IMI-Standpunkt 2008/044 - in: la gauche 7/2008

Zwei Seiten einer Medaille: Die Lissabon-Strategie und die Militarisierung der Europäischen Union


von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 21. Juli 2008

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Lissabon, die Hauptstadt Portugals, ist eine schöne Stadt. Umso bedauerlicher ist es, dass zwei zentrale neoliberale Projekte der Europäischen Union nach Lissabon benannt sind: Der nun erfreulicherweise in Irland abgelehnte Lissabonner
Vertrag und die Lissabon-Strategie. Doch beide Projekte, der Lissabonner Vertrag und die Lissabonner Strategie haben eine militärische Komponente. Bekannt ist dies beim Lissabonner Vertrag, doch wie sieht dieser Zusammenhang mit Militärpolitik bei der Lissabonner Strategie aus?

Die Staats- und Regierungschefs der EU verabschiedeten im März 2000 die so genannte Lissabon-Strategie, die das ehrgeizige Ziel ausgibt, die Europäische Union solle bis zum Jahr 2010 zur Weltwirtschaftsmacht Nummer eins aufsteigen: „Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“ Was nur implizit gesagt wird: Dieser Wettbewerb findet statt gegen andere Akteure und hat auch Verlierer.

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, setzt die Lissabon-Strategie sowohl auf eine interne als auch auf eine externe Komponente, die beide wiederum mit der Militarisierung der Europäischen Union zusammenhängen. Innenpolitisch begann man schnell damit, einen radikalen neoliberalen Umbau innerhalb der Mitgliedsstaaten einzuleiten. In Deutschland schlug sich dies etwa in der Agenda 2010 und dem damit einhergehenden massiven Sozialabbau nieder. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hatte vor einiger Zeit bei der Eröffnung der Hannover-Messe in dankenswerter Offenheit einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sozialabbau der Lissabon-Strategie und der Herausbildung einer starken, militarisierten EU hergestellt: „Das, was ich mit der ‚Agenda 2010‘ bezeichnet habe …, hat mit dem Thema zu tun, das ich anfangs erörtert habe. Wenn Deutschland seine Rolle in Europa und damit Europa seine Rolle in der Welt in dem gekennzeichneten Maße spielen will und soll, … dann reicht es eben nicht aus, das nur zu wollen, sondern dann muss man das Land ökonomisch in Stand setzen, auch die Kraft zu haben und sie diesem Europa zur Verfügung zu stellen, um diese Rolle realisieren zu können. Es gibt also … einen engen Zusammenhang zwischen dem, was wir uns als Emanzipation Europas in der internationalen Politik vorstellen können und müssen, und dem, was etwa mit der Lissabon-Strategie bezeichnet worden ist. Wer diesen Zusammenhang nicht sieht, der sollte dann auch nicht über die neuen Aufgaben Europas in der internationalen Politik reden, jedenfalls nicht vollmundig. Das, was wir mit der ‚Agenda 2010‘ vorhaben, ist also natürlich unserer inneren wirtschaftlichen und sozialen gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet. Es ist aber zugleich unsere Verantwortung für ein starkes Europa und damit für seine Rolle in der Welt. Man sollte diesen Zusammenhang jedenfalls nicht vergessen.“

Dieser Zusammenhang zeigt sich exemplarisch auch am Lissabonner Vertrag, der zwar – ginge es bei der EU nach normalen Maßstäben – durch das ‚NO‘ in Irland ad acta gelegt werden müsste, der aber dennoch unbedingt verabschiedet werden soll. Er enthält eine militärische „Solidaritätsklausel“, die festschreibt, dass die EU „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel“ mobilisiert, um „terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden.“ Der Vertrag von Lissabon beauftragt die EU-Mitgliedsstaaten außerdem, „die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen.“ Dies ist überaus problematisch, denn hiermit wird die Option eröffnet, militärisch gegen Protestbewegungen innerhalb Europas vorgehen zu können, da die EU-Justizminister bereits im Dezember 2001 eine Rahmenerklärung verabschiedeten, in der es heißt, Terrorismus beinhalte auch Aktivitäten, die in der Absicht erfolgen, „öffentliche Körperschaften oder eine internationale Organisation unangemessenem Zwang auszusetzen, damit sie bestimmte Handlungen unternehmen oder unterlassen.“ Es dürfte in diesem Zusammenhang kein Zufall sein, dass die viel gerühmte EU-Grundrechtcharta die gezielte Tötung zur Aufstandsbekämpfung zulässt, so heißt es in den Erläuterungen: „Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um […] einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.“

Der Aufbau eines europäischen Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) wird ebenfalls als Teil der Lissabon-Strategie gesehen. Ziel ist es, in diesem Schlüsselsektor die Konkurrenzfähigkeit der EU gegenüber den erklärten Rivalen USA, China und Russland zu bewahren. Seit ihrer Verabschiedung werde intensiv, so die regierungsnahe „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), über eine „aktive Industriepolitik der Europäischen Union als Instrument zur Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und damit zur Annäherung an die Ziele der Lissabon-Strategie diskutiert. Die Debatte läuft häufig auf die Forderung zur Bildung so genannter ‚Europäischer Champions‘ hinaus.“ Als Paradebeispiel hierfür benennt die SWP den europäischen Luftfahrtkonzern EADS, der mittlerweile Boeing als größtes Unternehmen in diesem Segment überholt hat und der gute Teile seines Profits im Rüstungssektor erwirtschaftet. Ähnliche Konzentrationsprozesse zeichnen sich im Triebwerks-, Panzer- und vor allem dem Kriegsschiffbau ab („Marine EADS“). Gleichzeitig ist das „Defence Package“, auf dem Weg, dessen Kern ein vor der Verabschiedung stehender Richtlinienentwurf der EU-Kommission ist, der den inner-EU-Rüstungsmarkt weiter stärken soll. Es sollen Exportkontrollen innerhalb der EU, also zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, künftig faktisch weit gehend entfallen, egal, ob es sich um kriegsführende Staaten handelt oder nicht.

Doch der Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht Nummer eins erfordert auch eine aggressivere Erschließung neuer Märkte in der ganzen Welt. Deshalb begann die EU-Kommission unter dem viel sagenden Arbeitstitel „Global Europe“ eine externe Dimension der Lissabon-Strategie auszuarbeiten. Das Ergebnis wurde schließlich im Oktober 007 unter dem Namen „Das europäische Interesse – Erfolg im Zeitalter der Globalisierung“ vorgelegt. Es soll als „Grundlage für eine Strategiedebatte dienen“ und „Europas Antwort auf die Globalisierung“ darstellen: „Als weltgrößter Exporteur von Waren und Dienstleistungen […] profitiert die EU in erheblichem Maße von einer offenen Weltwirtschaft. […] Sie hat ein offenkundiges Interesse daran, dass die Weltordnungspolitik Regeln folgt, die ihre Interessen und Werte widerspiegeln. […] Die EU muss das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium in vollem Umfang nutzen, wenn sie ihre Stellung in einer globalisierten Welt stärken will. […] Gleichzeitig ist es wichtig, dass die EU ihren Einfluss in internationalen Verhandlungen geltend macht, um auch von Anderen Offenheit einzufordern: Offenheit lässt sich politisch nur dann rechtfertigen, wenn sie auf Gegenseitigkeit basiert. Die EU muss dafür sorgen, dass ihre Exporteure und Investoren in Drittländern ein angemessenes Niveau an Offenheit sowie Grundregeln vorfinden, die unsere Fähigkeit nicht beeinträchtigen, unsere Interessen zu schützen.“

Was sich allerdings hinter so egalitär anmutenden Phrasen wie „Offenheit“ und „gleiche Bedingungen“ verbirgt, ist nackter Egoismus, denn Freihandel unter ungleichen Partnern nützt immer dem ökonomisch Stärkeren. Was die Kommission hier einfordert, ist in etwa so, als argumentiere man, ein Wettrennen zwischen einem VW-Käfer und einem Ferrari sei fair, nur weil sie auf derselben Straße fahren.

Dennoch oder wohl gerade deswegen bildet das Kommissionspapier die Blaupause für die Außenwirtschaftspolitik der französische Ratspräsidentschaft, im zweiten Halbjahr 2008. Die zukünftige französische Ratspräsidentschaft erklärt offen, sie wolle auf die „Umsetzung der Mitteilung der Kommission ‚Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt‘ hinwirken [und] die Kommission um eine Aktualisierung ersuchen, die dann förmlicher und integraler Bestandteil der Lissabon-Strategie wird.“ Schon im April hatte die französische Regierung ein Grundsatzpapier mit dem Titel „Euromonde 2015“ vorgelegt, deren Kernelement, „Lissabon-Plus“ genannt, es ist, die innenpolitisch orientierte Lissabon-Strategie um eine offensive außenpolitische Komponente zu ergänzen. Das Grundsatzpapier verdeutlicht eindrucksvoll die mögliche Tragweite dieser Strategie, sie „könnte die zentrale ökonomische und soziale roadmap der Europäischen Union für die erste Hälfte des nächsten Jahrzehnts darstellen. […] Es liegt nun an der französischen Ratspräsidentschaft, diese neue strategische Vision umzusetzen.“

Irgendwo gibt es sie eben die Verlierer des Wettbewerbes. Sehenden Augen wird so die Verarmung weiter Teile der Welt in Kauf genommen, ja sogar forciert. Die Folgen sind dramatisch, kein Wunder, dass die militärische „Befriedung“ von Hungeraufständen eine immer prominentere Rolle in der westlichen Militärplanung spielt. So sind etwa die EU-Kampftruppen – ‚Battle Groups‘ – insbesondere für Einsätze in Afrika vorgesehen. Also genau dort, wo erwartet wird, dass sich die Folgen der EU-Wirtschaftspolitik am heftigsten in Konflikten niederschlagen werden.

So sind neoliberale Wirtschaftspolitik, wie sie durch die Lissabon-Strategie deutlich wird und offensive Militärpolitik der EU und EU-Mitgliedstaaten zwei Seiten derselben Medaille. Oskar Lafontaine bringt es mit dem Zitieren des französischen Sozialisten Jean Jaurès auf den Punkt: „Der Kapitalismus
trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Gegen beides gilt es vorzugehen, konkret gegen Lissabon-Strategie und EU-Militarisierung – oder allgemein gegen Krieg und Kapitalismus.