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Irland: Rote Karte für ein neoliberales und militaristisches Europa


von: Martin Hantke | Veröffentlicht am: 18. Juni 2008

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Noch bevor die Auszählungen beim irischen Referendum über den Vertrag von Lissabon abgeschlossen waren, meldeten sich schon die politischen Protagonisten dieser Europäische Union zu Wort und suchten mit zum Teil absurden Vorschlägen einen Ausweg aus dem eingetretenen Debakel. „Dass Irland eine Zeit lang den Weg frei machen wird für eine Integration der restlichen 26 Mitgliedstaaten“ schwadronierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier und regte eine „dänische Lösung“ an.

Der Vorsitzende des Verfassungsauschusses im Europäischen Parlament, Jo Leinen (SPD), legte Irland den Austritt nahe. Elmar Brok, Bertelsmann-Berater und europapolitisches Schwergewicht der CDU, phantasierte von Kerneuropakonzeptionen und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, Martin Schulz, wollte gar den gesamten EU-Eweiterungsprozess auf Eis legen. Berlin und Paris erklärten ungerührt, der Ratifizierungsprozess des Vertrags von Lissabon müsse weitergehen.

Warum nur diese panikartigen Attacken – was war geschehen? 53,4% der irischen Bevölkerung hatten bei einer relativ hohen Wahlbeteiligung von über 53% den Vertrag von Lissabon schlicht abgelehnt. Presseagenturen vermeldeten, dass insbesondere in den Arbeiterbezirken und auf dem Land die Ablehnung besonders hoch war, in den vom Mittelstand dominierten Kreisen dagegen die Zustimmung überwogen habe. Diese Meldung macht die Schockwellen in der politischen Klasse Europas verständlich. Nachdem der Verfassungsvertrag 2005 in den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich gescheitert war, hatte man ganz auf die neue Verpackung eines nahezu identischen Textes gesetzt.

Ziel war es zudem, alle Volksabstimmungen über das große europäische Zukunftswerk zu vermeiden. Was auch gelang: Allein in Irland ist ein Referendum per Verfassung zwingend vorgeschrieben. Hier konnte man nicht anders. Zudem wurde die gesamte EU-Propagandamaschinerie eingesetzt. EU-Staatslenker traten gleich im Dutzend in Irland auf. Mit einer Angstmacherkampagne versuchte man das Blatt noch zu wenden, als sich die Umfragewerte drehten: Wer gegen den Vertrag war, wurde als nationalistischer Anti-Europäer gebrandmarkt. Alle großen Medien trommelten für die Annahme. Alle im irischen Parlament vertretenen Parteien, mit Ausnahme der Sinn Fein, die im Parlament über 95% der Sitze innehaben, zogen für das Ja ins Feld. Umso verwunderter rieb man sich im Nachhinein die Augen über die faktische Delegitimierung der gesamten politischen Elite.

Tatsache ist, dass größere Teile der Bevölkerung EU-Europas nicht mehr bereit sind, mitzuspielen. Ein Vertrag, der die Kapitalfreiheiten des Binnenmarkts zementiert, die Militarisierung der EU vertraglich fixiert und das Stimmrecht im Rat zugunsten der großen Mitgliedstaaten insbesondere zugunsten Deutschlands festschreibt, ist fast keiner Bevölkerung mehr verkaufbar. Erst recht nicht die Ausrichtung der europäischen Integration auf die Durchsetzung der Marktfreiheiten, auf Lohn- und Sozialdumping, auf fortgesetzte Privatisierungskampagnen und ein imperiales militärisches Europa.

Es weht ein lateinamerikanischer frischer Wind ins alte Europa hinein. Die Zeiten der stillen Duldung der Zumutungen sind vorbei. Dieses Europa ist nicht unser Europa. Das ist die Botschaft des irischen Referendums und das ist die Botschaft der Unterprivilegierten. Eine Botschaft, die Christ- und Sozialdemokraten, Grüne und Liberale in Deutschland einfach nicht verstehen können und hören wollen. Deshalb bleibt ihnen nur der Sturmlauf gegen die Entscheidung der Bevölkerung.

Was ist zu tun? Richtig ist jetzt, Neuverhandlungen zu fordern und die arroganten, unverschämten Drohungen gegen Irland zurückzuweisen. Aber reicht es, eine soziale Fortschrittsklausel gegen den Vorrang der Kapitalfreiheiten und die Streichung der Militärartikel des Vertrags von Lissabon für ein friedlicheres Europa einzufordern? Gilt es nicht jetzt eine Kampagne für eine Neubegründung der Europäischen Union aufzunehmen? Man könnte das auch wie der Verdi-Vorsitzende Bsirske einen sozialen Gesellschaftsvertrag für Europa nennen. Dafür gibt es mit dem Projekt ALBA in Lateinamerika ein Vorbild. Was wäre, wenn Europa einmal nicht seine „Werte und Interessen“ global durchsetzen wollen würde, wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht, sondern Anleihen bei einem linken Projekt machen würde, dass eben nicht auf der Gewalt der Kapitalfreiheiten, des Freihandels und einer global agierenden Militärmacht beruht.

Ein solches Projekt könnte mit den aktuellen sozialen Abwehrkämpfen verknüpft werden, auch um diesen mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Diejenigen die leider von ihrer Kapitalrendite nicht leben können, hätten wohl nichts einzuwenden, gegen eine solidarische Gesundheitsversorgung und armutsfeste Löhne und Renten in Europa. Anders als dies die Schönredner des aktuellen Projekts Europäische Union wahrhaben wollen, sind die Bedrohungen für Beschäftigte, die aus dem trickreichen Spiel über die Brüsseler Bande für sie erwachsen, immens. Fast keine Woche vergeht, bei dem nicht ein neuer Angriff der Unternehmerverbände über Brüssel seinen Weg in die Politik findet – sei es als Kommissionsvorlage, in Form eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs oder als Ratsinitiative.

Fakt ist: Seit der EU-Erweiterung 2004 hat die neoliberale Seite erheblich an Gewicht zulegen können. Den Vertrag von Lissabon als Kernprojekt dieser neoliberalen Offensive zu Fall zu bringen, scheint dabei kein zu geringes Ansinnen. Gut, dass Teile der Gewerkschaften nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zu Laval, Viking Line und Rüffert aufgewacht scheinen. Doch eine Stimmung, dass es so nicht weitergehen kann, reicht nicht. Auch wenn es spät fast zu spät scheint: Jetzt kommt es darauf an, die soziale, demokratische und antimilitaristische Kritik am Vertrag von Lissabon in einer neuen Kampagne zu bündeln. Mit dem Referendum in Irland wurde die politische Klasse in Europa fast schon in die Verlängerung gezwungen. Aber auch bereits in der Nachspielzeit kann der Amoklauf für ein neoliberales und militaristisches Europa noch gestoppt werden.