IMI-Analyse 2006/014 - in: Wissenschaft und Frieden 3/2006

Intellektuelle Brandstifter: »Neue Kriege« als Wegbereiter des Euro-Imperialismus


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 26. Juli 2006

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Seit jeher wird versucht die gewaltsame Durchsetzung ökonomischer und strategischer Interessen als selbstloses, moralisch gebotenes Unterfangen darzustellen. Als besonders effektiv hat sich diesbezüglich in jüngster Zeit die Theorie der »Neuen Kriege« erwiesen, auf deren wohl prominenteste Vertreter, Herfried Münkler und Mary Kaldor, sich in der Folge primär bezogen werden soll.

Interessant ist, dass beide, ausgehend von einer weitgehend deckungsgleichen Analyse, die militärische Stabilisierung und langfristige Besetzung so genannter fehlgeschlagener Staaten befürworten, jedoch mit sehr unterschiedlichen Begründungen. Während Münkler hierfür primär sicherheitspolitische Motive anführt, geben für Kaldor vorwiegend moralisch-humanitäre Argumente den Ausschlag. Demgegenüber soll dieser Artikel darlegen, dass nicht nur die methodologischen und empirischen Grundlagen der Theorie, sondern auch die aus ihnen abgeleiteten Politikempfehlungen, sowohl in ihrer moralischen als auch sicherheitspolitischen Dimension, äußerst fragwürdig sind und sich aus friedenspolitischer Sicht hochgradig kontraproduktiv auswirken.

Um die Kernaussagen der »Neuen Kriege« darzustellen, ist eine Systematisierung hilfreich, bei der zunächst die grundsätzlichen Befunde, anschließend deren angebliche Ursachen und daraufhin die hieraus abgeleiteten politischen Forderungen beschrieben werden.

Befunde

Staatenkrieg als Auslaufmodell

Alle Vertreter der »Neuen Kriege« stimmen darin überein, es habe ein tief greifender Formwandel gewaltsamer Konflikte stattgefunden, ein „neuer Typus organisierter Gewalt“ sei entstanden,[1] der sich wahlweise in Begriffen wie „Kriege der dritten Art“ (Holsti), „Privatkriege“ (Hobsbawm), „post-nationalstaatliche Konflikte“ (Duffield), „postnationale Kriege“ (Beck) oder etwa „neo-hobbessche Kriege“ (Trotha) niederschlägt. Die 1998 von Mary Kaldor in die Debatte eingeführten »Neuen Kriege« beendeten diese babylonische Sprachverwirrung und setzten sich in der Folge als Bezeichnung für das zu beschreibende Phänomen durch. „Gemeinsam ist den meisten dieser Studien, dass sie innerstaatliche Kriege thematisieren, deren Grundmerkmale herausstellen und zunächst auf die Unterscheidung zu dem als ‘alt’ angesehenen Typ des zwischenstaatlichen Krieges zielen. Das Attribut ‘neu’ soll diese Kriege von den für eine frühere Epoche typischen Kriegsformen abgrenzen.“[2] Auf die gravierenden methodologischen Probleme dieser Herangehensweise wird weiter unten noch näher eingegangen.

Dem klassischen zwischenstaatlichen Krieg, der etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zur vorherrschenden Form des Konfliktaustrags geworden war, werden verschiedene Merkmale zugesprochen. Betont wird dabei insbesondere die zentrale Rolle der Staaten als „Monopolisten der Gewalt“. Krieg war also lange „ein Geschöpf des zentralisierten, ‘rationalisierten’, hierarchisch geordneten modernen Flächenstaats.“[3] Als besonderes Charakteristikum der klassischen Staatenkriege wird deren »Zivilisierung« durch das Kriegsvölkerrecht und damit die Begrenzung und Eindämmung der Gewalt hervorgehoben.[4]

Diese Staatenkriege seien nunmehr ein Relikt der Vergangenheit, sie seien, in den inzwischen häufig zitierten Worten Herfried Münklers, zu einem „historischen Auslaufmodell geworden.“[5] Demgegenüber steige aber gleichzeitig die Zahl innerstaatlicher Konflikte rapide an, die sich zudem grundlegend von klassischen Kriegen unterscheiden würden. Insbesondere auf zwei angeblich neue Faktoren wird diesbezüglich aufmerksam gemacht: Die Privatisierung, Kommerzialisierung und damit Entpolitisierung sowie die Brutalisierung des Krieges.

Privatisierung und Entpolitisierung

Heutzutage, so die These, seien die Staaten als Monopolisten des Krieges abgelöst und durch privatwirtschaftlich organisierte Kriegsunternehmer ersetzt worden. Dabei habe der »Krieg aus Habgier« lange maßgebliche politisch-ideologische Motivationen fast vollständig verdrängt. Es gehe nicht mehr darum, einen Sieg davon zu tragen bzw. Territorium zu erobern, sondern vielmehr sei es nunmehr das Ziel, die Bedingungen für die Realisierung von Profiten – den Krieg – als Erwerbsquelle und Lebensform längstmöglich aufrecht zu erhalten. Dies trage zu einer Verselbstständigung und einer langen Dauer der Kriege bei, indem z.B.. Entscheidungsschlachten vermieden würden.[6]

Die Barbarisierung der Gewalt

Ein weiterer zentraler Befund ist, dass die postulierte Einhegung zwischenstaatlicher Kriege verloren gegangen sei. In den »Neuen Kriegen« wäre die frühere Unterscheidung in Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufgehoben, es komme zu steigenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung, insbesondere im Kontext ethnischer und sexueller Gewaltexzesse, die teilweise systematisch angewandt würden. Zusammen mit der praktischen Bedeutungslosigkeit des Kriegsvölkerrechts habe somit eine dramatische Barbarisierung der Gewalt stattgefunden.[7]

Die Ursachen der »Neuen Kriege«

Gewandelte Finanzierungsformen

Eine Hauptursache für das Aufkommen der »Neuen Kriege« wird in den gewandelten Finanzierungsformen gesehen: Dass sich „Krieg wieder lohnt“ sei eine zentrale Motivation für nicht-staatliche Gewaltakteure, denn „ohne Rentabilität der Gewalt keine Privatisierung des Krieges.“ Diese Rentabilität sei vor allem deshalb gegeben, weil der »Neue Krieg« in der Dritten Welt „mit leichten Waffen, billigen Kämpfern und Anschlussmöglichkeiten an die großen Geschäfte der globalisierten Wirtschaft geführt werden kann.“[8]

Ethnisch-kulturell-religiöse Konfliktursachen

Zwar wird neben den gewandelten Finanzierungsformen ein ganzes Bündel von Konfliktursachen präsentiert, fast nirgendwo taucht dabei allerdings eine wie auch immer geartete Verantwortung westlicher Interessenspolitik auf. „Die neuen Kriege werden von einer schwer durschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtstreben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch kulturellen Gegensätzen, sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten.“[9]

Abwesenheit »robuster Staatlichkeit«

Die wichtigste und überragende Ursache für den Ausbruch »Neuer Kriege« erblicken Kaldor wie Münkler in der Erosion staatlicher Autorität: „Die Aushöhlung der Autonomie des Staates, in Extremfällen eine völlige Auflösung, bildet den Kontext, aus dem die neuen Kriege erwachsen.“[10] Diese Gewaltkonflikte entstünden „am Sog einer wirtschaftlichen Globalisierung, die vor allem dort ihre destruktiven Wirkungen entfaltet hat, wo sie nicht auf eine robuste Staatlichkeit traf.“[11]

Krieg als moralisch-sicherheitspolitischer Imperativ

Mit den zuvor beschriebenen Kriegsursachen ist der Argumentationsteppich ausgebreitet, der eine moralisch-sicherheitspolitische Notwendigkeit westlicher Pazifizierungskriege nahe legt: Die »Neuen Kriege«, so Herfried Münkler, sind „reine Staatszerfallskriege, die zerstörte Gesellschaften ohne tragfähige Zukunftsperspektiven erzeugen. Diese Gesellschaften sind … nicht nur auf den Import von Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe, sondern mindestens ebenso auf den von Staatlichkeit angewiesen.“[12] Es bedarf also des Westens, besser noch der Europäischen Union, um die Dritte Welt aus ihren selbstverschuldeten Konflikten zu befreien. Wie erwähnt gibt es hierfür zwei unterschiedliche Begründungen.

Krieg als militärischer Humanismus

Aus Kaldors Sicht ist der Westen aus humanitären Gründen gezwungen, den Konflikten in der Dritten Welt ein Ende zu setzen: „Die Analyse der neuen Kriege legt jedoch nahe, dass nicht Friedenssicherung, sondern die Durchsetzung kosmopolitischer Normen erforderlich ist, also die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.“[13] Westliche Pazifizierungskriege sind also aus diesem Blickwinkel nicht mehr die Fortsetzung der (Interessens-) Politik mit anderen Mitteln, sondern der selbstlose Ausdruck für „eine neuartige, postnationale Politik des militärischen Humanismus, des Einsatzes transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen.“[14] Dieses moralische Argument wird von Münkler um eine sicherheitspolitische Komponente ergänzt.

Krieg als sicherheitspolitischer Imperativ

Da von den »Neuen Kriegen« eine „hohe Infektionsgefahr“ (Martin van Creveld) ausgehe, werden diese auch zu einem sicherheitspolitischen Problem. Dies gelte besonders „für den internationalen Terrorismus, dessen Ausbildungslager und Rück¬zugsgebiete vorzugsweise dort liegen, wo im Verlauf eines innergesellschaftlichen Krieges die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind. (Weshalb) es in einer globalisierten Welt keine Region mehr gibt, in denen die staatlichen Strukturen zusammenbrechen können, ohne dass dies schwer wiegende Folgen für die weltpolitische wie weltwirtschaftliche Ordnung hätte.“[15] Hieraus leitet sich eine sicherheitspolitische Notwendigkeit zum militärischen Stabilitätsexport ab, der Westen müsse bereit sein, „sich auf bewaffnete Pazifizierungen ganzer Regionen einzulassen.“[16] Selbstredend lägen dem keinerlei ausbeuterische Motive zugrunde, da „es sich – anders als die Theorien des Neokolonialismus und Imperialismus unterstellen – zumeist um defensive, nicht offensive Interessen handelt.“[17]

Wurde diese moralisch-sicherheitspolitische Kriegslegitimation, die nicht nur den politikwissenschaftlichen Mainstream, sondern auch die europäischen Strategiepapiere dominiert, erst einmal unhinterfragt übernommen, so ist der (Rück) Schritt zum Kolonialismus nicht mehr weit. Und auch diesen Weg gehen Vertreter der »Neuen Kriege« konsequent zu Ende.

Europas Imperium

„Was wäre schlecht an einem neuen Imperium?“, so die rhetorische Frage des Chefkolumnisten der Welt am Sonntag, der die moralisch-sicherheitspolitisch legitimierte Ausweitung der europäischen Einflusszone sogar zu einem »Modernisierungsprojekt« hochstilisiert: „Wenn aber Europa seine imperiale Bestimmung realisiert, so ist eben diese Ausdehnung einerseits schlicht und einfach notwendige Bedingung seiner Sicherheit, andererseits ein zivilisatorischer Auftrag, der Europas müde Eliten neu beleben könnte.“[18]

Integraler Bestandteil eines solchen imperialen Projekts ist es, Staaten solange unter westliche Schirmherrschaft zu stellen, bis sie wie gewünscht funktionieren: „Im Falle der ‘Failed States’ kann die Einrichtung von ‘liberalen Protektoraten’ erforderlich sein, um treuhänderisch das Gewaltmonopol herzustellen.“[19] Mary Kaldor schlägt in dieselbe Kerbe: „Wo noch keine legitimen örtlichen Behörden existieren, können treuhänderisch Mandate oder Protektorate in Erwägung gezogen werden.“[20] Letztlich bringt das Ganze wiederum Münkler präzise auf den Punkt: „Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso lassen sich Imperien aber auch als Friedensgaranten, Aufseher über politische und kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen.“[21] Da Imperien grundsätzlich nichts vom staatlichen Souveränitätsrecht halten, sieht Münkler im Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2,4) und generell in den »Normen des Völkerrechts« konsequenterweise ein Auslaufmodell.[22]

Zur Kritik der »Neuen Kriege«

Inzwischen sind eine Reihe teils vernichtender Kritiken der »Neuen Kriege« erschienen. Ein erster Einwand besteht darin, dass insbesondere im Lichte ansteigender westlicher Militärinterventionen klassische Staatenkriege keineswegs bedeutungslos geworden sind und zudem das Bild vom »eingehegten« Konfliktaustrag eine stark idealisierte Sichtweise darstellt, die sich nicht mit der Realität deckt.[23] Weder trifft das Bild vom »zivilisierten Staatskrieg« zu, noch stimmt die Analyseebene, wenn dieser mit »neuen« innerstaatlichen Kriegen verglichen wird. Um überhaupt zu sinnvollen Aussagen gelangen zu können, müssten alte und neue innerstaatliche Konflikte vergleichend untersucht werden.[24]

Darüber hinaus sind erhebliche Zweifel angebracht, inwieweit der zentrale empirische Befund, es habe ein signifikanter Anstieg innerstaatlicher Gewaltkonflikte stattgefunden, überhaupt zutreffend ist. Einzig das Datenmaterial des »Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung« scheint diese These zu bestätigen. Es beschreibt einen kontinuierlichen Anstieg der Gewaltkonflikte von 1945 (74) bis 2004 (230) bei einer erheblichen Zunahme von inner- und einem leichten Rückgang zwischenstaatlicher Kriege. Demgegenüber betonen aber zahlreiche andere Studien, dass innerstaatliche Kriege seit 1992 entweder eine stark rückläufige Tendenz aufweisen oder zumindest stagnieren. In diesem Kontext hat der 2005 veröffentlichte »Human Security Report« breite Aufmerksamkeit erlangt, der zu dem Ergebnis kommt, es habe einen dramatischen Rückgang innerstaatlicher Konflikte, deren Opfer und Vertriebene gegeben.[25] Zumindest die Aussage, es habe eine »drastische « Zunahme innerstaatlicher Konflikte stattgefunden, erscheint also mehr als fraglich: Somit liegt in „Bezug auf die Behauptung des Phänomens neuer Kriege …schon in quantitativer Hinsicht eine Fehlperzeption vor.“[26]

Ebenso verhält es sich mit der These einer Brutalisierung der Gewalt: „Bürgerkriege … haben sich von jeher durch besondere Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit ausgezeichnet … Von einer ‘neuen’ Entwicklung kann also hier ebenfalls nicht gesprochen werden.“27 Weder was sexuelle noch was ethnische Gewalt anbelangt, scheint die jüngere Vergangenheit eine signifikante Ausnahme von der unbestritten grausamen, aber eben nicht neuen Regel innerstaatlicher Konflikte darzustellen.[28]

Eine moralische und sicherheitspolitische Bankrotterklärung

An dieser Stelle muss deutlich betont werden, dass mit den vorgebrachten Kritikpunkten in keiner Weise die grausame Realität heutiger Kriege verharmlost oder relativiert werden soll – im Gegenteil. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie sich die Vertreter der »Neuen Kriege« mithilfe empirisch schwach belegter Thesen zum Steigbügelhalter für die militärische Durchsetzung europäischer Interessen machen und diese zugleich legitimieren, was gleichzeitig friedens- wie sicherheitspolitisch katastrophale Folgen nach sich zieht.

Steigbügelhalter europäischer Interessenspolitik

Angesichts der vorliegenden Daten muss man sich fragen, wie zu dem Schluss gekommen werden kann, militärischer »Stabilitätsexport« sei überhaupt praktikabel. Denn um moralisch konsistent zu bleiben, müsste sich unterschiedslos mit den gravierend fehlgeschlagenen Staaten beschäftigt werden, was schlicht unmöglich ist, wie eine Studie des »Defence Science Board«, dem wichtigsten wissenschaftlichen Beratungsgremium des Pentagon, belegt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass für eine nachhaltige Stabilisierung fehlgeschlagener Staaten 20 Soldaten pro 1000 Einwohner für 5-8 Jahre stationiert werden müssen. Auf dieser Grundlage würden für den Kongo z.B. mehr als 1.2 Mio. Soldaten benötigt, allein der Gesamtbedarf zur Stabilisierung der 20 kritischsten Staaten beliefe sich auf ziemlich genau 10 Millionen Soldaten in Besatzungstruppen.[29]

Man kann sicher sein, dass die hierfür erforderlichen personellen wie materiellen Ressourcen niemals bereitgestellt werden. Damit kann der geforderte »Stabilitätsexport« zwangsläufig nur selektiv geschehen, was im Übrigen von Mary Kaldor offen eingeräumt wird. Während sie jedoch hierfür durchaus noble Kriterien anführt, insbesondere die Schwere der Menschenrechtsverletzungen, ist es nicht zu gewagt anzunehmen, dass in der Praxis primär ökonomische und strategische Gründe den Ausschlag für einen Einsatz geben werden. Die »Neuen Kriege« machen sich damit bewusst oder unbewusst zum Steigbügelhalter für die Durchsetzung einer immer offensiver formulierten europäischen Interessenspolitik, die eindeutig ausbeuterischen Charakter hat.[30]

Angesichts der mangelnden Begeisterung für derlei Auslandseinsätze in der Bevölkerung, stellt Klaus Jürgen Gantzel in diesem Kontext deshalb völlig zu Recht die Frage, „ob die ‘Neuentdecker’ – bewusst oder unbewusst, zumindest unbedacht – nicht einer tieferen Strömung zu Diensten sind. Ihre generalisierenden Darstellungen einer unmenschlichen Kriegswelt wecken diffuse Bedrohungsgefühle, die geeignet sind, einer sich bis in Privatzonen hineinfressenden Sicherheitspolitik den Weg zu ebnen, die letztlich zerstört, was zu schützen sie vorgibt: eine starke demokratische Gesellschaft. Solche Bedrohungsgefühle können aber auch dazu genutzt werden, einem bloßen Draufhauen Vorschub zu leisten, etwa auf eine erfundene ‘Achse des Bösen’.“[31]

(Un)Sicherheitsexport und die Fehlallokation von Ressourcen

Wenn Münkler meint, es sei notwendig, „stärker den Blick auf die sich mit den Mitteln militärischer Gewalt durchsetzenden ökonomischen Interessen zu richten“, so ist einzuwenden, schreibt Horst Großmann, „dass er im wesentlichen die Ökonomie auf die ökonomischen Interessen regional agierender Subjekte, Kriegsfürsten, Warlords u.s.w. reduziert und sie von den ökonomischen Interessen der kapitalistischen Großmächte abkoppelt.“[32]

Damit wird auch bewusst ausgeblendet, dass die westlichen Staaten wenig tun, um diese Konflikte und deren Finanzierung zu unterbinden, ja sie häufig, z.B. über Rüstungsexporte, sogar anheizen. Vor allem aber greifen Habgier und Staatszerfall als gewaltauslösende Faktoren deutlich zu kurz, da sie lediglich Symptome sind, die nicht mit Ursachen verwechselt werden dürfen. Inzwischen haben eine ganze Reihe von Studien, u.a. von der Weltbank, belegt, dass Armut der mit weitem Abstand bedeutendste Faktor für das gewaltsame Aufbrechen innerstaatlicher Konflikte ist.[33] Unter diesem Blickwinkel ist es die von sämtlichen westlichen Staaten propagierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung, in deren Folge weite Teile der Dritten Welt dramatisch verarmten, die entscheidend zur gewaltsamen Eskalation von Konflikten beiträgt.

Kaldor räumt diese konfliktverschärfende Wirkung neoliberaler Zwangsmaßnahmen zwar ebenso ein, wie die Tatsache, dass Armut ein wichtiger Eskalationsfaktor ist. Allerdings kommt sie zu dem Schluss, dass erst in Folge einer militärischen Besatzung tragfähige Ökonomien aufgebaut werden könnten, da Sicherheit die Vorbedingung für Entwicklung sei. Zur Armutsbekämpfung auf das militärische Pferd zu setzen heißt aber in die falsche Richtung zu galoppieren. Hierzulande mag es noch Illusionen über den altruistischen Charakter westlicher Protektorate geben, bei vielen Betroffenen ist die Ernüchterung schon längst in Wut und zunehmend auch in Hass auf die ausbeuterische Politik des Westens umgeschlagen. „Destroy and Profit“, benennt »Focus on the Global South« die Ziele westlicher Besatzungspolitik, „Afghanistan Inc.“, ist der ebenso viel sagende wie vernichtende Titel einer ausführlichen Studie der Afghanin Fariba Nawa, über den neoliberal ausgerichteten »Wiederaufbau« ihres Landes.[34]

Wer Sicherheit und Staatlichkeit herbeibomben will, um Länder anschließend so lange unter westliche Schirmherrschaft zu stellen, bis sie neoliberalen Spielregeln gehorchen, perpetuiert den Teufelskreis aus Armut und Gewalt und kann nicht glaubhaft die Moral für sich reklamieren. Genau das ist aber die traurige – nebenbei völkerrechtswidrige – Praxis, die sich hinter dem beschönigenden Begriff des Stabilitätsexports verbirgt. Exportiert wird nicht Stabilität, sondern lediglich mehr Armut, mehr Leid und letztlich auch weitere Konflikte, die es wiederum militärisch zu »befrieden« gilt. Für Herfried Münkler jedenfalls ist es der „Prozess der wirtschaftlich ausgelösten Erosion bestehender Ordnungen, der ihre machtpolitische Stabilisierung von außen erforderlich machte. (Deshalb) erscheinen die zahlreichen humanitären militärischen Interventionen des vergangenen Jahrzehnts – von der Verhinderung bis zur Beendigung von Bürgerkriegen – als Nachfolge der nicht intendierten Effekte des neuerlichen Globalisierungsprozesses. Der humanitäre Imperialismus, von dem einige Autoren sprechen, wäre dann nichts anderes, als die politische Nachbearbeitung der Spuren, die der sozioökonomische Prozess der Globalisierung hinterlassen hat.“[35]

Mit dieser militärischen Flankierung des Neoliberalismus, die Münkler keineswegs ablehnt, sondern für erforderlich hält, wird aus friedenspolitischer Sicht einer gigantischen Fehlallokation von Ressourcen Vorschub geleistet. Einerseits wird gefordert, Milliarden in die Rüstung zu pumpen, um für einen militärischen »Stabilitätsexport« gerüstet zu sein, der lediglich selektiv die Durchsetzung europäischer Interessen legitimiert und dessen stabilisierende Wirkung – gelinde gesagt – umstritten ist. Auf der anderen Seite aber werden gleichzeitig die Abermillionen Opfer der in unserem Wirtschaftssystem begründeten strukturellen Gewalt weitgehend ignoriert, für sie ist kein Geld da. Eine radikale Umschichtung von Rüstungsgeldern hin zur Armutsbekämpfung in Kombination mit einem grundsätzlichen Kurswechsel weg vom Neoliberalismus würde den effektivsten Beitrag für eine friedlichere Welt und damit die einzig moralisch vertretbare Position darstellen.

Rekrutierungshilfe für Terrororganisationen

Auch der von Münkler geforderte »Stabilitätsexport« im Sinne einer Anti-Terror-Maßnahme erweist sich als hochgradig kontraproduktiv. Robert Pape, einer der bekanntesten US-Politikwissenschaftler, fand in einer breit angelegten Studie heraus, dass praktisch sämtliche Selbstmordattentäter „kein religiöses, sondern ein eindeutig strategisches Ziel verfolgten: Die Demokratien dazu zu zwingen, ihre Truppen aus dem Land, das die Terroristen als ihre Heimat betrachten, abzuziehen.“[36] Mehr und mehr Menschen in der Dritten Welt wird bewusst, dass sie es mit Okkupanten, nicht mit Wohltätern zu tun haben, weshalb sie die Besatzer lieber heute als morgen aus ihrem Land jagen wollen. Dabei steigt auch der Anteil derjenigen, die bereit sind, sich gewaltsam gegen den zunehmend als ausbeuterisch wahrgenommenen Westen zur Wehr zu setzen.
Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher, als am Beispiel Afghanistan. Angesichts der Forderung der Friedensbewegung, die Besetzung des Landes sofort zu beenden und die deutschen Truppen abzuziehen, ging der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, mit einer scharfen Anklage in die Offensive: „Völlig negiert wird, dass die Stabilisierung und Friedensförderung in Afghanistan von den Vereinten Nationen mandatiert und unterstützt wird und dass sich ein nicht unwichtiges VN-Mitglied wie die Bundesrepublik nicht einfach einseitig aus diesem Prozess verabschieden kann. Die Friedensverbände fordern das aber – und reden damit einer anderen Art von destruktivem Unilateralismus das Wort, ausdrücklich nichtmilitärisch, aber indirekt gewaltfördernd.“

Die Realität vor Ort stellt sich aber anders dar. Der US-Botschafter in Kabul, Ronald Neumann, prophezeit einen „blutigen Sommer“, der sich bereits durch vermehrte Anschläge ankündigt. Markus Kneip, Kommandoführer über ISAF-Nord, gibt an, die Lage sei „eindeutig nicht ruhig und nicht stabil.“ Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, räumt offen ein: „Wir haben uns getäuscht in der Resonanz unserer Bemühungen. (Offenbar) ist die Annahme, die Masse der Bevölkerung stünde hinter Präsident Hamid Karsai und den Isaf-Truppen, nicht ganz zutreffend. Es sind nicht nur wenige entschlossene Terroristen, die uns bedrohen. Viele Afghanen stehen als Unterstützer zur Verfügung.“[37]

Die Entwicklung in Afghanistan und im Irak beweist täglich: Mit militärischer Besatzung werden weder die Probleme dieser Länder noch das des Terrorismus gelöst. Im Gegenteil, die mit der Besatzung verbundene Gewalt und ökonomische Ausbeutung sowie die offensichtlich im System liegenden Menschenrechtsverletzungen lassen die Gewalt eskalieren und treiben den Terroristen neue Rekruten in die Arme. Die Position der »Neuen Krieger« ist somit destruktiv und gewaltfördernd, sie ist eine moralische Bankrotterklärung.

Anmerkungen

1) Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege, Frankfurt 2000, S. 7.
2) Matthies, Volker: Der vernachlässigte Blick auf den Frieden, in: Der Bürger im Staat, 4/2004, S. 185-190, S. 186.
3) Kaldor 2000, S. 27.
4) Vgl. Pradetto, August: Neue Kriege, in: S. Gareis und P. Klein (Hg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Opladen 2004, S. 192-202, S. 192f.
5) Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Bonn 2002, S. 7.
6) Vgl. Kaldor 2000, S. 15ff; Münkler 2002, 33ff.
7) Vgl. Münkler 2002, S. 28, 145; Kaldor 2000, S. 8.
8) Münkler 2002, S. 161.
9) Münkler 2002, S. 16.
10) Kaldor 2000, S. 12.
11) Münkler 2002, S. 19.
12) Münkler 2002, S. 135. Auch für Kaldor 2000, S. 21 liegt der „Schlüssel“ in der „Wiederherstellung einer – sei es lokalen, nationalen oder globalen – öffentlichen Kontrolle der organisierten Gewalt.“
13) Kaldor 2000, S. 197.
14) Beck, Ulrich: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter 8/99, S. 984-990, S. 987.
15) Münkler 2002, S. 227.
16) Münkler 2002, S. 221.
17) Münkler 2002, S. 226.
18) Posener, Michael: Empire Europa, in: IP (Januar 2006), S. 60-67, S. 60.
19) Menzel, Ulrich: Wenn die Staaten verschwinden, taz, 30.8.03.
20) Kaldor 2000, S. 211.
21) Münkler, Herfried: Das imperiale Europa, Die Welt, 29.10.04.
22) Münkler 2002, S. 240.
23) Chojnacki, Sven: Wandel der Kriegsformen?, in: Leviathan, 3/2004, S. 402-424, S. 407; Vgl. Pradetto 2004, S. 196.
24) Kahl, Martin/Teusch, Ulrich: Sind die ‘neuen Kriege’ wirklich neu?, in: Leviathan, 3/2004, S. 382-401, S. 400.
25) Vgl. HIIK: Konfliktbarometer 2004, Dezember 2004; Andrew Mack (ed.), Human Security Report 2005, New York/Oxford 2005; und ausführlich Kahl/ Teusch 2004, S. 386ff.
26) Pradetto 2004, S. 197f.; Kahl/ Teusch 2004, S. 388.
27) Kahl/ Teusch 2004, S. 393f.
28) Vgl. Chonjacki 2004, S. 412; Pradetto 2004, S. 196.
29) Preble, Christopher/Logan, Justin: Failed States and Flawed Logic, CATO Policy Analysis 560/2006, S. 18.
30) Vgl. hierzu die Beiträge in Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen (Hg): Welt-Macht EUropa: Auf dem Weg in weltweite Kriege, Hamburg 2006.
31) Gantzel, Klaus Jürgen: Neue Kriege?, in: Friedensgutachten 2002, S. 80-89, S. 88f.; Vgl. auch Pradetto 2004, S. 195.
32) Großmann, Horst: Die »neuen Kriege«, in: DSS-Arbeitspapiere Heft 70, S. 73-84, S. 80.
33) Vgl. World Bank, Breaking the Conflict Trap, Oxford 2003.
34) Nawa, Fariba: Afghanistan Inc., Oakland 2006; Destroy and Profit, FGS, January 2006.
35) Münkler, Herfried: Imperien, Bonn 2005, S. 48f.
36) Pape, Robert: The Logic of Suicide Terrorism, The American Conservative, July 18, 2005.
37) Alle Zitate in Wagner, Jürgen: Afghanistan steht vor einem »blutigen Sommer«, in: AUSDRUCK (Juni 2006), S. 9.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied des W&F Redaktionsteams