IMI-Analyse 2004/038

Die Blaupause für Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 8. Dezember 2004

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7.000 Soldaten umfasst die sogenannte ALTHEA-Mission, die im Dezember 2004 die Führung des Militäreinsatzes in Bosnien von der NATO übernahm. ALTHEA symbolisiert damit nach den bereits 2003 erfolgten Einsätzen auf dem Balkan (Mazedonien) und in Afrika (Kongo) den – vorläufigen – Höhepunkt der Militarisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP). Über drei zentrale Dokumente wird diese Militarisierung vorbereitet, legitimiert und weiterentwickelt: Während sich Europa mit seiner Verfassung endgültig von dem Projekt einer Zivilmacht verabschiedet, benennt die Europäische Sicherheitsstrategie Interessen, Bedrohungen und Ambitionen mit denen europäische Militäreinsätze künftig legitimiert werden sollen. Das „European Defence Paper“ schließlich präzisiert den Zusammenhang zwischen EU-Interessen und künftigen EU-Kriegen und entwirft hierfür konkrete Einsatzszenarien.

Der verfassungsrechtliche Abschied von der „Zivilmacht EU“

Geht es nach den Staat- und Regierungschefs der EU soll die von ihnen am 29. Oktober unterzeichnete Verfassung so schnell wie möglich ratifiziert werden. Falls es dazu kommen sollte ist spätestens dann das Projekt „Zivilmacht EU“ endgültig gescheitert, wie die friedens- bzw. militärpolitischen Bereiche der Verfassung zeigen. Besonders problematisch sind die Festschreibung weltweiter EU-Kampfeinsätze, eine explizite Aufrüstungsverpflichtung und die Aushebelung des Parlamentsvorbehalts hinsichtlich künftiger Entscheidungen über EU-Interventionen.[1] Durch die im Dezember 2003 einvernehmlich verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie (besser bekannt als „Solana-Papier“) mit dem viel versprechenden aber grob irreführenden Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ einigte man sich erstmalig auf ein gemeinsames Strategiepapier. Auf dessen Grundlage wurde nun mit dem European Defence Paper auf Anweisung der EU-Regierungen eine weitere Ausplanung künftiger EU-Kriege vorgenommen.

Die Zukunft europäischer Kriege: Das European Defence Paper

Unter dem vollen Titel „Europäische Verteidigung: Ein Vorschlag für ein Weißbuch“,[2] veröffentlicht vom Institute for Security Studies (ISS), dem wichtigsten EU-eigenen Think Tank, präsentierte eine hochrangig besetzte Expertengruppe verschiedene militärische Einsatzoptionen, zu denen die EU ab 2010 in der Lage sein soll. Dieser Horrorkatalog wird allenthalben als Blaupause für die weitere Entwicklung der europäischen Militärpolitik betrachtet und verdient deshalb größte Aufmerksamkeit.
Mehrere Aspekte sind an dem Dokument bemerkenswert. Vor allem zu nennen sind hierbei die Offenheit mit der der Zusammenhang zwischen europäischen Interessen und aus ihnen abgeleiteten militärischen Einsatzoptionen benannt wird; das Interesse an einer militärischen Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung; Präventivkriege die nicht einmal vor nuklearen Einsatzoptionen halt machen; die starke Betonung militärisch für die Absicherung von Handels- und Rohstoffströmen sorgen zu müssen; sowie das konkurrenzielle Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Für diese Interessenskomplexe entwirft das Defence Paper schließlich konkrete Einsatzszenarien verbunden mit einer Analyse, welche Kapazitäten derzeit noch fehlen, um diese Kriege künftig „erfolgreich“ führen zu können.

Die Rückkehr des Interessensbegriff

Während man es lange Zeit eher vermied deutlich europäische Interessen zu benennen, die gegebenenfalls auch militärisch gewahrt werden müssen, lässt dass Defence Paper diesbezüglich jegliche Zurückhaltung vermissen: „Die Union ist ein strategischer Akteur mit Werten und Interessen die es zu schützen und zu verbreiten gilt.“ (S. 13) Das Papier unterscheidet dabei zwischen „Werteinteressen“ und „vitalen Interessen“, aus diesen Interessen leitet es „Missionen“ ab, die deren militärischen Schutz beinhalten.

Europas „Werteinteresse“: Die militärische Absicherung neoliberaler Globalisierung

Dass Globalisierung und neoliberale Weltwirtschaftsordnung für Europas Strategen ein und dasselbe sind, wird aus den entsprechenden Passagen von Verfassung und Sicherheitsstrategie ebenso deutlich, wie das Bestreben für die militärische Ausweitung und Absicherung dieser Ordnung zu garantieren.[3]
Dieses Ziel wird im Defence Paper als „Werteinteresse“ definiert, das nur wenig verschleiert die Einhaltung „universell akzeptierter Normen und Werte“ beinhalte. Generell strebe europäische Außenpolitik „die Stärkung einer regelbasierten internationalen Ordnung“ (S. 13) an. Dabei wird die Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung explizit zu einer militärischen Aufgabe erhoben, indem als „Missionen“ folgende Maßnahmen genannt werden: „Stabilitätsexport zur Sicherung und Stärkung fundamentaler Normen und Freiheiten; humanitäre Hilfe; Friedenserhaltung; friedenschaffende Maßnahmen“ (S. 13).

Tabelle 1: Nur im PDF

Interessant und wesentlich ist, dass der Zusammenhang zwischen neoliberaler Globalisierung, Verarmung weiter Teile der Welt und daraus resultierender Konflikte explizit anerkannt wird. Umso vielsagender ist es, dass man ausschließlich besorgt ist, militärisch den Dampfkessel dieser Armutskonflikte unter Kontrolle zu halten, anstatt diese Ausbeutungspolitik zu beenden: „Die Globalisierung schafft auch Spannungen und Konflikte. Ökonomische Krisen, versagende Regierungen, ethnische Gewalt und religiöse Feindschaften werden durch den Graben zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen verstärkt. Diese Trennlinien kreuzen das alte geopolitische System, das auf Territorien und Souveränität basiert.“ (S. 16) Eigentlich kann aus dieser Feststellung nur ein Schluss gezogen werden: Dass die Beendigung der neoliberalen Ausbeutungspolitik die beste und einzig vernünftige Sicherheitsstrategie darstellt. Da Europas Herrschende hierzu aus offensichtlichen Gründen nicht bereits sind, werden militärische „Missionen“ künftig alltäglich werden, um Armutskonflikte, die diese Weltwirtschaftsordnung gefährden könnten wortwörtlich zu bekämpfen.[4]
Explizit benennt das Defence Paper bspws. den „Zusammenbruch staatlicher Strukturen in Afrika“ als direkte Gefahr für Europa. (S. 20) Folgerichtig soll künftig die „superschnelle Einsatztruppe“, wie Frankreichs Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie die neuen 1.500 Mann starken EU-Schlachtgruppen (battlegroups) nennt, �vor allem in Afrika� – aber natürlich nicht ausschließlich dort, eingesetzt werden können.[5]

Europas Imperium

Im Defence Paper findet sich auch eine offensichtlichen Anspielung auf die Schriften Robert Coopers, Javier Solanas rechter Hand. Genauso wie Cooper, der Europas regelbasierten Postmodernismus feiert, frägt sich auch das ISS-Papier, ob „der Postmodernismus in einer Region wirklich funktionieren kann“ (S. 21) und kommt natürlich zu dem Schluss, man könne es sich nicht leisten, dass Staaten sich außerhalb der Spielregeln der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung bewegen. Länder, die es an Demokratie und freien Märkten vermissen lassen, würden automatisch zu „fehlgeschlagenen Staaten, was den Terrorismus, Proliferation und manchmal beides befördert.“ (S. 26) Tatsächlich ist es die vom Neoliberalismus ausgelöste Verarmung, die die Hauptursache für das Ausbrechen von gewaltsamen Konflikten in der Dritten Welt ist, wie selbst die Weltbank inzwischen einräumt.[6] Trotzdem – oder besser deswegen – plädiert Cooper dennoch für den „freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt.“[7]
Da eine Ablehnung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung aus Sicht der EU-Strategen letztlich zu einer Zunahme von Terrorismus und Proliferation führt, spricht sich Cooper dafür aus, die Segnungen des „Imperialismus der globalen Ökonomie“ auch denjenigen zu teil werden zu lassen, die seine Begeisterung hierfür aus verständlichen Gründen nicht teilen, zur Not mit nicht ganz so freiwilligen militärische Mitteln. So wird aus der Verbreitung des neoliberalen Systems ein sicherheitspolitisches Interesse erster Priorität: „Das Ziel ist die Entstehung eines ‚Rings von Freunden‘ in Osteuropa und dem Mittelmeer, aneinander gebunden über gleiche Werte, offene Märkte und Grenzen.“ (S. 24)
Dies erinnert nicht von ungefähr an Herfried Münkler, seines Zeichens „Vater“ der Theorie der neuen Kriege und einer der prominentesten deutschen Politikwissenschaftler. Für Münkler bedingt das weltumspannende segensreiche neoliberale System, dass den „Systemadministratoren“ ähnlich der Polizei im Inland ein legitimes Gewaltmonopol in Form ihres Militärs zukommt, um den „Sturz ins Chaos“, von dem eine direkte Gefahr für Europas Sicherheit ausgehe, zu verhindern.[8] Für ihn dienen militärische Interventionen nicht mehr egoistischen einzelstaatlichen Interessen, sondern dem „Gemeinwohl“: Krieg wird zu einer Frage der inneren Sicherheit umdefiniert. In diesem Zusammenhang wundert es dann auch nicht mehr weiter, wenn Imperialismus und die aberwitzige Idee eines Europäischen Imperiums plötzlich eine positive Konnotation erhalten: „Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso lassen sich Imperien aber auch als Friedensgaranten, Aufseher über politische und kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen.“[9]
Da es im Inland wie im Ausland natürlich Verlierer dieser Ordnung gibt plädiert Münkler folgerichtig für „die Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern. In diesem Modell gibt es zentrale Regionen, die müssen inkludiert, also territorial kontrolliert werden – das ist zum Beispiel die Golfregion.“ Offen wird von ihm eine Interventionspolitik Marke „The West Against the Rest“ propagiert: „Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen ‚imperialen Barbarengrenzen‘ der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum.“ Die Frage, „ob Europa überhaupt die Möglichkeit hat, dem Zwang zur Imperialität zu entgehen,“ – in Anlehnung an das Defence Paper, die Frage ob „Postmodernismus in einer Region wirklich funktionieren kann“, beantwortet sich mit solchen Analysen natürlich wie von selbst: „Irgendwann muss – und wird – Schluss mit der Erweiterung zu Bedingungen der Vollintegration sein. […] Dann entstehen an den Grenzen Europas jene Gefällestrukturen, die typisch sind für imperiale Machtformen. Deshalb werden wir lernen müssen, die Kategorie des Imperiums in Zukunft […] vielmehr als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates“ zu denken.[10] Letztlich spricht Münkler damit lediglich offen aus, was implizit in der europäischen Verfassung, der Sicherheitsstrategie und im Defence Paper angelegt ist. Neben diesem eher allgemeineren Interesse an der Absicherung des neoliberalen Weltwirtschaftsmodells, kommt das ISS-Papier aber auch auf handfestere Interessen zu sprechen.

Öl und Handel als vitale Interessen

Spätestens, wenn in einem europäischen Dokument der Begriff des „vitalen Interesses“ (S. 13.) auftaucht, der wie in amerikanischen Strategiepapieren anzeigt, dass bei deren Bedrohung militärische Einsätze selbstverständlich sind, sollten die Alarmglocken läuten. Als ein solches „vitales Interesse“ benennt das Defence Paper die „ökonomische Überlebensfähigkeit“. Die hierfür erforderliche „Mission“ sei der „Stabilitätsexport zum Schutz von Handelsrouten und dem Fluss von Rohstoffen.“ (S. 13)

Tabelle 2: Nur im PDF

Da man keinesfalls auf die militärische Wahrung seiner vitalen Interessen verzichten möchte, visiert auch das Defence Paper eine Präventivkriegsstrategie an.

Europäische Präventivkriege und das Ende der Abschreckung

In Anlehnung an die amerikanische Nuklearstrategie, kommt auch das Defence Paper zu dem Ergebnis, Terroristen könnten nicht abgeschreckt, also über die Drohung mit massiver Vergeltung von einem Angriff abgehalten werden. „Klassische Abschreckung ist irrelevant gegen solche Gruppen“, weshalb „präemptive Operationen entweder mit polizeilichen oder militärischen Kräften gegen eine Gruppe und sein Netzwerk“ notwendige Einsatzoptionen seien (S. 17). Mit dem erwähnten Netzwerk trägt das Papier dem offensichtlichen Umstand Rechnung, dass solche Operationen notgedrungen in einem bestimmten Staat in dem terroristische Gruppen vermutet werden stattfinden müssen und übernimmt damit praktisch die amerikanische Präventivkriegsstrategie.
Während es im Falle von terroristischen Gruppen zumindest umstritten ist, ob sie sich tatsächlich unter keinen Umständen abschrecken lassen, trifft dies ganz sicher nicht für sogeannnte Schurkenstaaten zu. Bekanntlich ist deren oberstes Ziel der Erhalt ihrer staatlichen Integrität. Gerade hierin liegt die Ursache, weshalb viele von ihnen versuchen an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, da sie verständlicherweise bestrebt sind, sich vor den teils recht unverhohlenen Interventionsdrohungen und Ankündigungen militärischer Regimewechsel zu schützen.[11]
Dennoch kommt das ISS-Papier zu folgender Bedrohungsanalyse: „Als erstes besteht die Gefahr, dass Pjöngjang eine ballistische Rakete mit 10.000 Kilometern Reichweite entwickeln könnte, die Europa direkt treffen könnte.“(S. 18) Als ob Kim Jong Il keine anderen Sorgen hätte, als aus dem Nichts heraus Europa anzugreifen und damit sein Schicksal endgültig zu besiegeln. Trotzdem müssen solche Szenarien herhalten, um das eigentliche Interesse zu verschleiern. Denn nicht das Versagen des Prinzips der Abschreckung ist das Problem, sondern, dass sie funktioniert, wie das Defence Paper recht offen zugibt: „eine Nuklearisierung des höchst instabilen Mittleren Ostens hätte direkte Konsequenzen für Europa…Manche mögen argumentieren, dass diese Proliferationsrisiken keine direkte militärische Gefahr für die Union als solche darstellen, aber da 50 Prozent des europäischen Energiebedarfs aus dieser Region kommt, sind sie eine direkte Bedrohung.“ (S. 18f. Hervorhebung JW) Wie die hieraus abgeleiteten Einsatzszenarien verdeutlichen – hierzu später mehr – will man mit allen notfalls auch militärischen Mitteln sicherstellen, dass ein ölreiches Land seine Ressourcen im Sinne Europas verwendet. Dies bedeutet folgerichtig präventiv zu verhindern, dass ein Land über die Fähigkeit verfügt mittels Massenvernichtungsmittel ein solches Eingreifen abzuschrecken. Selbst die nukleare Option wird dabei offengehalten.

Der „implizite“ Atomkrieg

„Die Vorstellung eines nuklearen Angriffskrieges ist jetzt auch auf europäischer Ebene verankert worden. Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium und Mitautor des ‚European Defence Paper‘, stellt zufrieden fest, dass das Thema ‚Präemption/Prävention‘ in dem Dokument zwar vorwiegend unter dem Aspekt von Kriegseinsätzen mit konventionellen Streitkräften und operativen Spezialkräften behandelt wird. ‚Immerhin‘ werde aber die Möglichkeit erwähnt, britische und französische Nuklearstreitkräfte ‚explizit oder implizit‘ einzubeziehen.[12] Im Papier selber heißt es bezüglich künftiger EU-Kriegseinsätze: „Wir haben es nicht vermieden Szenarien zu präsentieren, in welchen die nationalen Nuklearstreitkräfte europäischer Mitgliedstaaten (Großbritannien und Frankreich) entweder explizit oder implizit in die Planung mit einfließen könnten.“ (S. 68) Da Massenvernichtungsmittel, die in tief verbunkerten Zielen lagern mit konventionellen Mitteln nicht zu zerstören sind, ist nukleare Prävention bereits Bestandteil der nationalen Doktrinen beider europäischer Atommächte.[13]
Dass in den konkreten Szenarien die nukleare Option nicht explizit erwähnt wird, dürfte eher dem zu erwartenden Aufschrei innerhalb Europas denn etwaiger moralischer Bedenken geschuldet sein. Obwohl auch in dieser Frage eine weitgehende Überschneidung mit US-amerikanischen Strategiepapieren besteht, kommt im ISS-Papier dennoch auch recht offen das konkurrenzielle Verhältnis zwischen Washington und Brüssel zur Sprache.

Ami-bashing
Das Defence Paper ist ein weiterer Schritt auf Europas Weg „eine Supermacht auf dem europäischen Kontinent, ebenbürtig mit den Vereinigten Staaten,“ zu werden, wie der ehemalige EU-Kommissar Romano Prodi das Hauptziel der Union formulierte.[14] Das ISS-Papier konstatiert allerdings nüchtern, dass Washington alles andere als gewillt ist, dies zuzulassen: „Die Arbeitshypothese der Nationalen Sicherheitsstrategie unterstreicht Amerikas unanfechtbare weltweite Vorherrschaft. Aber diese beispiellose Hegemonialposition … muss aufrechterhalten werden, um andere Staaten davon abzuhalten die amerikanische Machtfülle herauszufordern … Keinem Staat wird es erlaubt, mit den USA gleichzuziehen.“ (S. 30)
Da dies offensichtlich mit den europäischen Präferenzen kollidiert, folgt im Defence Paper eine ganze Litanei harscher Vorwürfe: Die USA hätten „revisionistische Ambitionen“, sie verfolgten einen „manichäischen Ansatz“, geprägt von einer „ideologischen Perspektive“ sowie „missionarischem Eifer“ der „Krieg als Lösung der neuen Sicherheitsprobleme“ betrachtet. (S. 35 Hervorhebung im Original) Zwar treffen diese Beschuldigungen weitgehend zu, aus dem Munde derjenigen, die sich bspws. 1999 beim Überfall auf Jugoslawien noch prächtig mit den USA verstanden, wirft dieser neue kritische Ansatz Fragen nach dessen eigentlicher Motivation auf. Umso mehr, da von den fünf im Defence Paper anvisierten Einsatzmöglichkeiten künftig vier unter alleiniger europäischer Führung, also vollständig unabhängig von Washington durchführbar sein sollen. Dies ist ein deutliches Zeichen, dass man bestrebt ist, notfalls auch gegen den Willen der USA eigene Interessen wahrnehmen zu können.

Die Praxis künftiger EU-Kriege

Aus den zuvor beschriebenen Interessen leitet das Papier folgende fünf Einsatzszenarien ab, zu denen europäisches Militär künftig in der Lage sein soll:

1. Friedenserhaltene Einsätze
Das Papier geht nach dem Vorbild des KFOR-Einsatzes im Kosovo von der Notwendigkeit aus, 30.000 Soldaten drei Jahre lang in einem Land zu stationieren, das bis zu 2.000 Kilometer um Brüssel entfernt liegt. Die erforderlichen Kapazitäten hierfür seinen bereits vorhanden. (S. 71-76)

2. Humanitäre Interventionen
Im Falle angeblicher oder tatsächlicher humanitärer Katastrophen will man künftig mit 10.000 Soldaten im Umkreis von 5.000 Kilometern um Brüssel Einsätze ein Jahr lang durchführen können. So gut wie alle Fähigkeiten für derartige Interventionen für die Bosnien und Ruanda als Vorbilder genannt werden, seien bereits vorhanden. (S. 76-80)

3. Präventive Verhinderung eines Angriffs mit Massenvernichtungsmitteln
Das Defence Paper betont die Notwendigkeit, künftig Präventivkriege zur Zerstörung terroristischer Strukturen und/oder deren Massenvernichtungsmittel führen zu können. Zwar ist in dem Dokument permanent von nicht-staatlichen Akteuren die Rede, selbstverständlich beinhalten solche Einsätze aber immer – wie auch das im Papier benannte Vorbild, Enduring Freedom in Afghanistan zeigt – einen Angriff auf die Länder, die beschuldigt werden Terroristen zu beherbergen. Für diese Einsätze benötige man etwa 5.000 Soldaten, wobei ein weltweites Operationsgebiet vorgesehen ist. Nach einem solchen Einsatz müsse wahrscheinlich eine friedenserhaltende Operation durchgeführt werden. Defizite bestünden vor allem in den Bereichen schnelle Verlegefähigkeit und Satellitenaufklärung, die es zu schließen gelte.(S. 87-93)

4. Heimatschutz
Europäisches Militär soll zur Verteidigung vor terroristischen Angriffen innerhalb des EU-Gebietes eingesetzt werden können. (S. 93-98) Dies soll wohl auch die Option eröffnen innereuropäischen Unruhen, wie sie von Seiten des Militärs vor allem hinsichtlich der massiven Verarmung der neuen EU-Mitglieder in Osteuropa befürchtet werden, gegebenenfalls militärisch zu begegnen.[15]

5. Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen
Jegliche Masken werden im letzten Szenario fallengelassen: „Künftige regionale Kriege könnten europäische Interessen tangieren … indem europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedroht werden. Bspws. durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder einer massiven Erhöhung der Energiekosten, [oder] der Störung der Handels- und Warenströme.“ (S. 81) Konkret wird folgendes offensichtlich an den Golfkrieg 1991, der auch offen als Vorbild benannt wird, erinnernde Szenario beschrieben: „In einem Land x, das an den indischen Ozean grenzt haben anti-westliche Kräfte die Macht erlangt und benutzen Öl als Waffe, vertreiben Westler und greifen westliche Interessen an.“(S. 83) Ziel sei es „das besetzte Gebiet zu befreien und die Kontrolle über einige der Ölinstallationen, Pipelines und Häfen des Landes x zu erhalten.“ (S. 83)

Während alle vorherigen Szenarien von der EU entweder im Alleingang oder als alleinige Führungskraft bewältigt werden sollen, scheint letzteres dann doch noch eine Nummer zu groß, da das Defence Paper betont, ein solcher bis zu 4.500 Kilometer von Brüssel entfernter Einsatz könne auf absehbare Zeit nur im Verbund mit den USA bewältigt werden. Trotzdem zeigt die im Papier festgelegte Zielgröße einer europäischen Beteiligung mit 60.000 Soldaten an einer insgesamt 250.000 Truppen umfassenden Interventionsarmee, dass man über eine stärkere Beteiligung auch größere Mitspracherechte anstrebt – die völlige Bedeutungslosigkeit mit der Washington europäische bzw. deutsche und französische Interessen während der letzten US-amerikanisch geführten Kriege behandelte, ist keineswegs in Vergessenheit geraten und soll sich nicht nochmals wiederholen.

Ressourcen für den militärischen Leviathan EU

Auf Grundlage dieser Einsatzszenarien kommt das Defence Paper zu dem Ergebnis, dass zwischen 150.000 und 200.000 Soldaten so schnell wie möglich permanent für Auslandseinsätze verfügbar sein müssen. (S. 67) Der Abschied vom Konzept der Zivilmacht EU und der Landesverteidigung als einziger Aufgabe des Militärs spiegelt sich auch in dem Ziel wieder langfristig 50% aller europäischen Truppen für Kriegseinsätze abzustellen.(S. 125)
Natürlich muss für derart ambitionierte Großmachtbestrebungen auch kräftig investiert werden. Defizite sehen die Autoren des Weißbuchs vor allem hinsichtlich mangelhaft vorhandener Transportkapazitäten und weltraumgestützter Aufklärungsfähigkeiten. Insgesamt taxieren sie den Investitionsbedarf auf zusätzlich mindestens 40 Mrd. Euro um die anvisierten Kriege führen zu können.(S. 118) In dem Maße wie die Autoren des Weißbuchs sich optimistisch äußern, die gesteckten Ziele in kürzester Zeit erreichen zu können, sollte einem tatsächlich Angst und Bange werden vor diesem militärischen Leviathan, den Europas Strategen derzeit aufbauen.

Endnoten
[1] Vgl. zu den militärischen Aspekten der EU-Verfassung Tobias Pflüger: Vertragliche Militarisierung oder Warum der EU-Verfassungsvertrag friedensgefährdend ist, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Dezember 2004).
[2] European Defence Paper: A Proposal for A White Paper, Institute for Security Studies, Paris, May 2004. Alle folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text.
[3] Vgl. Jürgen Wagner: Partner oder Gegner? Die Militarisierung der Europäischen Union und die Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen, IMI-Studie 2004/01, Tübingen, Februar 2004; Siehe auch Ulrich Duchrow: Der Gott der EU-Verfassung, in: Zeitschrift für Entwicklungspolitik, Heft 5/6/2004.
[4] Vgl. Claudia Haydt/Tobias Pflüger/Jürgen Wagner: Globalisierung und Krieg, AttacBasisText 5, Hamburg 2003.
[5] Lühr Henken: EU: Weichenstellungen zur Supermacht? Sicherheitsstrategie � Verfassung � �Battlegroups�, IMI-Analyse 2004/035; Siehe auch THE BATTLEGROUPS CONCEPT, Geopowers.com 10.2.2004, http://www.geopowers.com/Allianzen/EU/akt_eu/RRF_BGConcept.pdf
[6] Vgl. World Bank, Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy, Oxford 2003; Siehe auch die Analyse von Michael Dauderstädt, Leiter der Internationalen Politikanalyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, der zu dem Ergebnis kommt, dass der Neoliberalismus bestenfalls keine positiven Effekte für die betroffenen Staaten der Dritten Welt zeitigte (Exporting Stability to a Wider Europe: From a Flawed Union to Failing States, Internationale Politikanalyse – Europäische Politik, Oktober 2004).
[7] Siehe ausführlich zu Coopers Ausführungen und der Europäischen Sicherheitsstrategie Wagner: Partner oder Gegner, S. 12ff.
[8] Siehe vor allem Herfried Münkler: Angriff als beste Verteidigung? Sicherheitsdoktrinen in der asymmetrischen Konstellation, in: IPG, 3/2004, S. 22-37, insbesondere S. 23.
[9] Herfried Münkler: Das imperiale Europa, in: Die Welt, 29.10.04.
[10] Alte Hegemonie und Neue Kriege: Herfried Münkler und Dieter Senghaass im Streitgespräch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/04, S. 539-552, S. 549f.
[11] Vgl. Jeffrey Record: Nuclear Deterrence, Preventive War, and Counterproliferation, CATO Policy Analysis no. 519, July 8, 2004, S. 1.
[12] Atomkrieg, Informationen zur deutschen Außenpolitik, 11.10.2004, http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1097359200.php
[13] Bruno Tertrais: Nuclear policy: France stands alone, in: Bulletin for the Atomic Scientists, Volume 60, No. 4, pp. 48-55; Hoon Suggests U.K. Nukes Will Counter WMD, BASIC Press Release, 20 March 2002.
[14] Kupchan, Charles, The End of the American Era, New York 2002, S. 155; Ähnlich äußert sich auch der französische Außenminister Barnier: „Frankreich will �ein Bündnis zwischen Amerika und Europa� schaffen, das auf �zwei gleichgewichtigen Pfeilern ruht.�“ (Henken: EU: Weichenstellungen).
[15] Vgl. hierzu Hannes Hofbauer: Osterweiterung: Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2003, S. 204ff.