutmenschen schlechthin?!

Konkret gemeint ist Donnerstag, der 17. März. Gaddafis Truppen hatten einen Monat nach Beginn der Rebellion verlorenes Terrain zurückerobert und vor den Toren Bengasis stehend mit dem Angriff auf die Rebellenhochburg gedroht. Beispielhaft sei hier focus.de zitiert: Gaddafi sagte „am Donnerstagabend in einer telefonischen Ansprache im Staatsfernsehen: ‚Die Stunde der Entscheidung ist gekommen.‘ Aufständischen, die ihre Waffen niederlegten, werde er eine Amnestie anbieten. Für diejenigen, die nicht kapitulierten, werde es dagegen ‚keine Gnade und kein Mitleid‘ geben“ (focus.de 17.3.11). Symptomatisch für die Stimmung hierzulande ist die Überschrift im Handelsblatt am 18.3.: „Ohne Flugverbot droht in Libyen Völkermord.“

Eine andere Bewertung dieser Ankündigung Gaddafis entnehmen wir dem Boston Globe vom 14. April 2011. Der Professor für öffentliche Angelegenheiten an der Universität von Texas, Alan J. Kuperman, schreibt: „Gaddafi (hat) niemals mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung in Bengasi gedroht, wie Obama behauptete. Die Warnung ‚es werde kein Pardon gegeben‘ vom 17. März richtete sich ausschließlich gegen die Aufständischen, wie die New York Times berichtete. Zudem habe der libysche Machthaber denjenigen eine Amnestie versprochen, die ‚ihre Waffen wegwerfen‘, Gaddafi bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an, um einen ‚Kampf bis zum bitteren Ende‘ zu vermeiden.“ (The Boston Globe, 14.4.11, A.J Kuperman, „False pretense for war in Libya?“)

Am selben Abend, dem 17.3., hatte der UN-Sicherheitsrat dann mit der Resolution 1973, diesen Angriff einer „Koalition von Willigen“ mandatiert. Libanon hatte die Resolution als Vertreterin der Arabischen Liga eingebracht und sie wurde mit 10 Ja-Stimmen und 5 Enthaltungen angenommen. Sie beinhaltet im Wesentlichen Folgendes: Sie „verlangt eine sofortige Waffenruhe, und ein vollständiges Ende der Gewalt und aller Angriffe und Missbrauchshandlungen gegen Zivilpersonen“; sie ermächtigt „die Mitgliedsstaaten, […], alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen , […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in Libyen, einschließlich Bengasis, zu schützen, unter Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art in irgendeinem Teil libyschen Hoheitsgebiets.“ Und „beschließt, ein Verbot aller Flüge im Luftraum Libyens zu verhängen, um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen.“ Darüber hinaus wird das bestehende Waffenembargo bekräftigt, Reiseverbote gegen die libysche Führung werden erlassen. Außerdem werden die Vermögenswerte von libyschen Banken im Ausland und der großen Nationalen Ölgesellschaft NOC eingefroren.

Also erlaubt diese Resolution den ausländischen Mächten zum „Schutz der Zivilbevölkerung“ militärisch eigentlich alles unterhalb einer Besatzung des Landes. Sie erlaubt nicht die gezielte Tötung Gaddafis.

Was war diesem Beschluss vorausgegangen?

Dazu müssen zwei Vorgänge getrennt untersucht werden. Erstens der angebliche Einsatz der libyschen Luftwaffe gegen Zivilpersonen und zweitens der Einsatz von Bodentruppen gegen Zivilpersonen.

Um die Frage nach dem Luftwaffeneinsatz gegen Zivilpersonen zu beantworten, genügt die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Linksfraktion (DS 17/5409 vom 21.4.11): „Der Bundesregierung liegen keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten vor.“

Um die zweite Frage nach dem Einsatz von Bodentruppen gegen die Zivilbevölkerung zu untersuchen, müssen wir uns den Kriegsverlauf vergegenwärtigen. Die Informationslage ist allerdings noch lückenhaft.

Am 15. Februar gab es im Osten Libyens vor allem in Bengasi mit 300 bis 400 Teilnehmern eine Demonstration gegen die Festnahme eines Rechtsanwalts. Dieser hatte sich für die Hinterbliebenen eines Massakers an Inhaftierten eingesetzt. Das Massaker wurde im Juni 1996 im Hochsicherheitsgefängnis Abu Salim bei Tripolis von Uniformierten an etwa 1.200 politischen Gefangenen, die hauptsächlich aus Benghasi stammten, verübt und ist bis heute nicht aufgeklärt. Dieser Umstand eines über 15 Jahre zurück liegenden ungelösten Konflikts verdeutlicht zweierlei. Einen eklatanten Mangel an Rechtsstaatlichkeit und eine Geringschätzung der ostlibyschen Cyrenaika durch das Regime Gaddafis.

Vom 15.2. gibt es Berichte von Al Dschasira, dass Gruppen unvermittelt in Zintan und Al-Bayda Polizeistationen in Brand gesetzt hätten. Diese Meldungen gab es hierzulande nicht. France 24 berichtet am selben Tag von einem Arzt in Bengasi, demzufolge sich in einem Krankenhaus 38 Personen befanden, die bei Zusammenstößen verletzt wurden. Die meisten von ihnen seien Sicherheitskräfte gewesen. (www.youtube.com [externer Link]) Auch vom 16.2. gibt es Berichte aus dem Osten Libyens von Brandschatzungen an Polizeistationen.

Am 17.2. kam es am „Tag des Zorns“ in mehreren Städten Ost-Libyens zu Demonstrationen. Die größte davon in al-Beidha, mit 1500 Teilnehmern. Gleichentags demonstrierten Tausende Gaddafi-Anhänger in mehreren Städten des Westens. Die NZZ kommentiert: „Das bildet die historische Polarität im Lande ab. Der Nordosten des Landes […]steht traditionell dem Regime eher kritisch gegenüber. Al-Beidha hat den Ruf, noch den 1969 abgesetzten König Idriss as-Senussi zu verehren, und in Benghasi und an den Hügeln des Jebel Akhbar hielt sich lange eine islamistische Opposition. Der relative Aufruhr im Osten kann deshalb nicht einfach als Anzeichen für eine Oppositionswelle im ganzen Land gedeutet werden.“ (NZZ 18.2.11) Das Abfackeln von Polizeistationen und auch Regierungsgebäuden in Städten des Ostens ging weiter.

In Al-Beidha wurden am 18.2. 14 Opfer von Zusammenstößen beigesetzt, berichtet die NZZ (19.2.11). Während der Beisetzung dieser Toten in al-Beidha hätten Söldner „mit scharfer Munition direkt in die Menge“ gefeuert (NZZ 19.2.11). Diese Information hatte die NZZ von der nicht näher bezeichneten Exilopposition. Die FAZ berichtete: „Al Dschazira schaltete am Nachmittag telefonisch zu einem Augenzeugen in Bengasi. […] Die Sicherheitskräfte hätten auf die Menschen geschossen, die Tote zum Friedhof getragen hätten, er sprach von einem ‚Massaker’“ (FAZ 19.2.11) Human Rights Watch zählte in Bengasi 24 Tote. In Bengasi und anderen Städten erhoben sich Tausende von Menschen. Regimegegner hätten am 18.2. „in Al Baida die Kontrolle übernommen“, (FAZ 19.2.11) berichtet die FAZ und kommentiert: „Der Osten des Landes wurde vom Regime in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt. Städte wie Al Baida und Bengasi sind Hochburgen der Islamisten.“

Am 21.2. schreibt die FAZ : „Augenzeugen berichteten, dass bei einem Trauermarsch in der Stadt Benghasi mit Maschinengewehren auf Regierungsgegner geschossen worden sei. Nach Berichten der Opposition wurden innerhalb von zwei Tagen mindestens 200 Personen getötet, doch der Protest breite sich aus. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch teilte in London mit, ihr seien mindestens 173 Todesfälle bekannt.“ (FAZ 21.2.11).

Zu diesen schrecklichen Meldungen ist festzustellen: Es fehlen ihnen die Quellenangaben. Welche Exilgruppen? Was bedeutet Opposition? Woher hat HRW in London die Zahlen? Die Quantitäten sind nicht verifizierbar. Bilder davon gibt es nicht.

Ebenfalls am 21.2. notiert die NZZ: „Es gibt auch Berichte, wonach zumindest in al-Beidha Einwohner den gewaltlosen Widerstand aufgegeben haben und dem Wüten der Schergen Ghadhafis bewaffnet gegenübertreten.“ (NZZ 21.2.11) Tags drauf, am 22.2. berichtet die NZZ: „Die bruchstückhaften Informationen deuten in Benghasi und al-Baidha am Montag einen Umsturz an, wobei breitere Teile der Bevölkerung zu den Aufständischen halten und die Strassen dominieren, während die Sicherheitskräfte in ihren Kasernen verschanzt sind. Seifulislam (ein Sohn Gaddafis) hat eingeräumt, dass dort Panzerfahrzeuge in den Händen der Bevölkerung sind […]. Dabei sind zweifellos auch islamistische Afghanistan-Veteranen am Werk, welche endlich eine Gelegenheit für ihr Kriegshandwerk auf dem eigenen Boden erspähen.“ (NZZ 22.2.11). Daraus ist zu schließen, dass sich Rebellen bereits ab am 20.2. bewaffnet haben und Islamisten darunter sind.

Aus demselben Artikel der NZZ möchte ich die Einschätzung ihres langjährigen Nahost-Korrespondenten Victor Kocher wiedergeben. Kocher schreibt: „Hier zeichnet sich das historische Selbstbewusstsein der Cyrenaika wieder ab, jenes Ostteils des Landes, der ursprünglich das wahre Macht- und Wirtschaftszentrum darstellte. Von dort stammte der Nationalheld und Unabhängigkeitskämpfer Omar al-Mukhtar, der im Kampf gegen die italienischen Kolonisten gefallen ist. Und dort sind die Wurzeln der Senussi-Dynastie, aus welcher der letzte König Idriss stammte, den Ghadhafi 1969 stürzte. In den Augen der Libyer aus der Cyrenaika ist das Ghadhafi-Regime eine illegitime und zur effizienten Regierung unfähige Konstruktion aus verspäteten Versatzstücken des Nasserismus.“

Zurück zum Ablauf. Die FAZ meldet am 22.2.: „Der Sohn des Revolutionsführers bestätigte Berichte von Demonstranten, nach denen sie die Städte Benghasi und Al Baida im Osten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hätten.“ (FAZ 22.2.11). Dies kann gegenüber Gaddafis-Truppen schlechterdings nur bewaffneten Demonstranten gelungen sein. Berichte über diesen Eroberungsvorgang liegen allerdings nicht vor. Ab diesem Zeitpunkt handelt es sich also um einen bewaffneten Bürgerkrieg in Libyen.

Am Morgen des 23.2. machte der Luxemburgische Außenminister Asselborn in Alarmismus: „in Libyen ereigne sich ein ‚Völkermord in höchster Potenz.’“. Was nachweislich nicht stimmte, aber den Militärinterventionismus befeuerte.

Die Opferbilanz belegt, dass es keinen Völkermord gab: Ärzte in der 700.000-Einwohner-Stadt Bengasi gaben am 28.2. – nach dem Ende der Kämpfe – bekannt, dass sie dort 256 Tote und rund 2.000 Verletzte gezählt hätten. (NZZ 1.3.11)

Aufständische bewaffneten sich mit Handfeuerwaffen, Granatwerfern und Schützenpanzern und hatten sogar fünf Kampfflugzeuge erbeutet. Erbeutete moderne Kampfpanzer konnten sie nicht nutzen, weil sie nur per Fingerabdruck-Scan zu starten sind.

Am 27.2. rief die Opposition unter der Führung des ehemaligen Justizministers Dschalil eine Übergangsregierung aus. Dschalil erklärte, dass die Hauptstadt des Landes Tripolis bleibe. (NZZ 28.2.11). Das heißt, das Selbstverständnis der Aufständischen ist ein Machtanspruch auf ganz Libyen. „Ihre Parole war seit Beginn des Aufstands am 17. Februar: ‚Ein Libyen ohne Gaddafi, ein einiges Libyen, ein Libyen mit der Hauptstadt Tripolis.“ (sueddeutsche.de, 28.3.11)

Die USA und Großbritannien verlegten nun Kriegsschiffe vor die Küste Libyens, und bauten damit eine Drohkulisse gegen Gaddafi auf, die die Opposition in ihrem Vorhaben bestärkte.

Susan Rice, UN-Botschafterin der USA, sagte am 1. März, „Gaddafi schlachte sein eigenes Volk ab. Zudem zeige die Behauptung Gaddafis gegenüber westlichen Medien, es gebe keine Gewalt in Libyen, dass der libysche Diktator ‚wahnhaft‘ sei und die Verbindung zur Wirklichkeit verloren habe. ‚Er ist nicht in der Lage, das Land zu führen‘, sagte sie“ (FAZ 2.3.11). Das war die klare Ansage: Gaddafi muss weg.

Wie zweifelhaft die Aussagen über das angebliche Abschlachten oder das Bombardieren von Zivilisten ist, machte ein leitender Beamter des Auswärtigen Dienstes der EU deutlich. Auf seiner Erkundungsreise nach Libyen, über dessen Ergebnisse die FAZ am 9.3. berichtete, hatte er die letzten verbliebenen acht Botschafter aus EU-Staaten gesprochen: „Die EU-Botschafter […] hätten dargelegt, dass sie von Menschenrechtsverletzungen wüssten, aber nicht genau sagen könnten, wer dafür verantwortlich sei. Ob Gaddafi die Bevölkerung systematisch beschießen lasse, etwa aus der Luft, sei unklar; es könne auch nicht genau gesagt werden, wer die Aufständischen seien und ob sie als Partner für die EU in Frage kämen. Die Botschafter hätten angegeben, ihre Informationen beruhten auf Medienberichten und Aussagen von Bürgern, nötig sei eine sofortige unabhängige Untersuchung durch die Vereinten Nationen. Diese Forderung erhob auch der libysche Diplomat, der mit dem EU-Beamten redete.“ (FAZ 9.3.11) . Dazu ist es nie gekommen.

Inzwischen hatte Venezuelas Präsident Chavez einen Plan vorgelegt, wonach „eine Delegation aus Lateinamerika, Europa und dem Nahen Osten versuchen (solle), eine Annäherung zwischen Gaddafi und den Aufständischen auf dem Verhandlungswege herbeizuführen.“ Gaddafi stimmte dem zu. (ftd.de 3.3.11) Die Aufständischen lehnten den Plan ab. „Die Zeit für einen Dialog sei vorüber.“ (FAZ 4.3.11), sagten sie. Niemand griff den Plan auf. Im Gegenteil: US-Präsident Obama forderte tags drauf am 5.3. erstmals den Rücktritt Gaddafis. Das ist eine weit gehende Forderung. Sie impliziert, dass Obama eine Verhandlungslösung mit Gaddafi ausschließt.

Die FAZ meldete am 10. März: „Der Aufstand hat nach Schätzungen schon mehr als 1000 Todesopfer gefordert.“ Wer die Schätzungen vorgenommen hat, wurde nicht mitgeteilt. Die Zahl war offensichtlich von interessierter Seite aufgebauscht worden. Denn genau drei Wochen später gab das britische Außenministerium offiziell exakt dieselbe Zahl 1.000 Tote an. (NZZ.de 1.4.11).

Nachdem „Sarkozy in einer Fernsehansprache den Sturz Gaddafis als Ziel“ (FAZ 10.3.11) nannte, erklärten die Staats- und Regierungsschefs der EU am 11.3. unisono, dass „Oberst Gaddafi die Macht unverzüglich abgeben muss.“ (FAZ 12.3.11) Sarkozy hatte sich zuvor für gezielte Luftschläge eingesetzt und erkannte die Gegenregierung an. Frankreich war die treibende Kraft in Richtung Krieg.

Zum Beschluss des UN-Sicherheitsrats

Kommen wir nun zu der Phase direkt vor dem Beschluss des UN-Sicherheitsrats. Er nahm am 14.3. seine Beratungen über eine Flugverbotszone auf, kam jedoch nicht zu einer schnellen Entscheidung, weil sich insbesondere die USA zurück hielten. Unterdessen eskalierte der Bürgerkrieg in Libyen. Das Gaddafi-Regime wollte Fakten schaffen, ehe NATO-Staaten militärisch eingriffen.

Die NZZ berichtet: „Am Dienstag (dem 15.3.) haben Kampfflugzeuge und Helikopter von Muammar al-Ghadhafi Adschdabija angegriffen, die letzte Stadt in Rebellenhand vor der Hochburg der Aufständischen Benghasi. In der strategisch wichtigen Ölstadt Brega wechselte die Kontrolle mehrfach. In den Ruinen zerstörter Gebäude lieferten sich Rebellen Rückzugsgefechte mit den nach Osten vorrückenden Regierungssoldaten.“ (NZZ 16.3.11) In den Kampf um Misrata im Westen griffen Gaddafis Truppen mit Artillerie und Panzern ein. Am Mittwoch, dem 16.3., kündigte das Gaddafi-Regime an, „es wolle den Aufstand binnen zwei Tagen niederschlagen.“ (FAZ 17.3.11) „Wie ein Sprecher der Aufständischen, Mustafa Gheriani, erklärte, haben Gadhafis Kampfflugzeuge am (Donnerstag-)Morgen (17.3.) den Flughafen von Bengasi sowie angrenzende Wohngebiete bombardiert. Über die Zahl der Opfer gab es bis zum Nachmittag keine gesicherten Informationen […] An den Weltsicherheitsrat appellierte Gherani, endlich eine Flugverbotszone einzurichten sowie Panzer und Artillerie Gadhafis zu bombardieren. ‚Worauf warten Sie noch – Gadhafi führt Krieg gegen sein eigenes Volk,‘ sagte er. Die Bewohner seien den Kriegswaffen des Diktators völlig hilflos ausgeliefert, ‚es ist wie Tontaubenschießen.“ (zeit.de, 17.3.11) Ob auf dieses Schreiben hin oder unabhängig davon, das lässt sich nicht ermitteln, deutet sich am Donnerstagnachmittag (17.3.) ein Sinneswandel bei den USA an. Laut Susan Rice zögen die USA Schritte in Betracht, „die eine Flugverbotszone einschließen und vielleicht auch darüber hinaus gehen.“ (zeit.de, 17.3.11). „Gaddafi kündigte für den Abend eine Offensive seiner Regierungstruppen in Bengasi an.“ (zeit.de, 17.3.11) Das hatte ich eingangs schon angesprochen.

Am späten Abend kam es dann zum Beschluss über die UN-Resolution 1973. Der UN-Sicherheitsrat fasste also einen Beschluss, der nicht auf verifizierten Fakten beruht, sondern auf Medienmeldungen und Stellungnahmen einer Konfliktpartei. Eine Untersuchung der Vorwürfe wurde nie eingeleitet. Verhandlungsangebote wurden ausgeschlagen.

Das brachte den Hamburger Rechtsphilosophen Professor Reinhard Merkel zu einem bemerkenswerten Aufsatz im Feuilleton der FAZ. Er fragt: „Darf man zum Schutz der Zivilbevölkerung eines anderen Staates gegen diesen Staat Krieg führen? Ja, im Extremfällen darf man das – wenn sich nur so ein Völkermord oder systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern lassen, wie sie Artikel 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs beschreibt. […] Dass Gaddafi keinen Völkermord begonnen oder beabsichtigt hat, ist evident,“ schreibt Merkel und fragt weiter: „Haben Gaddafis Truppen systematisch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen oder doch als bevorstehend befürchten lassen? Die Antwort lautet beide Male: nein.“ Das Nein begründet er dann. Das überspringe ich mal.

Merkel setzt sich dann mit folgendem Vorwurf auseinander: „’Der Diktator führt Krieg gegen sein eigenes Volk, bombardiert systematisch seine eigene Bevölkerung, massakriert die Zivilbevölkerung seines Landes‘ – ja, das alles in den vergangenen Tagen tausendfach wiederholt, wären Beispiele für gravierende Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber Gaddafi führt Krieg gegen bewaffnete Rebellen, die ihrerseits Krieg führen. Kämpfende Aufständische, und wären sie Stunden zuvor noch Bäcker, Schuster und Lehrer gewesen, sind keine Zivilisten. Das Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden. Und jeder nach außen legitimierte, also autonome Staat der Welt, darf – in bestimmten Grenzen – bewaffnete innere Aufstände zunächst einmal bekämpfen.“ (FAZ 22.3.11)

Klar ist, der Sicherheitsratsbeschluss ist illegitim, weil ihm die faktische Grundlage fehlt. Die Kriegstreiber nahmen es nicht so genau mit der Beweislage. Offensichtlich ging es ihnen lediglich darum, diese Legitimität zu erlangen, um das Ziel, Gaddafi loszuwerden legal in Angriff nehmen zu können.

Schutz von Menschenrechten?

Dass es dem Westen bei seinem militärischen Eingreifen nicht um den Schutz von Menschenrechten geht, zeigen folgende nur wenigen Beispiele aus der jüngeren Geschichte: die barbarischen Kriegsverbrechen der westlichen Alliierten in den Irakkriegen, ihr Schweigen während der israelischen Aggression gegen den Libanon 2006 und den Gazastreifen 2009, und die Duldung zur Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen von Schiiten in Bahrain, bei denen am 17.2. – übrigens zeitgleich mit dem „Tags des Zorns“ in Libyen – vier unbewaffnete Demonstranten von Sicherheitskräften erschossen wurden.

Die Option, Krieg gegen Gaddafi zu führen, wurde in Washington, London und Paris bereits vor dem 17.3., dem Tag der UN-Resolution, konkret in Angriff genommen. Obama hatte bereits in der Woche vor dem 17. März „eine Genehmigung zur Unterstützung der Rebellen durch den CIA unterzeichnet.“ (focus.de, 31.3.11) Diese Autorisierung umfasste „auch die Lieferung von Waffen an die libyschen Rebellen“. (FAZ 1.4.11). Das konservative Wall Street Journal berichtete am 17. März: „Laut offiziellen Vertretern der USA und der libyschen Rebellen hat das ägyptische Militär damit begonnen, mit Wissen Washingtons Waffen für die Rebellen über die Grenze nach Libyen zu senden. Die Lieferung umfasst meist Kleinfeuerwaffen wie Sturmgewehre und Munition.“ (hintergrund.de, Libysche Notizen von Peter Dale Scott, 31.3.11)

Die Briten waren möglicherweise in geheimer Mission in Libyen noch vor den USA aktiv. Focus-online meldet bereits am 19.3., dass „Sondereinheiten des britischen Militärs bereits vor Wochen nach Libyen eingesickert“ seien. Dabei soll es sich um „getarnte Teams des Special Air Service (SAS) und des Special Boat Service (SBS) handeln“. Sie hätten „strategische Ziele wie Militärflughäfen, Luftabwehrstellungen und Kommuniktionszentralen vermessen und für Bombenangriffe markiert.“ (focus.de, 19.3.) Wochen vorher bedeutet auch Wochen vor dem UN-Sicherheitsratsbeschluss am 17.3..

Der französische Auslandsgeheimdienst DGSE hatte die Aufständischen in Bengasi erstmals bereits vor dem 12. März diskret beliefert hat: mit Panzerabwehr-Munition und Kanonen. (focus.de, 2.4.11)

Aber das ist längst nicht alles. „Möglicherweise ist (auch) der US-Geheimdienst […] noch wesentlich aktiver,“ schreibt die Frankfurter Rundschau am 31.3. „So soll der Oberbefehlshaber der Rebellenarmee, Oberst Khalifa Haftar, sehr gute Beziehungen zur CIA unterhalten. Erst vor kurzem ist er aus dem Exil zurückgekehrt. Gelebt hat er angeblich in der Nähe des CIA-Hauptquartiers in Langley. Haftar galt im Exil als Chef der Untergrundbewegung Libysche Nationale Armee (LNA), die seit den 90er Jahren Gaddafis Regime bekämpft. Diese Anti-Gaddafi-Bewegung ist der militärische Ableger der in der Nationalen Front für die Rettung Libyens organisierten Exil-Opposition. Die LNA-Kämpfer und ihr Anführer Haftar sollen in der Vergangenheit von den USA finanziert und ausgebildet worden sein, heißt es in einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des US-Parlaments (CRS).“ Das schreibt die Frankfurter Rundschau. Und fügt hinzu: „Schon seit Tagen wird berichtet, dass die Rebellenführung über geheime Kanäle mit dem alliierten Kommando in Kontakt steht. (fr-online.de, 31.3.11)

Waffenbrüderschaft NATO-Islamisten

Dass die NATO die Waffenbrüderschaft mit Islamisten nicht scheut, belegt ein Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. April. Demnach kämpfen „Mitglieder der regionalen Organisation ‚Al Qaida im islamischen Maghreb‘ an der Seite der Rebellen.“ Aiman al Zawahiri, im April noch die Nr. 2 der Al Kaida, hatte zum Kampf gegen Gaddafi aufgerufen. (FAS 24.4.11). Die FAS weiter: „Aus den Lagern der libyschen Sicherheitskräfte sollen die Extremisten nach Angaben von Diensten aus der Region auch schwere Waffen, Panzerabwehrwaffen und Manpads – schultergestützte Luftabwehrwaffen – aus russischer Produktion erbeutet haben. Diese Pendants zu amerikanischen ‚Stinger’“, so die FAS, „sind in ihrer modernen Variante zwar schwierig zu bedienen, stellen aber potentiell auch eine Gefahr für den zivilen Luftverkehr dar.“ Das ist längst nicht alles. Welch destabilisierendes Potential der von der NATO eskalierte Krieg auf die Gesamtregion hat, macht folgende Meldung von RIA Novosti vom 1.6. überdeutlich: „Aus algerischen Sicherheitskreisen erfuhr Reuters, dass etliche Konvois von mit Waffen beladenen LKWs von Libyen nach Niger fahren. Von dort aus würden die Waffen nach Nordmali gebracht, wo sich mehrere Al-Kaida-Lager befinden. Die Behörden dieses Landes hatten noch Anfang Mai einen Zustrom von Flugabwehr-Raketen und schweren Waffen gemeldet, die aus dem Militärlagern in Libyen gestohlen worden sind.“ (http://de.rian.ru, 1.6.11) Hier braut sich etwas zusammen, was dem US-Regionalkommando für Afrika AFRICOM Argumente liefert, um endlich in Afrika militärisch eingreifen zu können.

Zur politischen Führung der Rebellen. Premierminister der am 23. März gegründeten Übergangsregierung ist der Wirtschaftswissenschaftler Mahmud Dschibril. Über ihn weiß die FAZ zu berichten: „Nach dem Studium der Politik und Wirtschaftswissenschaften in Kairo und Pittsburgh lehrte er in den Vereinigten Staaten mehrere Jahre lang strategisches Planen und Entscheidungsfindung. [..] Im Jahr 2007 kehrte Dschibril, der als ein Neoliberaler gilt, in sein Heimatland zurück.“ Er übernahm die Leitung des Nationalen Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung. „Dessen Aufgabe war es, die Privatisierung der bisher staatlich gelenkten Wirtschaft voranzutreiben. Was Dschibril in Libyen vorfand, muss ihn jedoch sehr ernüchtert haben,“ meint die FAZ. „Die Chancen, das Wirtschaftssystem erfolgreich zu reformieren, habe er bald als gering bezeichnet, heißt es. Zugleich half Dschibril auch amerikanischen und britischen Firmen, in Libyen Fuß zu fassen. Besonders die Regierung in Washington forderte er immer wieder dazu auf, sich stärker in Libyen zu engagieren, wie aus geheimen Botschaftsdepeschen hervorgeht, welche die Internetplattform Wikileaks veröffentlichte. Amerikanische Diplomaten schätzten Dschibril demnach als einen ‚ernsthaften Gesprächspartner.’“ (FAZ 25.3.11). So weit die FAZ. Also ist Dschibril offenkundig ein Mann der USA.

Ein weiterer Mann der USA in einer Schlüsselstellung ist der neue Wirtschafts- und Finanzminister „in den befreiten libyschen Gebieten“, wie die NZZ neu definiert. Der 61-jährige Ali Tarhuni war seit 1973 in den USA und kam erst im März zurück. Er ist Finanzfachmann und hat eine Professur an der Washington-Universität in Seattle. Er machte bei der libyschen Opposition im Exil mit. (NZZ 30.3.11) Als erstes leitete er druckfrische libysche Banknoten im Wert von über einer Milliarde Euro in den Osten um. (focus.de, 3.4.11) Diese sollten Ende Februar eigentlich aus der Druckerei in Nordengland mit einem libyschen Flugzeug nach Tripolis transportiert werden. Wegen der EU-Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime kam es jedoch nicht dazu. Tarhunis Verhandlungen waren erfolgreich. Professor Tarhuni hat hoch fliegende Ziele: „Ich hoffe, dass wir Libyen in Zusammenarbeit mit internationalen Investoren zu einem Finanzzentrum ausbauen können.“ Und: „Wenn das Land erobert sei, werde er ’so schnell wie möglich‘ eine neue Währung einführen.“ (http://www.finanznachrichten.de, 6.4.11)

Prof. Tarhuni ist auch für Öl zuständig. „Mit der Qatar Petroleum Company hat er einen Vertrag unterzeichnet, das Rohöl des freien Libyens zu vermarkten.“ (FAZ 30.3.11). Bisher wurde ein Lagerbestand von einer Million Barrel für 100 Millionen Dollar über Katar verkauft. Das war es aber auch schon. Denn die von den Rebellen schon zu Beginn des Aufstands gegründete Öl-Gesellschaft Arab Gulf Oil Company (AGO), eine Abspaltung von der Nationalen Ölgesellschaft NOC, die „über 40 Prozent der Ölförderstätten des Landes“ verfügt, (focus.de, 2.4.11) gab bekannt, dass sie aus Sicherheitsgründen „bis zum Ende des Krieges kein Öl mehr fördern werde.“ (http://www.bild.de, 15.5.11) „Laut Tarhuni haben die Rebellen einen täglichen Bedarf von umgerechnet 43 bis 86 Millionen Dollar.“ (NZZ 4.5.11). Mit dem Ölgeld kommen sie also nicht weit. Deshalb wollen sie sich bei westlichen Staaten zunächst zwei bis drei Milliarden Dollar leihen. Zwar gibt es Zusagen von Golfstaaten über mehrere Hundert Millionen, aber an das beschlagnahmte libysche Auslandsvermögen in Höhe von 60 Milliarden Dollar kommen die westlichen Staaten nicht heran. Dafür fehlt ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

Dieser kurze Blick auf die Führung der Aufständischen macht klar: Sie wollen die neoliberale Öffnung der libyschen Wirtschaft.

Kampf um Ressourcen und strategische Positionen

Auf welche Ressourcen Libyens könnte westliches Kapital nach dem gewaltsamen Sturz des Gaddafi-Regimes mehr oder weniger uneingeschränkten Zugriff erhalten und welche weiteren Folgen hätte dieser Umsturz? Dazu fünf Thesen.

Libyen ist ein an Ressourcen reiches Land. Es ist vor allem reich an Erdöl, Erdgas und Süßwasser. Dazu kommen Gips, Kalkstein, Ton, Kalisalz, Marmor, Pottasche, Eisenerz, Phosphate, Uran, Bauxit, Kupfer und Zinn. Die Uran- und Eisenerzlagerstätten liegen allerdings verkehrstechnisch ungünstig.

These eins: Es locken der freie Fluss von Erdöl und Erdgas und damit Gewinne im Upstreamgeschäft.

Zunächst ein kurzer Blick auf die Geschichte des libyschen Erdöls. Mit der Erdölförderung wurde Ende der 50er Jahre in der Zeit des Königs al-Senussi begonnen. „Vor 1969 waren 42 ausländische Erdölgesellschaften in Libyen tätig. Allein 22 US-amerikanische Gesellschaften vereinigten 87,5 % der gesamten libyschen Erdölförderung. In zähen Verhandlungen gelang es der neuen libyschen Führung, durch Preiserhöhungen und Nationalisierungsmaßnahmen eine bestimmte Verfügungsgewalt über Libyens Erdölressourcen zu erlangen. Seit September 1973 müssen sämtliche in Libyen tätigen Erdölkonzerne dem Staat eine mindestens 51%ige Beteiligung einräumen.“ (Länder der Erde; Köln 1981, 720 Seiten, S. 383) Ende der 70er Jahre bereits kontrollierte die Nationale Erdölgesellschaft etwa zwei Drittel der Erdölproduktion. Seit 1980 liegt der Staatsanteil bei 80 %. (Hanspeter Mattes, Libyen in D. Nohlen, F. Nuscheler, Handbuch der Dritten Welt, Bonn 1993, Bd. 6, S. 228)

Erdöl und Erdgas trugen in den letzten Jahren zu etwa drei Vierteln zum BIP Libyens von rund 60 Mrd. Dollar bei. Libyen hat mit nachgewiesenen 44,3 Milliarden Barrel die größten Erdöllagerstätten Afrikas. Das sind 3,3 Prozent der Weltreserven. (BP Statistical Review of World Energy, June 2010, 50 Seiten, S.6) Damit liegt das Land auf Platz 8 in der Welt. Aber das Potenzial wird als noch wesentlich höher eingeschätzt, weil längst nicht die gesamte Fläche und das Offshoregebiet exploriert sind. Nur etwa ein Drittel der Fläche ist bisher konzessioniert. Bei einem gegenwärtigen Rohölpreis von 115 Dollar je Barrel errechnet sich für Libyen ein Wert für die nachgewiesenen Ölressourcen von über 5 Billionen Dollar. Das ist das 83-fache des BIP. Der Wert der Erdgasvorkommen wird auf 500 Mrd. Dollar geschätzt.

„Größter ausländischer Akteur für die Exploration und Förderung von Erdöl und Erdgas“ ist Eni. Die italienische Firma förderte vor dem Aufstand ca. ein Viertel der gesamten Ölmenge. Andere Ölfirmen in Libyen sind Total (Frankreich), Repsol (Spanien), BP (GB), ExxonMobil (USA), Statoil (Norwegen), Royal Dutch/Shell (GB/NL), Gazprom (Russland), RWE und Wintershall/BASF (Deutschland), CNPC (VR China), Waha Oil (ein Joint Venture von NOC/Libyen mit Conoco/Phillips/Marathon/Hess/USA) und OMV (Österreich). Lizenzen „erhielten auch ein algerisches, ein brasilianisches, ein kanadisches und ein indonesisches Unternehmen.“ (NZZ 17.1.06). Das sieht nach einer großen internationalen Beteiligung aus. Die Verträge mit den Konzernen sind jedoch nach wie vor so abgefasst, dass diese „bis zu 80 Prozent der Produktionserlöse […] an die staatliche libysche Ölgesellschaft NOC“ liefern müssen, berichtet das ZDF. „Die NOC kontrolliert die Geschäfte mit den fossilen Ressourcen des Wüstenlandes und ist an nahezu allen Fördervorhaben ausländischer Konzerne auf libyschem Boden beteiligt.“ (heute.de, 26.3.11) Am Beispiel Wintershall wird deutlich, wie hoch bis zuletzt die Steuern und Abgaben an den libyschen Staat waren. „Von den rund 1,3 Milliarden Euro EBIT (Gewinn vor Steuern und Zinsen, L.H.) blieb in Libyen aufgrund der hohen Steuern nur noch ein Nettoergebnis von 70 Millionen Euro übrig.“ (http://nachrichten.finanztreff.de, 6.5.11). Also magere 0,05 Prozent. Die Verträge sind unterschiedlich. Durchschnittlich belief sich zuletzt der Anteil an der Ölproduktion, den die Ölfirmen behalten können, auf 11 Prozent. (le monde diplomatique, 8.4.11, in Joachim Guilliard, Der Krieg gegen Libyen und die Rekolonalisierung Afrikas, 2.5.11, http://www.hintergrund,de) Westliche Firmen sprechen angesichts dessen auch von Knebelverträgen.

Der Vorsitzende des Übergangsrats, Abdul Dschalil, stellte laut FAZ in Aussicht, „dass Libyen, wenn es in Freiheit vereint sei, sich daran erinnern werde, wer im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ‚für uns‘ gestimmt habe.“ (FAZ 31.3.11) Sein Finanz- und Ölminister Tarhuni, wurde konkreter: „Ich glaube, dass die Länder, die wie Frankreich sehr früh auf unserer Seite standen, Vorteile haben werden.“ (Die Zeit, 6.4.11)

These zwei: Es lockt das libysche Süßwasserreservoir, das noch in staatlicher Hand ist.

Unter Libyens Wüste lagern gewaltige Süßwasserreserven unterhalb einer Tiefe von etwa 300 m, die bereits in den 50er Jahren bei Ölbohrungen entdeckt wurden. Der Nubische Aquifer, der eiszeitliches Wasser enthält, erstreckt sich über Ägypten, Libyen, Sudan und Tschad und ist das größte fossile Frischwasserreservoir der Welt. Inzwischen wird das Wasser aus vier Becken, die im Westen und im Osten Libyens liegen, gefördert. Über ein fast 4.000 km langes Rohrsystem werden die libyschen Küstenstädte mit Trinkwasser versorgt. 1984 startete unter Gaddafi dieses mindestens 30 Mrd. Dollar teure „Great Man Made River-Projekt“ (GMMRP). Durch die 4 m hohen Stahlbetonrohre werden täglich etwa 6,5 Mio. m³ Wasser transportiert. Die libyschen Wasservorräte betragen 37.500 km³, von denen etwa 10.000 bis 12.000 km³ abpumpbar sind. (www.zeit.de, Sahara-Wasser für Libyens Küste, 27.12.10) Um eine Vorstellung von der Dimension zu bekommen, wie groß die Menge des brauchbaren Frischwassers ist, hier ein Vergleich: Es würde einen Bassin der Fläche der Bundesrepublik Deutschland mit einer Tiefe von 33 m füllen. Bei einem Verkaufspreis von 2 Euro pro m³ Wasser, errechnet sich ein Marktwert von 24 Billionen Euro für das abpumpbare Wasser. Da die Förderkosten pro m³ lediglich bei 25 Cent liegen sollen, ergäbe sich eine immense Gewinnspanne. Die drei französischen Konzerne Veolia, Suez-Ondeo und SAUR beherrschen 40 Prozent des Weltwassermarktes. (Vgl. Kurswechsel, arte, 22.3.11) Die „drei Schwestern“ sind also besser aufgestellt als andere Firmen, wenn es um die Privatisierung und den Export des kostbaren Nasses käme. Nach Berechnungen des „UN-Zentrums für Umwelt und Entwicklung für die arabische Region und Europa“ (Cedare) in Kairo reichen die libyschen Wasservorräte bei gleich bleibendem Verbrauch noch 4.860 Jahre. (Zeit.de, 27.12.10) Geplant ist auch, das Wasser für die Wüstenbewässerung einzusetzen, um Libyen unabhängig von Lebensmitteleinfuhren zu machen und landwirtschaftliche Güter zu exportieren. (http://de.wikipedia.org) Übrigens: Der deutsche Siemens-Konzern rühmt sich auf seiner Website: „Siemens ist am Wasserversorgungsprojekt ‚Great man-made River‘, dem größten Projekt in Libyens Geschichte und dem größten Stromerzeugungs- und -verteilungsprojekt überhaupt, maßgeblich beteiligt.“ (www.siemens.com/about/de/weltweit/libyan_arab_jamahiriya_1343893.htm, gelesen am 7.6.11)

These drei: Gaddafis Bemühungen um die Einigung Afrikas beenden, bevor es zu spät ist.

Gaddafi war 1999 Initiator zur Bildung der Afrikanischen Union (AU), die dann 2002 aus der OAU hervorging. Libyen zahlt 15 Prozent des AU-Budgets und die Beiträge mehrerer kleiner afrikanischer Staaten. Insgesamt werden die libyschen Investitionen in Afrika auf 6 Mrd. Euro geschätzt. Die AU-Truppen in Somalia werden vor allem von Libyen finanziert. Mit 260 Millionen Euro ist Libyen einer der wichtigsten Anleger der Afrikanischen Entwicklungsbank. (Vgl. Erhard Crome, Der libysche Krieg des Westens, Berlin 2011, 76 Seiten, S. 18)

Aber die Pläne Gaddafis gehen weit darüber hinaus. Wenige Monate vor dem NATO-Angriff auf sein Land forderte er die arabischen und afrikanische Staaten auf, eine neue gemeinsame Währung einzuführen, um sich der Macht des Dollars und des Euros zu entziehen. Grundlage sollte der Gold-Dinar sein, der auf dem 144 Tonnen schweren libyschen Goldschatz beruht, der in der staatlichen Zentralbank lagert. Dieser Initiative waren bereits geheime diesbezügliche Konferenzen 1996 und 2000 vorausgegangen. Die meisten afrikanischen Länder unterstützten dieses Vorhaben. Sollte dies gelingen, wäre Frankreich der größte Verlierer, denn das bedeutete das Ende des CFA-Franc in den 14 frankophonen Ländern Afrikas, und damit auch das Ende der postkolonialen Kontrolle Frankreichs über diese. Drei Schlüsselprojekte hatte Gaddafi in Planung, die den Grundstein für eine afrikanische Föderation bilden sollten: Die Afrikanische Investmentbank im libyschen Sirte, die Afrikanische Zentralbank mit Sitz in Abuja, der Hauptstadt Nigerias, sowie die für 2011 geplante Einrichtung des Afrikanischen Währungsfonds in Jaunde (Kamerun), der über einen Kapitalstock von 42 Milliarden Dollar verfügen soll. (Peter Dale Scott, , The Asia-Pacific Journal, May 2, 2011) Der Afrikanische Währungsfonds (AWF) soll unabhängig machen vom IWF. Libyen will 10 Milliarden, Algerien gar 16 Milliarden Dollar für den AWF zur Verfügung stellen. (Michel Collon, Den Krieg in Libyen verstehen, http://www.hintergrund.de )

Die in den USA eingefrorenen 30 Mrd. Dollar waren für die Schlüsselprojekte vorgesehen. Würde es zu einer afrikanischen Gemeinschaftswährung kommen, würde die Rolle des Petrodollars schwinden. Beobachter weisen darauf hin, dass Saddam Hussein kurz vor dem Angriff auf den Irak angekündigt hatte, das Öl nicht mehr in Dollar sondern in Euro abzurechnen. Ist Gaddafi nun das zweite Opfer?

These vier: Die Rolle Chinas in Afrika zurückdrängen.

13 Prozent der libyschen Erdölexporte gingen in die VR China, was dort drei Prozent der Ölimporte ausmacht. Knapp 20 Milliarden Dollar hat die VR China in Libyen investiert. 36.000 Chinesen arbeiteten in Libyen und 75 chinesische Firmen waren dort aktiv. Sämtliche Chinesen wurden evakuiert. Sie waren vor allem im Eisenbahnbau, im Bewässerungsbau und im Telekommunikationsbau und in der Ölförderung aktiv. Ihre Rückkehr ist ungewiss. China verstärkt seine Zusammenarbeit mit Afrika. Betrug der Handelsumsatz mit afrikanischen Ländern 1995 noch 6 Milliarden, waren es 2010 bereits 130 Milliarden Dollar. Wie intensiv die Chinesen die Bande zu den afrikanischen Staaten bereits geknüpft haben, zeigte zuletzt die 4. Tagung des „Forum on China-Africa Cooperation“ in Addis Abbeba 2009, an dem fast 50 afrikanische Staatsoberhäupter teilnahmen. Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao gab bekannt, einen Niedrigzinskredit über 10 Mrd. Dollar an afrikanische Staaten zu vergeben.

These fünf. Westliches Interesse an militärischer Zusammenarbeit und Stützpunkten

Libyen ist einer von sechs Staaten des afrikanischen Kontinents, der zum African Command (AFRICOM) der USA keine militärischen Beziehungen unterhält und sich neben Libanon als einziger arabischer Mittelmeeranrainer nicht am NATO-Mittelmeerdialog beteiligt. USA und NATO übten vor dem Angriff keine Kontrollfunktion an den libyschen Küsten aus. Nach der Räumung des britischen und des US-amerikanischen Militärstützpunktes durch Gaddafi 1970 war diesen der Zutritt auf libysches Gebiet verwehrt. Das könnte sich unter einer neuen Herrschaft wieder ändern.

Summa Summarum sind das handfeste Interessen, die stimulierend auf einen Kriegseintritt wirken.

Vorteile für die Bevölkerung?

Welche Vorteile sich daraus für die libysche Bevölkerung ergeben, ist zweifelhaft. Allein durch den Krieg hat sich die Lage sehr verschlechtert. Das betrifft zunächst die Zahl der Flüchtlinge und Toten. Bis zum Eintritt der Westalliierten in den Krieg am 19.3. wird von „rund 270.000 ausländischen Arbeitern“ berichtet, die „seit Ausbruch des Bürgerkrieges über die Grenze nach Tunesien geflüchtet sind.“ (NZZ 18.3.11) Zwei Monate später gibt die UNO an, dass 800.000 aus Libyen geflohen und 200.000 im Land auf der Flucht seien. (NZZ 20.5.11) Das ist eine Vervierfachung der Flüchtlingszahl. Über die Zahl der Getöteten kursieren nur Schätzungen. Waren es Ende März rund 1.000 Tote (siehe oben), bezifferte der US-Botschafter in Libyen, Gene Cretz, Ende April, „die Zahl der Todesopfer in Libyen seit Beginn des Aufstands mit 10.000 bis 30.000.“ (FAZ 30.4.11). Die Berichterstatter des UN-Menschenrechtsrats gaben in der letzten Woche die Schätzung von 10.000 bis 15.000 Toten seit Mitte Februar an. (http://www.rp-online.de, 1.6.11).

Hinzu tritt die immer schwieriger werdende Versorgungslage der Bevölkerung.

Ob der hohe soziale Standard in Libyen nach dem Krieg in dem Maße aufrecht erhalten wird wie er unter Gaddafi war, ist auch zu bezweifeln. In seinem Beitrag über die Sozialstruktur und soziale Entwicklung Libyens schreibt der Mitarbeiter des Deutschen Orient-Instituts Hanspeter Mattes schon 1992: „Libyen ist das nordafrikanische Land mit dem geringsten Wohlstandsgefälle und, abgesehen von der weißen Minderheit in Südafrika, das Land mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika. Es nimmt hinter den Golfstaaten auf der UNDP-Skala des Human Development Index einen arabisch-afrikanischen Spitzenplatz ein. Die Einkommensverteilung wurde durch die seit 1969 ergriffenen sozialpolitischen Maßnahmen (Subventionierung der Grundnahrungsmittel, von Strom, Benzin und Gas, Wohnungsbauprogramme, Erhöhung der Mindestlöhne, seit 1973 Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmensgewinnen) nivelliert. […] Libyen ist mit Tunesien der Maghrebstaat mit der höchsten Einschulungsrate und das medizinisch am besten versorgte Land. Die Analphabetenrate konnte […) von 78 Prozent (1966) auf unter 40 Prozent (1990) gesenkt werden.“ (Mattes, S. 230 f). Die Zahl der Studenten verzehnfachte sich von 1970 bis 1990. Die Medikamentenabgabe erfolgt kostenlos. Mattes schreibt 1992 von einer „im internationalen Vergleich hervorragende(n) Sozialversicherung“. (Mattes, S. 232) Im Jahr 2008 lag das BIP pro Kopf Libyens beim Doppelten der seiner Nachbarn Algerien und Tunesien. Die Lebenserwartung liegt bei 74,5 Jahren, die Kindersterblichkeit bei 17 Toten pro 1000 Geburten und damit unter der von Saudi-Arabien mit 21. Die Analphabetenrate sank 2008 sogar auf 11,6 Prozent. Zum Vergleich Ägypten 33 und Algerien 27 Prozent. Beim HDI-Index rangiert Libyen an 53. Stelle noch vor Saudi-Arabien, Bulgarien und Russland. Libyen zählt damit noch zu den hochentwickelten Ländern. Der HDI-Index ist ein Indikator, der die Lebenserwartung, das Einkommen, die Kindersterblichkeit und den Bildungsgrad einbezieht. Die UNDP konstatiert in ihrem Bericht von 2008, dass Libyen „die extreme Armut praktisch beseitigt“ habe. (Vgl. Joachim Guilliard, Zerstörung eines Landes, Junge Welt 5.5.11)

Wenn es zum Sturz des Gaddafi-Regimes kommt, und der Neoliberalismus die Regie führt, werden die Staatseinnahmen geringer ausfallen und die sozialen Leistungen schrumpfen, denn den Ölmultis ist ein größerer Anteil an der Ölförderung versprochen worden. Ob dann noch der Schulbesuch, das Studium, der Krankenhausaufenthalt und Medikamente kostenlos sein werden, ist fraglich. Gleiches gilt für Subventionen von Grundnahrungsmitteln, Gas und Benzin. Werden junge Eheleute weiterhin 50.000 Dollar vom Staat erhalten, wie unter Gaddafi?

Bis zur Übernahme der Macht durch die Aufständischen ist es noch ein langer und blutiger Weg. Welche Entwicklung ist zu erwarten?

Die Gesellschaft der etwa 6,5 Millionen Libyer ist trotz der Urbanisierung von etwa 80 Prozent eine Stammesgesellschaft. Es wurden etwa 850 Stämme gezählt, deren Größe von wenigen Hundert Mitgliedern bis zu einer Million reichen.

In Libyens Osten, der Cyrenaika, leben nur etwa 30 Prozent der Libyer, in Tripolitanien mit der zwei Millionen Einwohner zählenden Agglomeration Tripolis sind es etwa zwei Drittel und in der südlichen Provinz Fezzan etwa 5 Prozent. Die Machtübernahme des Ostens würde die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit bedeuten. Die Rebellen sind nicht imstande, allein – ohne ihre NATO-Luftwaffe – dieses Ziel zu erreichen. Denn noch stehen die vier großen Stämme des Landes hinter Gaddafi, so dass eine Tötung des Revolutionsführers in naher Zukunft durch einen NATO-Angriff sehr wahrscheinlich zu einem Aufstand dieser Stämme führen würde. Deshalb ist diese Mord-Taktik als kontraproduktiv zu bewerten, um den Regime Change zu erreichen. Dies strategische Ziel bestimmt die NATO-Taktik, über lange Zeit relativ verhalten Angriffe zu fliegen und den Einsatz von Bodentruppen auszuschließen,

Kriegsaussichten

Der NATO ist es durch massive Angriffe insbesondere ihrer fürchterlichen Erdkampfflugzeuge A 10 und AC 130 seit Ende März gelungen, die Gaddafi-Truppen zurück zu drängen, so dass nahezu ein militärisches Patt entstanden ist. Bei fort dauernder politischer, militärischer, finanzieller und ökonomischer Isolierung des Regimes hat die NATO ihre Taktik eskaliert, gezielt Hochwertziele, wie Kommunikationsknotenpunkte, Kommandozentralen und Munitionslager, zu zerstören und durch das Bombardement von Funktionsgebäuden, das Regime unter permanenten Druck zu setzen. Der Einsatz von Kampfhelikoptern und „Bunker Bustern“ soll den Druck nun noch steigern. Der Krieg gegen Jugoslawen um das Kosovo 1999 bildet hierfür die Blaupause. Die Zerstörung militärischen Geräts wird unterdessen fortgesetzt. Die Rebellen werden mit Waffen, Ausrüstungen und Verpflegung über Tunesien, Ägypten und Misrata versorgt, sie werden militärisch angeleitet und die Angriffe zunehmend koordiniert.

Die NATO-Taktik zielt auf die Delegitimierung der Macht Gaddafis und das Aufweichen der Unterstützung durch die Stämme. Letztlich wird auf den Zusammenbruch des Regimes gesetzt, auf ein Wegbrechen seiner Stützen. Dieser Zermürbungskrieg im schnöden machtpolitischen und ökonomischen Interesse des Westens nimmt das Leiden der libyschen Zivilbevölkerung bewusst in Kauf. Noch mehr Tote, Verletzte und Flüchtlinge werden die Folge sein. Um diese Taktik zu durchkreuzen, hilft nur der Einsatz für eine Waffenruhe, um damit Verhandlungen über die Zukunft Libyens einzuleiten. Gaddafi ist zu einem Waffenstillstand bereit. Der Westen muss dazu gebracht werden, dem zuzustimmen. Lenkt die NATO ein, dann wird die Opposition folgen. Die NATO ist der stärkere Teil der Kriegskoalition.