IMI-Standpunkt 2010/051
Das Märchen vom Abzug aus Afghanistan
von: Claudia Haydt | Veröffentlicht am: 22. November 2010
Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon stand auch die Zukunft des NATO-Militäreinsatzes in Afghanistan auf der Tagesordnung. Als zentrale Botschaft griffen die Medien die Nachricht vom „Abzug“ bis zum Jahreswechsel 2014/15 auf. Wichtig ist jedoch, dass die NATO lediglich den Abzug von „Kampftruppen“ angekündigt hat, nicht den Abzug aller Truppen. Dies bestätigt auch der US-Außenminister Robert Gates gegenüber der Nachrichtenagentur afp, die am 20.11.2010 meldete: „Internationale Einheiten sollen aber über das Datum hinaus in Afghanistan präsent bleiben.“ Was die NATO bis Ende 2014 schaffen will, ist ein „Abzugsmodell“ nach dem Vorbild Iraks. Im Irak halten sich trotz vorgeblichem Truppenabzug immer noch 50.000 US-Truppen und deutlich mehr als 100.000 Söldner bzw. private Sicherheitsdienstleister im Land auf.
Auch US-Generalstabschef Mike Mullen beruft sich gegenüber afp (21.11.2010) auf den Irak, wo auch heute noch Soldaten „zur Unterstützung“ im Einsatz seien. Den Rückzug auf solche „Unterstützungsfunktionen“ erhofft sich die NATO auch in Afghanistan ab 2015. Doch allein um diese neue Form der Besatzung umsetzen zu können muss die NATO Aufgaben bewerkstelligen, die keineswegs realistisch sind. Die NATO muss dazu zahlreiche weitere afghanische Soldaten und Polizisten ausbilden, geplant ist eine Zielgröße von 400.000 so genannter Sicherheitskräfte. Ob dies trotz nach wie vor großer Desertionsrate von 50 bis 70 Prozent möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Zudem plant die NATO in den nächsten zwei Jahren zwar einerseits den Rückzug aus „stabilen Regionen“, aber andererseits eine massive Zunahme der Kampfhandlungen in umstrittenen Regionen. Für das deutsche Regionalkommando Nord bedeutet dies, dass die Bundeswehr sich sukzessive aus dem PRT Feyzabad zurückziehen wird. Die Region war nie in der Hand der Taliban, bis 2001 war es dort relativ ruhig und durch die Präsenz der Bundeswehr (seit 2004) ist die Lage auch in den letzten Jahren nicht sehr viel weiter destabilisiert worden. Hier kann die Bundeswehr ohne größere Probleme abziehen und weiß die Region dann in der Hand von Verbündeten. Ganz anders in der Region Kunduz, wo dann mit den zusätzlichen Soldaten aus dem PRT Feyzabad versucht werden wird, weitere Stellungen von Aufständischen einzunehmen und die Region unter Kontrolle zu bekommen. Die Hoffnung der NATO ist es, so einen Dominoeffekt zu erzielen und sich bei den Kampfhandlungen mit mehr Truppen auf weniger Regionen konzentrieren zu können. Was hier für die nächsten zwei Jahre geplant wird, ist also nicht mehr und nicht weniger als eine Neuordnung der Front und eine Intensivierung der Kampfhandlungen. Ob die NATO auf diesem Wege bis Ende 2014 wirklich in allen Provinzen befreundete „Sicherheitskräfte“ dauerhaft installieren kann, ist ebenfalls unsicher. Es ist also gut möglich, dass auch der Abzug der expliziten Kampftruppen noch über das Jahr 2014 hinaus auf sich warten lässt. Sicher ist jedoch, dass die NATO in Lissabon eine aggressive und blutige Strategie beschlossen hat, mit der sie den Bürgerkrieg in Afghanistan weiter vorantreibt und schlussendlich lediglich die kriegerische „Drecksarbeit“ an Afghanen delegierte, die dann in schlechter alter Kolonialtradition beim Bekämpfen ihrer Landsleute von den verbleibenden NATO-Truppen weiter beraten und unterstützt werden.