[0294] Studie zu Georgien / China in Afrika / Standpunkt zu Afghanistan

von: 9. September 2008

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Online-Zeitschrift „IMI-List“
Nummer 0294 ………. 12. Jahrgang …….. ISSN 1611-2563
Hrsg.:…… Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
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Archiv: ……. https://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1) der Hinweis auf eine neue Studie zum Krieg in Georgien;

2) der Hinweis auf eine Studie zur chinesischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gegenüber Afrika;

3) ein IMI Standpunkt zum Afghanistankrieg und der deutschen Beteiligung daran anlässlich der Demonstrationen am 20 September.

1.) Neue IMI-Studie zum Konflikt in Georgien

IMI-Studie 2008/010
„Alles wieder offen“: Georgienkrieg und imperiale Geopolitik
http://imi-online.de/2008.php3?id=1819
https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf
8.9.2008, Martin Hantke

Mit dem Angriff georgischer Truppen im Südkaukasus auf die südossetische Hauptstadt sowie auf russische „peacekeeping“-Truppen haben die Konflikte in der Region eine grundlegend neue Qualität angenommen, sie sind der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Ein Kalter Krieg zwischen Russland und dem Westen ist seit dem 8. August Wirklichkeit geworden.

Die neue IMI-Studie „Georgienkrieg und imperiale Geopolitik“ analysiert die machtpolitischen Interessen der jeweiligen Akteure, insbesondere auch Deutschlands und der Europäischen Union im Kontext dieses neuen Kalten Krieges.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Georgien: Geopolitisches Filetstück
3. Deutschland und die Europäische Union: (un)kontrollierte Eskalation
4. Deutsche und Europäische (Militär-)Hilfe für Georgien
5. US-Militärausbilder und Kriegsgerät
6. Westliches Plazet für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg?
7. Der georgische Angriff und die russische Gegenoffensive
8. Kontroverser Waffenstillstand
9. Perspektive Kalter Krieg

https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf

2.) IMI-Studie zu China in Afrika

In Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Informationsstelle Militarisierung eine umfangreiche Studie zum wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Engagement Chinas in Afrika erstellt:

IMI-Studie 2008/09
China in Afrika – oder: Zu einem anstehenden Paradigmenwechsel in der Frage der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten
https://www.imi-online.de/download/AS-China-Studie.pdf
2.9.2008, Andreas Seifert

Die vorliegende Studie versucht dem Engagement Chinas in Afrika eine Gestalt zu verleihen und beschreibt Akteure und Methoden. Es wird deutlich werden, dass China keineswegs, wie landläufig unterstellt, einen „Plan“ für Afrika hat, als vielmehr mit einer Reihe von quasi experimentellen Maßnahmen Erfahrungen sammelt, die Chinas Afrikapolitik immer wieder verändern werden. Es wird auch deutlich, dass die chinesischen Akteure immer tiefer auch in regionale Probleme hineingezogen wurden und werden, die eine „externe“ Position immer weniger zulassen werden. Die Frage ist dabei: Weicht in diesem Prozess die strikte Position Chinas zur „Nichteinmischung“ auf oder gelingt es China, das Grundprinzip zu retten?

Der Text gliedert sind in fünf Abschnitte. Eingangs werden die Grundlagen der Außenpolitik der VR China und eine kurze Geschichte der Beziehungen zu Afrika beschrieben. Es folgt eine Analyse der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik Chinas in Afrika, sowie ein Abschnitt zu den bisherigen Erfahrungen mit Militär und Waffenhandel auf dem Kontinent. Das Beispiel des Sudan wird dann herangezogen, um die Verschränkungen der Bereiche deutlich zu machen und das Feld abzustecken, in dem sich die chinesische Regierung bewegen kann. Der letzte Abschnitt besteht darin, die Frage von Nichteinmischung oder Intervention anhand der vorhergehenden Fragen aufzuarbeiten.

3.) IMI-Standpunkt zum Krieg in Afghanistan

Anlässlich der Demonstrationen am 20. September in Berlin und Stuttgart gegen den Krieg in Afghanistan zeigt Christoph Marischka auf, dass die Bundeswehr stets in die Kriegsführung zur Durchsetzung einer neuen Staatlichkeit eingebunden war, wie und warum sie dabei in die Defensive geriet und weshalb der sofortige Abzug der Bundeswehr ein wichtiger Schritt des Übergangs zu ziviler Konfliktbearbeitung wäre.

IMI-Standpunkt 2008/053
Der Krieg in Afghanistan ist verloren!
Anatomie einer Eskalation
https://www.imi-online.de/2008.php3?id=1816
Christoph Marischka, 8.9.2008

Der Krieg in Afghanistan ist verloren! – Anatomie einer Eskalation

Nur wenige Monate nachdem die Koalition der Willigen den Krieg gegen Afghanistan begonnen hatte galt das Taliban-Regime als besiegt. In der Hauptstadt Kabul, aus der wie aus den übrigen nördlichen Provinzen die Taliban tatsächlich vertrieben waren, wurde eine Regierung eingesetzt, die den Interventionstruppen freundlich gesinnt war. Doch deren Herrschaft reichte nicht weit über die Hauptstadt hinaus und verlor sich in den entfernteren Provinzen in die traditionellen Beziehungen der Regierungsmitglieder zu den lokalen Stammesfürsten, die ihren eigenen Interessen folgten, weshalb Karzai gelegentlich auch als Bürgermeister von Kabul bezeichnet wurde. Auch der Krieg war mitnichten vorbei: Im Süden und Osten bestanden noch bewaffnete Verbände der Taliban und insbesondere in den Siedlungsgebieten der Paschtunen erhoben sich zahlreiche lokale Führer gegen die neue Zentralmacht in Kabul und die hinter dieser stehenden internationalen Koalition. Conrad Schetter vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn beschrieb jüngst, wie die Eliten der einstmals autonomen Stammesgebiete durch die wiederholten Interventionen in Afghanistan geschwächt wurden und militante Geistliche von deren Autonomiestreben profitieren konnten. Aus einer „externen“ Sonderrolle heraus konnten sie Allianzen zwischen den Stämmen schmieden und zunächst den gottlosen Kommunismus der Sowjetunion und später den Westen als einigendes Feindbild etablieren.[1]

Es gab und gibt in diesen Regionen seit Beginn des Krieges gut organisierte Milizen mit sicheren Rückzugsgebieten. Folglich mussten die hier stationierten us-amerikanischen, niederländischen und später kanadischen Kräfte also von Anfang an eine ganz andere Strategie verfolgen, als die deutschen Soldaten im je nach Sichtweise „befreiten“ oder auch „aufgegebenen“ Norden: Sie mussten gut bewaffnete Milizen in ihre Rückzugsgebiete verfolgen, aggressiv Geländegewinne erzielen und feindlich dominierte Täler gegen regelmäßige Angriffe verteidigen.[2] Dabei kam es natürlich auch zu höheren Opfern in einer tendenziell eher feindlich gestimmten Bevölkerung und häufiger wurde Close Air Support, also Unterstützung durch Kampfflieger und Hubschrauber angefordert, als im deutschen Einsatzgebiet. Hier gestaltete sich die strategische Lage anders: Es gab kaum bewaffneten Verbände, gegen die die deutschen Soldaten hätten kämpfen müssen, militante Gegner der Intervention bewegten sich eher in die umkämpften Gebiete im Süden, in der Bevölkerung herrschte eher die Haltung vor, abzuwarten und zu sehen, was die neue Regierung bringt. Entsprechend bestand die Strategie der „Opposing Militant Forces“ (OMF), die hier weniger Möglichkeiten hatten, nach Anschlägen in der Bevölkerung unterzutauchen, eher darin, in einzelnen Selbstmordkommandos oder mit Selbstmordanschlägen gegen die Interventionstruppen vorzugehen. Da die Besatzungstruppen im Norden sich näher an der Zivilbevölkerung aufhielten, wurden bei Anschlägen auf diese auch mehr ZivilistInnen getötet. Viele Selbstmordanschläge richteten sich gar nicht erst gegen die ausländischen Truppen, sondern abstrakter gegen deren Ziel, den Aufbau eines neuen Staatswesens, also gegen Polizeianwärter oder einfach auch gegen größere Menschenansammlungen, um ein Klima der Unsicherheit zu erzeugen. Es mag überraschen, aber diese Strategie ist aufgegangen. Mittlerweile sind auch die deutschen und französischen Soldaten in die Defensive geraten – sowohl im militärischen Sinne als auch was die öffentliche Meinung angeht. Dieser Übergang war aber keineswegs so abrupt, wie es nun scheinen mag.

Vom Aufstand zu Aufständen

Bereits zu Beginn des Jahres 2007 hatte sich auch in den westlichen Medien der Begriff des Aufstands eingebürgert, um die Situation in Afghanistan zu beschreiben, der UN-Beauftragte des Landes sprach gar von einer „Widerstandsbewegung“.[3] Ein halbes Jahr zuvor war das neue Field Manual 3/24 mit dem Titel „Aufstandsbekämpfung“ erschienen und zur offiziellen US-Doktrin für den Irak geworden. Seine Kernpunkte, die Soldaten noch intensiver in den Wohnvierteln patrouillieren zu lassen und noch offensiver auch gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, wurden aber auch in Afghanistan umgesetzt und heizten die Situation weiter an. Im März 2007 hatte die Bundesregierung die Entsendung von bis zu 500 weiteren Bundeswehrsoldaten sowie sechs Aufklärungstornados beschlossen, deren Mandat nicht mehr auf den Norden begrenzt war, sondern ganz Afghanistan umfasste. Während der Bundestag hierüber noch debattierte, erschütterte eine Protestwelle Afghanistan, weil US-Streitkräfte nach einem Selbstmordattentat auf einer belebten Straße wahllos acht Zivilisten töteten und nur 24 Stunden später offenbar versehentlich ein Haus derselben Familie bombardierten, zu der auch die Opfer auf dem Highway gehörten.[4] Solche Ereignisse finden laufend statt und zunehmend sieht sich auch Präsident Karzai gezwungen, die Besatzungstruppen für die zivilen Opfer zu rügen, um nicht alle Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung zu verspielen. Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft bestehen dann zumeist in Leugnungen und anschließenden Drohungen gegenüber Karzai, die auch den aufgeklärteren Teilen der afghanischen Gesellschaft zeigen, von wem der Präsident der Zentralregierung abhängig ist.

Bereits im Juni 2007 schrieb ein deutscher Militärberater aus Afghanistan an das Auswärtige Amt, er stelle „zunehmend fest, dass die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt wird. Auch deutsche Generale beschönigen oder verschweigen eigene Probleme. Die ständigen Forderungen nach Truppenverstärkung, die steigenden Kosten des militärischen Engagements, das Anwachsen eigener Verluste und die steigende Zahl ziviler Opfer verdeutlichen die Ungeeignetheit und Auswegslosigkeit der militärischen Gewalt als Lösung der inneren und äußeren Probleme Afghanistans. Es ist unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Die Paschtunen müssen dies als Terror empfinden! Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen in den Kampfgebieten. Aus den verschiedensten Motiven wenden sie sich den Aufständischen zu. Wir sind dabei, durch die unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der lebenden Generationen der Afghanen zu verlieren.“[5] Im darauf folgenden Monat lieferte Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und noch heute Vordenker der deutschen Außenpolitik, in der Zeitschrift „Strategie & Technik“, ein Beispiel für die genannten geschönten Darstellungen – nicht ohne die zunehmend defensive Lage der Bundeswehr anzudeuten: Er schrieb, dass „auch 2007 weiter höchst unsicher und fragwürdig [ist], ob diese ´selbst tragende Stabilität´ [die Minister Jung als Voraussetzung für einen Abzug definiert hatte] in absehbarer Zeit zustande kommen kann.“ Die strategische Frage laute also: „Zwei Jahrzehnte Hindukusch?“ Gleichzeitig müsse man „allerdings erkennen, dass längere Präsenz auch fremder Beschützer schließlich als fremde Besatzung wahrgenommen wird.“ Deshalb wiederum müssten die ISAF-Kräfte „das Einvernehmen mit den regionalen Machthabern, den Stammesfürsten und Clanchefs, von denen einige auch Drogenbarone und Clanchefs sind, suchen“ und könnten „nicht auch noch einen Opiumkrieg in ihrer Umgebung führen oder darauf dringen, dass Frauen unverschleiert auf der Straße gehen oder Mädchen in die Dorfschule“.[6] Ebenfalls im Juni 2007 veranstaltete die einflussreiche RAND Corporation gemeinsam mit dem Royal Danish Defence College eine Konferenz zur Lage in Afghanistan und zu den Zielen der westlichen Intervention. Auch hier wurde festgestellt, dass sich das öffentliche Ansehen der Besatzertruppen wie auch die allgemeine Sicherheitslage verschlechterte, dass die Zahl der Anschläge und Angriffe hingegen kontinuierlich steige und diese immer mehr Opfer auf beiden Seiten forderten. Nur 20% der Aufständischen gehörten ideologisch zu den Taliban, hieß es außerdem: „Die Taliban erfahren Unterstützung von Neulingen und Alliierten, die nicht ihre Ideologie teilen, sich aber aus anderen Gründen gegen Kabul, lokale Führern oder die internationalen Präsenz stellen und dies unter dem Banner der Taliban tun. Es gibt fluide Allianzen und Absprachen auf der lokalen Ebene, wenn auch mit wenig Kohärenz und Kohäsion.“[7] Ein Jahr später, im August 2008, ist gar nicht mehr von „Aufstand“, sondern von „Aufständen“ die Rede. UN-Vertreter sprechen von „hunderten, wenn nicht tausenden von Gruppen in einem komplexen und sich ständig verschiebenden Geflecht von Interessensallianzen … Manche dieser Gruppen bestehen gerade aus sechs Leuten und hassen die sechs Leute aus dem nächsten Dorf“.[8]

Im Krieg sind die Soldaten gleich

Die jüngsten Ereignisse in der Umgebung von Kabul und dem deutschen Verantwortungsbereich, bei denen zehn französische Soldaten getötet, mehrere deutsche Soldaten verletzt wurden und der 28. deutsche Soldat in Afghanistan gefallen ist, zeigen die veränderte taktische Lage, mit der die deutschen und französischen Soldaten konfrontiert sind, seit sich die Aufstände in den letzten 18 Monaten auch auf den Norden ausgebreitet haben. Die entscheidende Entwicklung besteht darin, dass die Soldaten auch hier mittlerweile direkt angegriffen werden. Die Tatsache, dass die Angreifer ihre Attacken direkt gegen die ausländischen Soldaten richten und sich anschließend zurückziehen können, zeugt von ihrer Stärke und auch von einer tendenziell größeren Unterstützung durch Teile der Bevölkerung. Die tw. sehr ineffektiven Sprengfallen, die in den letzten Wochen unter Fahrzeugen der Bundeswehr explodierten, könnten hingegen darauf hinweisen, dass mittlerweile auch weniger „professionelle“ Gruppen ohne Kontakte zu den Taliban versuchen, deren Mittel zu kopieren, um ihren eigenen kleinen Krieg gegen die Besatzung zu führen. Das Drama, bei dem deutsche Soldaten drei Menschen – eine Frau und zwei Kinder – töteten und weitere Kinder verletzten, indem sie höchstwahrscheinlich auf ein fliehendes Auto das Feuer mit Maschinengewehren eröffneten, ist vor diesem Hintergrund nachzuvollziehen: Die verschärfte Bedrohungslage, die größere Komplexität des Widerstandes und dessen wachsender Rückhalt in der Bevölkerung machen die Soldaten nervöser und zivile Opfer unvermeidlich. Es zeigt sich nun, dass es nicht an Unterschieden zwischen den us-amerikanischen und den vermeintlich besonneneren deutschen Einsatzkräften und Mandaten lag, dass die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung im Norden so viel geringer ausfiel als im Süden, sondern die jeweilige taktische Einsatzlage. Diese wird zukünftig auch unter den deutschen Soldaten und durch deren Schüsse immer häufiger Opfer verlangen. Dass sich Deutschland auf die Eskalation in seinem Einsatzbereich einließ, zeigt die Entsendung der Quick Reaction Force Ende Juni 2007. Auf die verschärfte Sicherheitslage wurde klassisch militärisch reagiert: Mit der Entsendung von mehr und robusteren Einheiten. Auch dies widerspricht der häufigen Darstellung deutscher Politiker, entgegen den USA setze man weniger auf eine militärische Eskalation, als auf Polizeiausbildung. Jetzt, wo die Bundesregierung mit der Eskalation auch in ihrem Verantwortungsbereich konfrontiert ist, lässt sie sich blind auf diese ein. Mit dem robusteren Vorgehen der deutschen Truppen nimmt auch deren Ansehen in der Bevölkerung weiter ab – insbesondere durch die nun getöteten Zivilisten, auf die übrigens Soldaten das Feuer eröffnet haben, die im Rahmen der Polizeiausbildung im Einsatz waren.

Warum die Strategie der Taliban aufging

Dass es die Taliban geschafft haben, mit Anschlägen gegen die Zivilbevölkerung den Widerstand gegen die ausländischen Truppen auszuweiten und die Soldaten sowohl militärisch wie in der öffentlichen Meinung auch im Norden in die Defensive zu drängen, mag zunächst erstaunen. Diese Verwunderung liegt v.a. an zwei massiven Fehlwahrnehmungen, die insbesondere in Deutschland vorherrschen. Die erste besteht darin, dass der Einsatz deutscher Soldaten und der Aufbau eines neuen Staatswesens in Form einer Marionettenregierung und eilig aufgebauter Militär- und Polizeieinheiten vom Auftrag der US-geführten Truppen, der Terroristenbekämpfung und der Durchsetzung der Staatlichkeit – der Kriegführung – zu trennen wäre. Die Bundeswehr hat die ganze Zeit über einen wichtigen Beitrag zu diesem Krieg geleistet. Nicht nur, indem sie seit Mitte 2007 Aufklärungskapazitäten für Luftangriffe bereitstellt, sondern indem sie anfangs die Hauptstadt und die ganze Zeit über weniger umkämpfte Gebiete und wichtige Nachschubwege wie den Flughafen Termez in Usbekistan kontrollierte und für Unterstützungsleistungen im ganzen Land bereitstand. Über die Einsätze des Kommando Spezialkräfte und die Beteiligung der deutschen Marine bei der seeseitigen Sicherung am Horn von Afrika war Deutschland unmittelbar am us-amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan beteiligt. Das wurde von den Gegnern der Intervention auch von Anfang an so wahrgenommen und natürlich betrachteten sie die deutschen Soldaten deshalb auch als Feinde. Angriffe auf sie sind Teil der Kriegsführung, wie ihre Arbeit am Aufbau eines Afghanischen Staates Teil der internationalen Kriegführung ist – und wie Anschläge in Usbekistan, Pakistan, und auf die indische Botschaft es ebenfalls sind.

Deshalb war es auch für die Bundeswehr nie möglich, einen humanitären Einsatz in Afghanistan durchzuführen. Die zweite Fehlwahrnehmung besteht darin, dass die Bundeswehr nur als Flankierung des zivilen Aufbaus entsandt worden und selbst überwiegend mit Hilfsprojekten beschäftigt gewesen sei. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache:

82,5 Mrd. US$ hat der gesamte ISAF-Einsatz die internationale Gemeinschaft alleine bis 2006 gekostet, von den seit 2001 zugesagten 25 Mrd. US$ für Hilfeleistungen für die Bevölkerung hat sie aber bis März 2008 nur 15 Mrd. US$ bereitgestellt – das ist der Betrag, den der OEF-Einsatz alleine die USA jährlich kostet. Ähnlich stellt sich das Verhältnis in Deutschland dar, das 1.2 Mrd. US$ versprochen, bislang hiervon aber noch nicht einmal zwei Drittel ausgeschüttet hat.[9] Demgegenüber verursacht der ISAF-Einsatz allein in Deutschland jährlich Kosten in Höhe von fast 500 Mio. Euro (2005: 377,3 Mio.; 2006: 500,8 Mio.) – bereits ohne die mittlerweile beschlossenen Einsätze von Tornados und Quick Reaction Force. Die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom kostet jährlich zusätzlich etwa 100 Mio. Euro und hat bis November 2007 insgesamt 842 Mio. Euro verschlungen. Laut Caritas International vergeben viele Länder ihre Gelder für zivile Projekte außerdem nur als „gebundene Hilfe“, „bei der die Geldgeber ihre Unterstützung an vertraglich vereinbarte Bedingungen knüpfen, dass importierte Arbeitskräfte und Güter genutzt werden müssen -, zumeist des jeweiligen Geber-Landes“.[10] Nach einer Schätzung von Oxfam International fließen so etwa 40% der Gelder zurück in die heimischen Betriebe bzw. an eine Elite der superreichen Ausländer aus den intervenierenden Staaten im Kriegsgebiet. 2007 gilt Afghanistan als eines der unterentwickeltsten Länder der Erde (174er Platz von insgesamt 178 Ländern laut UNDP HDI-Index von 2007), 68% der Bevölkerung haben demnach keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser,[11] 45% haben Probleme bei der täglichen Versorgung mit Nahrungsmitteln[12] und die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren leidet an Untergewicht. Anfang 2008 warnten zahlreiche Organisationen und die WHO vor einer Hungerkatastrophe in Afghanistan aufgrund der gestiegenen Nahrungsmittelpreise, die mittlerweile schon zu Demonstrationen und Streiks in afghanischen Städten führten. In einer Sonderausgabe des NATO-Brief zum Thema „Ernährung und Sicherheit“ aus dem Frühjahr 2008 heißt es: „Das wichtigste Grundnahrungsmittel des Landes, Weizenmehl, ist innerhalb eines Jahres im Schnitt um fast 60 Prozent teurer geworden … Infolge der höheren Lebensmittelpreise ist es für Millionen Afghanen äußerst problematisch, sich überhaupt zu ernähren. Die [daraus resultierenden] praktischen Sicherheitsfragen umfassen Demonstrationen … sowie möglicherweise eine steigende Gefahr, dass junge Männer sich von regierungsfeindlichen Elementen rekrutieren lassen. Angriffe von kriminellen Gruppierungen und regierungsfeindlichen Elementen auf Lebensmittelhilfe-Konvois sind ein Problem in vielen Gegenden.“[13]

Das „Weiter so!“ entlarvt die wahren Interessen

Auf der bereits erwähnten Konferenz der RAND Corporation im Juni 2007 wurde der schnelle militärische Sieg 2001/2002 in Kabul u.a. darauf zurückgeführt, dass sich die Taliban aufgrund innerer Streitigkeiten und wachsendem Widerstand in der Bevölkerung sowie unter den Stammeseliten seinerzeit ohnehin in der Defensive befanden.[14] Heute können sie wieder Allianzen schmieden und ein ganzes Bündel an Aufständen anführen, was ihren ideologischen Einfluss auf die überwiegend gemäßigt muslimische Bevölkerung weiter erhöht. Deren wirtschaftliche Lage hat sich derweil mit der Intervention keineswegs verbessert und immer mehr Menschen lassen sich deshalb für den Widerstand gewinnen. Derart in die Defensive gedrängt, versuchen die westlichen Militärs bereits seit längerer Zeit klar zu stellen, dass es ihnen weder möglich ist noch sie es als ihren Auftrag sehen, etwa zur Verbesserung der Lage der Frauen beizutragen. Auch die Aussage, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, hat sich mittlerweile als Lüge oder eklatante Fehleinschätzung erwiesen: Nach Auffassung aller Geheimdienstexperten erhöht die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg die Gefahr terroristischer Anschläge hierzulande. Jung begründete den Tod eines 29jährigen Soldaten am1.9.2008 jedoch immer noch mit den Worten: „Er kam ums Leben, weil er sich aktiv für eine bessere Zukunft in Afghanistan und damit auch für die Sicherheit in unserem Land eingesetzt hat“. Politiker aus Regierung und Opposition forderten daraufhin eine Diskussion um den Zweck des Einsatzes. Wenn Soldaten sterben und verwundet werden und zu Dutzenden traumatisiert zurückkehren, dann müssen die Interessen hinter dem Einsatz klar benannt werden. Auch dies ist bereits Mitte 2007 geschehen, als Lothar Rühl mit dem Märchen brach, deutsche Soldaten wären für die Frauenrechte oder die Sicherheit in Deutschland in Afghanistan und feststellte: „Die inneren und die äußeren Bedingungen an den Grenzen des Landes [Afghanistan] sind in der Konstellation seit 2001 nicht günstiger geworden. Eine negative Entwicklung zeichnet sich seit etwa 2003 ab. Sie hat sich in jedem Jahr netto verstärkt.“ Er definierte daraufhin fünf „strategische Interessen“, die Deutschlands Beteiligung am Krieg begründen sollten:

1. „Nach der Staatsraison der Bundesrepublik seit 1949 werden die nationalen Interessen euro-atlantisch definiert“. Ein Bruch mit USA und NATO würde dieser Staatsraison widersprechen. Die Ausweitung des deutschen Engagements in Afghanistan „ist auch als eine politische Kompensation für die Nichtbeteiligung im Irak anzusehen“.

2. Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik müsse sich in Afghanistan beweisen;

3. „[D]as deutsche außenpolitische Interesse an einer hervorgehobenen internationalen Rolle … schließt militärisches Engagement … ein“.

4. Um reibungslosen Welthandel und Energieversogungssicherheit zu gewährleisten sind „maritime Kapazitäten und schnell bewegliche Flottenpräsenz im Mittelmeer, in der Arabischen See, im Persischen Golf und im Indischen Ozean [besonders wichtig]. Die EU-Staaten können diese nicht allein herstellen und dauernd einsatzbereit halten. Maritime Sicherheit setzt die Verbindung zu den USA und den US-Seestreitkräften in der NATO voraus. Die alliierten Seestreitkräfte der NATO sind im deutschen Interesse unersetzlich. Damit sind der Erfolg der NATO in Afghanistan und der Bestand der Allianz ein deutsches strategisches Interesse…“

5. Die Lage in Afghanistan hat sich seit Beginn des Einsatzes so weit verschlechtert, „dass die NATO nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und das Feld räumen kann, ohne eine Katastrophe zu hinterlassen.“ Deshalb seien „mehr Bodentruppen für verstärkte Präsenz und vermehrten Einsatz“ erforderlich.[15]

Kurz gesagt: Die deutschen Soldaten sterben für das Bündnis mit den USA, für einen Fortbestand der NATO und für mehr politisches Gewicht Deutschlands auf der Weltbühne. Der Misserfolg der bisherigen militärischen Strategie soll durch noch mehr Soldaten wett gemacht werden.

Der Irak ist immer der Irak der anderen

Öffentlichkeit und Politik sträuben sich in Deutschland, diese Ziele des Afghanistankrieges und damit dessen Sinnlosigkeit anzuerkennen. Dies wäre auch tatsächlich schmerzhaft. Deshalb halten sie gerne an den Märchen fest, die Bundeswehr agiere als eine Art bewaffnetes THW und befände sich nicht inmitten eines längst verlorenen Krieges, der einzig deshalb weitergeführt wird, weil sich die NATO keine Niederlage eingestehen will. Mittlerweile ist die Sicherheitslage in Afghanistan dramatischer als im Irak und dort sterben sowohl mehr ausländische Soldaten als auch einheimische ZivilistInnen. Dennoch soll über das Mandat nicht diskutiert werden. Wer den deutschen Einsatz hinterfrage, spiele den Terroristen in die Hände, heißt es. Die einzige Lösung lautet: „Volle Kraft voraus“, ein Rückzug steht nicht zur Debatte. In Deutschland erinnert die Situation hingegen an die Kritik an den USA auf dem Höhepunkt des Krieges im Irak. Damals erkannte die halbe Welt, dass der Krieg verloren ist und die Region nur destabilisiert hat und sie schaute kopfschüttelnd auf die USA, wo zwar ein wachsender Teil der Bevölkerung dies erkannt hat, die Regierung aber immer mehr Soldaten in die Schlacht schickte. Erstaunlicherweise sind es heute in der deutschen Debatte gerade auch Teile der Linken, die immer noch an ein besseres Mandat und die besseren deutschen Soldaten glauben und deshalb der Forderung nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr widersprechen. Das größere Vertrauen, das sie in die „eigene“ Armee und Regierung gegenüber der us-amerikanischen setzen, ist befremdlich. Die Forderung, die sie damit implizit oder explizit an die Regierung stellen, besteht darin, weiter deutsche Soldaten per Befehl nach Afghanistan zu entsenden, wo sie sterben, verletzt oder traumatisiert werden können. Diese Forderung folgt implizit der Darstellung der Regierung, dass die Soldaten zum Schutz entsandt und die Aufstände niederzuschlagen wären. Sie überschätzt darüber hinaus, wie so oft, die deutsche Rolle. Denn ohne Deutschland wären nicht plötzlich alle ausländischen Soldaten aus Afghanistan verschwunden und das Land würde nicht in ein noch größeres Chaos versinken, als es das jetzt tut. Der deutsche Abzug könnte lediglich Anlass auch für andere Staaten sein, ihre Truppen abzuziehen. Dies würde auch von den verbleibenden einen defensiveren Ansatz verlangen und auf internationaler Ebene erzwingen, dass den zivilen Instrumenten mehr Aufmerksamkeit, Gewicht und das eingesparte Geld, das zuvor in Militäreinsätze floss, zukommt.[16] Und ein Abzug würde es der afghanischen Bevölkerung zugestehen, mit internationaler Hilfe und Schritt für Schritt die Taliban selbst zurückzudrängen – anstatt die Bevölkerung in die Arme der Islamisten zu treiben.

Anmerkungen

[1] Conrad Schetter: Talibanistan – oder das Ende staatlicher Ordnung, in: Wissenschaft & Frieden 3/2008.

[2] Vgl. jüngst die Reportage von Elizabeth Rubin: Üble Tage in Kunar, in: Lettre International 81.

[3] “We now know that we are dealing with a real resistance movement” in: „Democracy Remains the Goal“, Tom Koenigs im Interview mit dem Spiegel, 10.8.2006.

[4] Beth Cole / Catherine Morris: The Situation in Afghanistan – A Re-evaluation Needed, US Institute for Peace Briefing April 2007

[5] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 16/102

[6] Lothar Rühl: Nicht nur eine Definitionsfrage – Deutsche Interessen in Afghanistan, in: Strategie & Technik, Juni 2007

[7] Samina Ahmed: Are We Learning? Military Engagement – The Taliban, Past and Present, in: Cheryl Benard u.a.: Afghanistan – State and Society, Great Power Politics, and the Way Ahead Findings from an International Conference, Copenhagen, Denmark, 2007

[8] Jason Burke: This enemy is media friendly and has a bewildering array of allies and rivals, in: The Guardian, 22.9.2008

[9] Matt Waldman: Falling Short – Aid Effectiveness in Afghanistan, ACBAR Advocacy Series, Oxfam 2008, http://www.oxfam.org/files/ACBAR_aid_effectiveness_paper_0803.pdf

[10] Caritas International: Positionspapier zur Nothilfe in Afghanistan – Caritas fordert Strategiewechsel für Afghanistan, http://www.caritas-international.de/hilfsprojekte/asien/afghanistan-aufbauhilfe_im_hazarajat/positionspapier_zur_nothilfe_in_afghanistan/49445.html

[11] UNDP: Afghanistan human Development Report 2007 – Bridging Modernity and Tradition: Rule of Law and the Search for Justice

[12] Caritas International, a.a.o.

[13] Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?, in: NATO-Brief „Ernährung und Sicherheit“, NATO, 2008, http://www.nato.int/docu/review/2008/05/FS_AFGHANISTAN/DE/index.htm.

[14] Samina Ahmed, a.a.o.

[15] Lothar Rühl, a.a.o.

[16] Afghanistan-Dossier des „Monitoring-Projekts Zivile Konfliktbearbeitung“, im Erscheinen.