Dokumentation / Pressebericht, in: Schwäbisches Tagblatt (24.3.2011)
Tübinger protestierten gegen Libyen-Krieg
von: Pressebericht / Schwäbisches Tagblatt | Veröffentlicht am: 24. März 2011
Rund 50 Menschen versammelten sich am Mittwochabend auf dem Tübinger Holzmarkt und forderten ein Ende der Luftangriffe auf Libyen.
Tübingen. „In Gedanken sind wir beim libyschen Volk, das von mehreren Seiten einen Kugelhagel erleidet“, sagte Michael Schwarz vom Friedensplenum / Antikriegsbündnis Tübingen. Zusammen mit Vertretern der Informationsstelle Militarisierung hatte er zu der Kundgebung aufgerufen.
„Wir sind für den Aufstand in Libyen, aber gegen einen Krieg“, sagte ein Sprecher der Informationsstelle Militarisierung, der nicht genannt werden will. „Die französischen Luftangriffe retten nicht, sondern töten Menschen.“ Ein sofortiger Waffenstillstand sei nötig. Er kritisierte, dass die westlichen Staaten jahrzehntelang die Diktatoren in der arabischen Welt mit Waffenlieferungen unterstützt haben. „Das muss augenblicklich aufhören.“
Es sei gut, dass Deutschland keinen weiteren Krieg anfangen wolle, sagte der Sprecher. „Daran muss weiter festgehalten werden.“ Schamlos sei es hingegen, dass die deutsche Regierung das Nein in Libyen dazu nutze, den Afghanistaneinsatz auszuweiten. Der Sprecher forderte von der deutschen Bundesregierung, humanitäre Hilfe in Libyen zu leisten und Flüchtlinge aufzunehmen. „Außerdem müssen wir den Ölhandel mit Libyen unterbinden.“
Zu einer weiteren Protestkundgebung und Mahnwache ruft die Gesellschaft Kultur des Friedens auf: am morgigen Freitag, 25. März, um 16.30 Uhr vor dem Africom-Gebäude in Stuttgart-Möhringen.
Tübinger protestierten gegen Libyen-Krieg
Pressebericht in: Schwäbisches Tagblatt (24.3.2011)
Im folgenden dokumentieren den Text der Rede (nicht im Schwäbischen Tagblatt):
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
Ende Dezember passierte etwas großartiges. Der verzweifelte Freitod eines jungen Straßenhändlers in einer tunesischen Kleinstadt entfesselte die Wut einer ganzen Generation, einer ganzen Bevölkerung gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen ein Leben ohne Würde und Perspektiven. Der Aufstand begann in der Provinz, durch junge Männer, die sich mit dem Schicksal Mohamed Bouazizis identifizieren konnten. Ihm schlossen sich die Frauen an, die bürgerlichen Schichten, die lange Jahre unterdrückte Opposition. Grund dafür war u.a. die hemmungslose Repression gegen die Aufständischen auch durch die tunesische Polizei. Letztlich musste Ben Ali nach 23 Jahren Herrschaft fliehen. Doch der Aufstand für Würde und bessere Lebensbedingungen ging und geht weiter, die Versuche des alten Regimes, seine Vertreter in der neuen Regierung zu installieren, sind mit mächtigem Druck von der Straße konfrontiert.
Der Sturz Ben Alis gab der Protestwelle neuen Schub. Plötzlich schien alles möglich. Die Menschen fassten Mut, organisierten sich, gingen auf die Straßen und überschritten Grenzen. Sie ließen sich nicht spalten und nicht provozieren. Es entstand etwas völlig Neues, wie es nur in solchen Situationen entstehen kann. Die Grundfesten der Herrschaft wurden erschüttert, das Patriarchat, die religiöse Spaltung, das politische und wirtschaftliche System. Als am 11.2.2011 Mubaraks Rücktritt verkündet wurde, gab es in vielen Städten der arabischen Welt spontane Freudenfeste, Hupkonzerte, es wurden Feuerwerke gezündet. Es schien, als würde eine neue Gesellschaft entstehen. Ganz klar: Wir solidarisieren uns mit diesen Aufständen und wir dürfen die Toten und Verletzten nicht vergessen, die sie auch in Tunesien und Ägypten zu Hunderten gefordert haben.
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
erinnern wir uns an jene Tage Anfang Februar. Die westliche Politik war restlos blamiert und ratlos. Überall wurde thematisiert, dass sie jahrzehntelang Diktatoren unterstützt, ihnen Geld, Waffen, Wasserwerfer und Tränengas geschickt hatte. Die ersten Flüchtlinge, die wieder auf Lampedusa ankamen und steigende Ölpreise, machten auch deutlich, wozu diese Unterstützung gedacht war: Um ihre eigene Bevölkerung zu kontrollieren und ihrer Reichtümer zu berauben. Verschämt wurde dann auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine gemeinsame Sprachregelung gefunden: Man unterstütze grundsätzlich Demokratisierung, es müsse jedoch ein Gleichgewicht gefunden werden zu den eigenen „berechtigten Sicherheitsinteressen“. Deshalb dürfe man nichts überstürzen, müsse man „den Übergang gestalten“ und „den Wandel moderieren“. Selbst die bürgerliche Presse nannte dies zurecht eine Schande, da sich Deutschland und Europa mit ihrer Unterstützung für die autoritären Regime diskreditiert hatte – kurzfristig allerdings nur, sehr kurzfristig, wie sich bald herausstellen sollte.
Doch die westliche Politik war noch mit einem ganz anderen Problem konfrontiert, mit einem neuen Akteur auf der Weltbühne, einer mutigen und nach Freiheit ringenden Bevölkerung, die eines der mächtigsten Regime Afrikas und des Nahen Ostens zu Fall bringen konnte, die ansteckend wirkte, Proteste in vielen afrikanischen und arabischen Ländern inspirierte und womöglich tatsächlich eine neue Welle der Entkolonialisierung durch die Beseitigung vom Westen unterstützter Despoten hätte auslösen können. Eine Bewegung, die keine Regierung hatte, kaum Ansprechpartner, die man korrumpieren könnte. Eine Bewegung, die keiner Staatsräson folgte, kein Interesse an einer Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der globalen Bewegungsfreiheit hatte, eine Bewegung, die sich nicht durch Anerkennung, Geld und Waffenlieferungen kontrollieren ließ.
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
jetzt sieht plötzlich alles wieder ganz anders aus. Auch in Libyen gab es Proteste, die mit nicht hinnehmbarer Gewalt niedergeschlagen wurden. Doch hier wurden die Proteste zum Anlass für einen Putsch, einen Bürgerkrieg, genommen. Teile des Gaddafi-Regimes und Militärs schlossen sich mit alten Stammeseliten zusammen, bildeten einen „Nationalen Widerstandsrat“, stellten militärische Verbände auf und eskalierten den Protest zu einem Bürgerkrieg. Sie nahmen Städte ein, besetzten Ölhäfen und Raffinerien und bemühten sich um internationale militärische Unterstützung. Politische Forderungen sind von ihnen jedoch kaum bekannt. Dann geschah etwas seltsames: Während Demonstrationen gegen andere westliche Verbündete in Algerien, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien niedergeschossen oder anderweitig mit Gewalt aufgelöst wurden, forderte die Weltöffentlichkeit ein militärisches Vorgehen gegen Gaddafi. Sie forderte dies von denjenigen Regierungen, die in den vergangenen Jahren an Gaddafi ebenso wie an alle anderen Despoten in der Region Waffenlieferungen und umfassende Kooperationsverträge geschlossen hatten. Besonders hervorgetan haben sich unter ihnen Italien und Frankreich. Italien erlaubte es dem Freund Berlusconis, Anteile am wichtigsten italienischen Rüstungsunternehmen, Finmeccanica, zu erwerben und lieferte ihm Kampfflugzeuge. Auch Frankreich verpflichtet sich zur Lieferung von Kampfflugzeugen, Panzerabwehrgeschossen und stellte die Lieferung eines Atomreaktors in Aussicht. Heute wird Gaddafi einhellig als „Irrer“ und als „Schlächter“ portraitiert. Da fragt man sich doch, wer näher am Wahnsinn ist, Gaddafi, oder diejenigen, die ihm Waffen und Nukleartechnik liefern im Gegenzug dafür, dass er Migranten in Wüstenlagern interniert.
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
niemand von diesen Personen ist irre, das Spiel ist irrsinnig und dieses Spiel heißt Geopolitik. Bei diesem Spiel geht es um die militärische Durchsetzung von Interessen. Mit Protestbewegungen lässt sich dieses Spiel nicht spielen, wohl aber mit Militärjuntas, wie sie sich gegenwärtig etwa in Ägypten etablieren und mit Bürgerkriegsparteien, wie dem Nationalen Übergangsrat in Libyen. Bürgerkriegsparteien spielten schon immer eine wichtige Rolle in diesem Spiel und sie spielen eine immer wichtigere Rolle. Denn gerade die so genannten westlichen Demokratien versuchen, in Kriegen eigene Verluste zu vermeiden. Ihre technologische Überlegenheit nutzt ihnen am Boden wenig. Deshalb werden bei jedem dieser Kriege, ob in Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Somalia, Bürgerkriegsparteien am Boden unterstützt, während die westlichen Demokratien Waffen liefern, Kriegsschiffe bereithalten und Luftschläge durchführen. Genau dies geschieht gegenwärtig in Libyen: Es werden Städte, militärische Einrichtungen und Nachschubwege für Gaddafis Truppen bombardiert und gesicherte Räume für die bewaffneten Aufständischen geschaffen, in der Hoffnung, dass diese – wenn auch verlustreich – vorrücken können. Die Zahl der getöteten Aufständischen gilt nicht als Verlust auf der eigenen Seite, sondern als wirksame Waffe im Propagandakrieg. Je höher sie sind, desto größer die Legitimation für neue Luftschläge. Das ist menschenverachtend und muss auf der Stelle aufhören!
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
all dies geschieht unter einem so genannten „humanitären Mandat“. Alle Welt, auch viele Linke, haben ein Flugverbot gefordert. Viele erkennen jetzt vielleicht, dass sie damit einen Krieg gefordert haben. Denn der Schutz von Menschenleben spielt keine Rolle im mörderischen Spiel der Geopolitik. Mit Luftangriffen und Marschflugkörpern mit Mehrfachsprengköpfen lassen sich keine Menschenleben retten, sie sind dazu da, sie zu zerstören. Der Schutz von Menschenleben gehört nicht zur Aufgabe des Militärs, er ist kein Anliegen der Nato und ihrer Mitgliedsstaaten, die zuvor diesen Regimen Waffen geliefert und ihre Polizeien bei zur Niederschlagung von Demonstrationen und der Kontrolle des Internets ausgebildet und ausgerüstet haben. Deshalb waren im Vorfeld auch viele Warnungen aus dem Militär zu hören. So ungern ich das sage, bin ich der Bundesregierung in diesem Falle dankbar, dass sie auf ihre Militärs gehört hat und sich nicht in einen neuen Krieg gestürzt hat. Dies muss jetzt aber auch konsequent weiterverfolgt werden: Es darf auch keine indirekt Unterstützung von deutschem Boden aus geben durch die Nutzung hiesiger Stützpunkte, Überflugsrechte oder die Bereitstellung von Kommandostrukturen. Wie alle anderen militärischen Aktivitäten der USA in Afrika wird auch deren Krieg in Libyen vom African Command in Stuttgart-Möhringen aus koordiniert. Dort findet am 25.3.2011 um 16:30 eine Protestkundgebung statt. Schamlos ist es von der Bundesregierung, diesen Krieg und die öffentliche Zustimmung auszunutzen, um eine Erweiterung des Afghanistan-Mandates durchzupeitschen. Auch dieser Krieg muss beendet werden, auch in diesem Krieg sterben v.a. Zivilisten und eilig angeheuerte und schlecht ausgerüstete so genannte „afghanische Sicherheitskräfte“.
Liebe Leute, liebe Freundinnen und Freunde,
Die Folgen dieses Krieges in Libyen und des hinter ihm stehenden Mandates werden weitreichend sein. Auch die Militärs in anderen Ländern könnten ihre Stunde gekommen sehen und die Proteste nutzen, um sie in der Hoffnung auf ausländische Unterstützung in einen Bürgerkrieg umkippen zu lassen. Entsprechende Tendenzen sind in Jemen und Bahrain erkennbar. Das Mandat erlaubt den äußeren Eingriff in einen Bürgerkrieg, der nach der UN-Charta aus guten Gründen verboten ist. Dieses Mandat wird von den Anhängern der so genannten „Verantwortung zum Schutz“ bejubelt. Demnach sei ein militärischer Eingriff gerechtfertigt, wenn in einem Land schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Da solche Menschenrechtsverletzungen aber nahezu überall stattfinden, werden somit Interventionen überall dort und durch die möglich, wo entsprechende Interessen bestehen und durchsetzbar erscheinen. So auch in Libyen. Die Führung dieses Einsatzes hat Frankreich übernommen, das durch seine Anerkennung des Nationalen Übergangsrates eindeutig Bürgerkriegspartei ist und in der ganzen Region mit einer kolonialistischen Außenpolitik militärisch seine Interessen verfolgt. Das Mandat erscheint wie maßgeschneidert für französische Interessen – es wurde ja auch durch Frankreich entworfen – da es auch Interventionen in den Nachbarstaaten ermöglicht. In diesen Nachbarstaaten unterhält Frankreich bereits seit der Kolonialzeit Militärbasen und interveniert es regelmäßig in Bürgerkriegssituationen, um die Interessen französischer Firmen zu unterstützen. Ein stabiles Libyen war dabei oft hinderlich, ein geteiltes und besetztes Land oder ein permanenter Bürgerkrieg in Libyen bieten hierfür eine bessere Ausgangsbasis. Westafrika und der Sahel werden schon länger als Hinterhof Europas gehandelt, erst am Wochenende haben die EU-Außenminister die neue EU-Sahel-Strategie diskutiert. Diese ist mittlerweile obsolet, denn die USA, Frankreich und Großbritannien haben sich mit dem Angriff auf Libyen die militärische Oberhoheit im Sahel in kolonialistischer Manier angeeignet. Diesmal mit UN-Plazet.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir lehnen eine solche kolonialistische Politik ab. Wir fordern das augenblickliche Ende der Luftschläge gegen Libyen. Wir sind empört, dass weder von den NATO-Staaten noch von den Aufständischen auf die Angebote eines Waffenstillstands eingegangen wurden und die von Libyen beantragte Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates abgelehnt wurde. Wir sind empört, dass die Position der Afrikanischen Union zur Flugverbotszone übergangen wurde zugunsten einer Resolution der Arabischen Liga, der nichteinmal die Hälfte der Mitgliedsstaaten zugestimmt haben. Frankreich, Großbritannien und die NATO haben jegliche Glaubwürdigkeit verspielt, verfolgen eigene Interessen und heizen den Bürgerkrieg weiter an. Wir fordern die Anhänger Gaddafis ebenso auf wie die Aufständischen, die Waffen niederzulegen und unter Vermittlung der arabischen Liga und der Afrikanischen Union zu verhandeln. Wir fordern die westliche Staatengemeinschaft und insbesondere die Bundesregierung auf, sich auf unparteiische humanitäre Hilfe und die Aufnahme von Flüchtlingen zu beschränken. Wir sind für den Aufstand und gegen den Krieg. Dankeschön.