IMI-Analyse 2009/022
„Highlights“ des NATO-Gipfels
Effektivierung von Krieg und Besatzung und Kollisionskurs mit Russland
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 8. April 2009
Angesichts der wichtigen Beschäftigung mit der französischen und deutschen Polizeistrategie, die offensichtlich auf eine bewusste Eskalation der Situation hinarbeitete, um die Proteste gegen den NATO-Gipfel in Straßburg zu zerschlagen, droht die inhaltliche Aufarbeitung des Gipfels ein wenig unterzugehen. Deshalb hier eine erste vorläufige Analyse der Kernelemente.
Neue Macht- und Arbeitsteilung
Eine wichtige Rolle spielte auf dem Gipfel der Versuch, eine neue transatlantische Macht – und Arbeitsteilung auf den Weg zu bringen. Die machtpolitisch geschwächten Vereinigten Staaten sind bestrebt, die EU stärker an den Kosten für die (militärische) Aufrechterhaltung der bestehenden Weltordnung zu beteiligen. Dafür bieten sie den EU-Staaten umgekehrt aber an, ihre Interessen künftig in deutlich größerem Maße als bislang zu berücksichtigen.
Dieses Angebot wurde bereits Anfang Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterbreitet und nun zum Auftakt des NATO-Gipfels von Präsident Barack Obama nochmals wiederholt: „Wir wollen nicht herablassend auf Europa schauen“, so Obama. „Wir wollen nicht der Schutzpatron Europas sein, wir wollen der Partner Europas sein.“ Gleichzeitig betonte er, die Militarisierung der Europäischen Union, die von Washington lange Zeit als rivalisierendes Projekt abgelehnt wurde, sei aus Sicht Washingtons im Sinne der neuen Lastenteilung begrüßenswert: „Je mehr militärische Fähigkeiten wir sehen, desto glücklicher werden wir darüber sein, desto effektiver werden wir unsere Fähigkeiten koordinieren können.“ (Spiegel Online, 3.4.09) Dementsprechend fordert auch das Abschlussdokument des Straßburg-Gipfels eine weitere Militarisierung der Europäischen Union: „Die NATO erkennt die Bedeutung stärkerer und effektiverer EU-Verteidigungskapazitäten an.“ (Ziffer 20)
NATO-Strategie 2010
Eine der wohl wichtigsten Entscheidungen des Gipfels bestand darin, nun auch offiziell die Erarbeitung eines neuen Strategischen Konzeptes in Auftrag zu geben. Es soll „die längerfristige Rolle der NATO im Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhunderts ausarbeiten“, heißt es in der Abschlusserklärung (Ziffer 1). Ziel ist es, das Konzept auf dem nächsten NATO-Gipfel zu verabschieden.
Kernelement der Strategie soll der Comprehensive Approach sein. Der Comprehensive Approach zielt darauf ab, „Stabilisierungseinsätze“, also Besatzungen wie im Kosovo und in Afghanistan, künftig „erfolgreicher“ durchführen zu können. Hierfür sollen zivile Akteure eingebunden werden und vor Ort Hand in Hand mit dem Militär zusammenarbeiten, um so für ein reibungsloses Funktionieren der Besatzung zu sorgen.
Durch diese Zivil-militärische Zusammenarbeit werden zivile Akteure jedoch systematisch zu integralen Bestandteilen westlicher Militäreinsätze degradiert und damit für große Teile der Bevölkerung vor Ort zu Gegnern. Zivile Akteure werden so für die Durchsetzung strategischer, wirtschaftlicher und politischer Zielen instrumentalisiert und die Gewährleistung humanitärer Hilfe hierdurch erheblich erschwert, teils gar verunmöglicht. Aus diesem Grund lehnen Entwicklungsorganisationen diese Zivil-militärische Zusammenarbeit ab, erst vor kurzem etwa der Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen (VENRO).[1] Dennoch wurde auf dem NATO-Gipfel beschlossen, mit der Implementierung eines – weiterhin geheimen – Aktionsplans zur Umsetzung des Comprehensive Approaches mit Nachdruck fortzufahren und die Ergebnisse im Dezember 2009 zu evaluieren (Abschlussdokument: Ziffer 18).
Prototypisch wird der Comprehensive Approach erstmals in großem Stil beim NATO-Einsatz in Afghanistan erprobt. VENRO befürchtet nun, dass die Zivil-militärische Zusammenarbeit künftig von Afghanistan „auf andere Konflikt- beziehungsweise Post-Konfliktszenarien übertragen wird.“[2] Dies scheint tatsächlich genau der Plan zu sein. Die NATO benötige eine grundsätzlich neue Strategie, so Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel. „Das hört sich einfach an, ist aber vergleichsweise revolutionär“, sagte Merkel und forderte, dass „die Nato mit ihren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden und kohärenten Ansatzes“ sein müsse, zu dem auch eine Vielfalt an zivilen Aktionen gehöre. „Dieses Grundverständnis, das wir jetzt in Afghanistan entwickelt haben, wird aber in Zukunft nicht der Einzelfall sein, sondern muss zum strategischen Allgemeingut der Nato werden.“ (süddeutsche.de, 27.3.09)
Ein zweiter wichtiger Aspekt, der höchstwahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Überarbeitung der NATO-Strategie spielen wird, ist das Bestreben, die NATO künftig „pro-aktiver“, also schneller und flexibler einsatzfähig zu machen, wie es Obamas Sicherheitsberater James Jones nannte. Hierfür schlugen die derzeit wichtigsten Papiere zur Erneuerung des Strategischen Konzepts, eines von fünf ehemaligen hohen NATO-Generälen und eines, erstellt von vier der wichtigsten US-Denkfabriken, folgendes Maßnahmenbündel vor: Abschaffung des Konsensprinzips (zumindest auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rats); Keine Mitspracherechte an NATO-Kriegen für die Mitgliedsländer, die sich nicht beteiligen; Übernahme der Einsatzkosten durch sämtliche NATO-Staaten und nicht nur diejenigen, die sich an einem Krieg beteiligen.[3]
Sollte dieser Umbau der Entscheidungsstrukturen tatsächlich umgesetzt werden, würden die Machtverhältnisse innerhalb der NATO drastisch zugunsten der großen Staaten verschoben und die Kriegsführungsfähigkeit des Bündnisses erheblich gesteigert. Ein versteckter Hinweis, dass an eine Überabreitung der Strukturen und Entscheidungsprozesse gedacht wird, findet sich in einem weiteren auf dem Gipfel verabschiedeten Dokument: „Wir müssen außerdem die NATO-Strukturen reformieren, um eine schlankere und kosteneffizientere Organisation zu schaffen. Wir werden die Fähigkeiten der NATO vergrößern, dort wo unsere Interessen betroffen sind, eine wichtige Rolle im Krisenmanagement und der Konfliktlösung zu spielen.“[4]
Besatzung konkret: Afghanistan, Irak
Des Weiteren wurde Obamas neue Afghanistan-Strategie von den Verbündeten vorbehaltlos begrüßt: Sie beinhaltet mehr Hilfe, vor allem aber eine Vergrößerung der Truppenanzahl, verbunden mit einer Eskalation der Kampfhandlungen – möglicherweise bis nach Pakistan: „Die Allianz stellt sich geschlossen hinter Obamas neue Afghanistan-Strategie.“ (süddeutsche.de, 4.4.09) 62.000 Truppen befinden sich gegenwärtig am Hindukusch, die USA haben bereits zusätzlich 21.000 beschlossen und nun hat die NATO nachgezogen und will ebenfalls weitere 5.000 stellen.
Auch was den Irak anbelangt findet sich ein viel sagender Hinweis. Angesichts der Tatsache, dass auch die neue US-Regierung die Besatzung des Landes zumindest mittelfristig aufrecht erhalten will, hat die NATO bereits im Dezember 2008 beschlossen, dass die „NATO Training Mission in Iraq“ künftig auch innerhalb des Landes agieren soll. Ihre Aufgaben umfassen Hilfe bei der „Absicherung der Grenzen“, einer „Verteidigungsreform“ und dem Aufbau von „Verteidigungsinstitutionen“.[5]
Dieses Engagement, mit dem man den USA direkt bei der Besatzung unter die Arme greift, soll nun offenbar verstetigt werden. Im Abschlussdokument heißt es hierzu: „Wir erneuern unser Angebot an die irakische Regierung für einen Rahmen zur strukturierten Kooperation als Basis für eine langfristige Zusammenarbeit und begrüßen die diesbezüglich bereits erzielten Fortschritte.“ (Ziffer 11; Hervorhebung vom Autor) Nach den schweren Konflikten um den Irak-Krieg sind dies Entscheidungen mit erheblicher Symbolwirkung – sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber dem Rest der Welt, sie setzen ein „klares Zeichen für einen Neuanfang.“[6]
Kollisionskurs mit Russland
Trotz der begrüßenswerten Absichtserklärung der US-Regierung, den nuklearen Abrüstungsprozess wieder in Gang zu bringen, wurde ansonsten gegenüber Russland ein harter Ton angeschlagen. „Die ohne die Zustimmung der Regierung erfolgte russische Militärpräsenz in den georgischen Regionen Abchasien und Süd-Osstien ist besonders Besorgnis erregend. Darüber hinaus stellen Russlands Handlungen in Georgien seine Bereitschaft zur Einhaltung der fundamentalen OSZE-Prinzipien in Frage, auf der Sicherheit und Stabilität in Europa aufbauen.“ (Abschlussdokument: Ziffer 57)
In diesem Zusammenhang dürfte Moskau besondere Sorge bereiten, dass weiterhin auf die mehrfach als „rote Linie“ bezeichnete NATO-Aufnahme Georgiens und der Ukraine beharrt wird. Im Abschlussdokument heißt es hierzu: „Auf dem Gipfel in Bukarest haben wir uns darauf verständigt, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden und wir bestätigen nochmals alle Elemente dieser Entscheidung.“ (Ziffer 29) Gleichzeitig wird im Abschlussdokument auf die Bedeutung der NATO-Ukraine und NATO-Georgien-Kommissionen verwiesen, die zur Jahreswende mit dem Ziel eingesetzt wurden, die Heranführung beider Länder an das Bündnis zu beschleunigen.
Auch in der Frage der NATO-Raketenabwehr, die zusätzlich zu den US-Komponenten aufgebaut werden soll, hält man am bisherigen Plan trotz scharfer russischer Kritik fest. Zwar wird festgestellt, dass „zusätzliche Arbeit erforderlich ist“ (Ziffer 51) – ein Verweis auf die gravierenden technischen Probleme -, gleichzeitig wird aber der Ständige NATO-Rat damit beauftragt, mit der Ausplanungen für ein Abwehschild fortzufahren, der nicht nur im Ausland stationierte Truppen, sondern auch NATO-Territorium abdeckt und so russische Raketen neutralisieren könnte (Ziffer 53).
Darüber hinaus finden sich in der Obama-Regierung zahlreiche Befürworter einer „Globalen NATO“, also dem Bestreben, das Bündnis um „befreundete“ Demokratien außerhalb des euro-atlantischen Raums zu erweitern. Damit will man eine Konkurrenzorganisation zur UNO schaffen, um das dortige Vetorecht Russlands und Chinas gegenüber Militäreinsätzen auszuhebeln. Mit Bestürzung reagiert man in Moskau auf derartige Pläne, aus der NATO eine Art Alternativ-UNO mit Lizenz zur militärischen Gewaltanwendung zu machen. So äußerte sich der russische Nato-Botschafter Dmitri Rogosin kurz vor dem NATO-Gipfel: „Heute bekommen wir weitere Hinweise darauf, dass die Nato ihre Rolle globalisieren will. Faktisch geht es um die künftige Möglichkeit, Länder in die Allianz aufzunehmen, die mit dem euroatlantischen Raum nichts zu tun haben – wie etwa Australien, Japan, Neuseeland und Indien.“ Vor diesem Hintergrund wolle die Nato anscheinend eine „gewisse Demokratien-Liga“ gründen. Doch der Versuch, den UN-Sicherheitsrat durch solch ein Gremium zu ersetzen, bedeute eine „ernsthafte Herausforderung an die meisten Länder der Welt.“ (Ria Novosti, 13.3.09)
Dennoch wurde auf dem Gipfel beschlossen, mit Anders Fogh Rasmussen einen erklärten Befürworter der „Globalen NATO“ zum nächsten Generalsekretär des Bündnisses zu ernennen.[7] Auch im Abschlussdokument des Gipfels findet sich der Verweis, künftig noch intensiver mit Nicht-NATO-Demokratien zusammenarbeiten zu wollen, explizit genannt werden Australien, Japan, Neu-Seeland, Südkorea mit Blick auf deren Beiträge in Afghanistan (Ziffer 40).
Fazit
Auf dem NATO-Gipfel wurde der Eskalationskurs des Bündnisses konsequent fortgesetzt. Sämtliche Entscheidungen deuten auf eine Intensivierung des Kriegskurses hin. Allein schon deshalb wird man sich auch in Zukunft weiter kritisch mit der NATO auseinandersetzen müssen.
Anmerkungen:
[1] Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009.
[2] Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009, S. 2.
[3] Vgl. The Washington NATO Project: Alliance Reborn: An Atlantic Compact for the 21st Century, Februar 2009; Naumann, Klaus/Shalikashvili, John/Lord Inge/Lanxade, Jacques/Breemen, Henk van den: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, URL: http://tinyurl.com/5bujl9; An interview with General James L. Jones, NATO Defense College, Research Paper, Januar 2008.
[4] Declaration on Alliance Security, 3.4.2009, URL: http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_52838.htm
[5] Final communiqué of The Meeting of the North Atlantic Council at the level of Foreign Ministers, NATO Presseerklärung, 3.12.2008
[6] Riecke, Henning: Mehr Einsatz in Afghanistan. Deutschland kann Obama konkrete Kooperationsangebote machen, in: Internationale Politik, Januar 2009, S. 39-44.
[7] Rasmussen, Anders Fogh, Address to the US Chamber of Commerce, 28.02.2008.