IMI-Analyse 2004/013 - in: AUSDRUCK - Das IMI-Magazin (Juni 2004)

Festung Europa?


von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 7. Juni 2004

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Angesichts von Toten in der Oder, von Grenzschutzbeamten mit Wärmebildkameras, von Helikoptern, die nachts die Außengrenzen der EU auf der Suche nach Migranten abfliegen und Angesichts von Abschiebegefängnissen sprechen Kritiker der repressiven EUropäischen Migrationspolitik gerne von der „Festung Europa“. Doch gerade diese Abschiebelager entlarven das Problematische am Bild von der EU als einer Burg, umgeben von unüberwindbaren Mauern und tiefen Gräben. Abschiebelager sind der Beweis sowohl dafür, dass die Mauern durchlässig sind als auch dafür, dass die umkämpften Grenzen mitten in der Gesellschaft verlaufen. Zwar markiert die EU ein Territorium und ein Herrschaftssystem, aber die territorialen Grenzen sind zweitrangig geworden. An den EU-Außengrenzen starben zwar in den letzten Jahren tausende von Menschen beim Versuch unbemerkt einzureisen[1]. Doch vor denen die es geschafft haben, liegt oft so viel Elend in den Bordellen, auf den Feldern und Baustellen, in Lagern und Behörden, dass sie sich am Ende selbst das Leben nehmen, oder abgeschoben werden und sich nach zehn Jahren Odyssee an ihrem Ausgangspunkt wiederfinden. Viele bleiben dementsprechend auch gleich an diesem Ausgangspunkt, auch wenn sie dort von Verfolgung, Ausbeutung oder Folter bedroht sind, da sie für eine Flucht in ein anderes Land keine Chance sehen und wissen, dass ihnen auch dort Verfolgung, Lager und Gefängnis drohen. Auf diesen Abschreckungs-Effekt spekuliert natürlich die EU-Migrationspolitik, um den Migrationsdruck zu vermindern. Ihre Opfer sterben nicht nur an den Grenzen, sondern weltweit.
Auf der anderen Seite sind sowohl die EU als auch Deutschland auf Migration angewiesen. Griechische Olivenbauern und deutsche Bordellbetreiber, mittelständische Haushalte, Bauunternehmer, Reinigungsfirmen und Imbissbudenbetreiber greifen oft gerne auf die billige Arbeitskraft von illegalisierten und damit entrechteten Migranten zurück. Auch Demographen weisen auf die Notwendigkeit von Netto-Zuwanderung hin, da moderne Industrienationen für sich genommen eine Tendenz zum Aussterben aufweisen. Wäre Europa eine Festung, die keine Menschen hereinließe, so wäre sie irgendwann menschenleer. Die Überalterung der Gesellschaft und die damit einhergehenden Krisen der sozialen Sicherungssysteme wird schon seit Jahrzehnten durch Migration gebremst. Dadurch ergibt sich sozusagen ein Anforderungsprofil für Migranten: Sie sollten jung, möglichst arbeitswillig und -fähig sein und Bereitschaft zur Integration zeigen. Entsprechend dieser Anforderungen ist das Ziel der EU-Migrationspolitik nicht die ohnehin unmögliche totale Abschottung der Außengrenzen, sondern eine globale Steuerung und Kontrolle der Migrationsströme. Ihre Mittel sind in erster Linie Erfassung, Zuordnung, Abschreckung, Abschiebung und das Erzeugen quasi rechtsfreier Räume (Lager). Offensichtlich ist, dass einer solchen biopolitischen Steuerung der Migrationsströme ein generelles Recht auf Asyl im Wege steht, weshalb sich die EU und Deutschland um dessen schrittweise Abschaffung bemühen.

Europäische Anforderungen

Vor der EU-Osterweiterung brachte in der EU jede Frau im Durchschnitt 1,5 Kinder zur Welt.[2] Ohne eine Netto-Einwanderung würde dies langfristig bedeuten, dass die Gesamtbevölkerung dramatisch abnähme, kurzfristig, dass es zu einer zunehmenden Alterung der Gesellschaften käme, welche die sozialen Sicherungssysteme in Schieflage versetzten würde. Dies ist auch in Deutschland der Fall: „Nur um die gegenwärtige Zahl seiner Menschen in erwerbsfähigem Alter zu stabilisieren, bräuchte Deutschland fast eine halbe Million passender Zuwanderer jährlich.“[3] Eigentlich sehen die Pläne der EU-Regierenden aber ganz anders aus. Mit der Lissabon-Strategie soll die EU weltweit zum führenden Wirtschaftsraum werden. Ihr zentraler Inhalt ist die Mobilisierung von mehr Arbeitskraft, denn sie schafft Mehrwert. Zur Durchführung dieser „europäischen Beschäftigungsstrategie“ gibt der Rat Empfehlungen an die Mitgliedstaaten aus. Hier wird nicht nur der bereits vollzogene Sozialabbau gelobt und für eine weitere Integration von Frauen und Alten in den Arbeitsmarkt geworben. Unter der Überschrift „Mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt bringen und in Arbeit halten, Arbeit für alle lohnend machen“ lautet der letzte Punkt: „Die Anstrengungen zur Integration der Zuwanderer verstärken.“ Es scheint einer der Wiedersprüche des postmodernen Kapitalismus zu sein, dass er es einerseits zunehmend unattraktiver macht, Kinder in die Welt zu setzen, anderseits aber auf die Verwertung von immer mehr menschlicher Arbeitskraft angewiesen ist, vor allem im Niedriglohnsektor. Seit Jahren proklamieren Wirtschaftsinstitute und Unternehmerverbände, Wirtschaftswachstum sei nur noch möglich, wenn weitere Jobs im wenig produktiven Dienstleistungssektor geschaffen würden, die sich auf dem gegenwärtigen Lohnniveau aber buchstäblich nicht lohnen würden. Wie immer, wenn der Kapitalismus auf einen Widerspruch trifft, muss der Staat in die Bresche springen. Eine neue Unterschicht muss her, die bereit ist, für noch weniger Geld zu arbeiten. Was wäre leichter als diese Unterschicht rassistisch zu konstruieren als Nicht-Deutsch bzw. Nicht-Europäisch. Verschiedene Branchen sind bereits auf illegalisierte Arbeiter angewiesen, teilweise ganze Volkswirtschaften: „Experten haben ausgerechnet, dass Griechenland ohne seine mindestens 500 000 Migranten 1997 nicht den Anschluss an die Eurozone geschafft hätte.“[4] Diesem Bedarf steht eine riesige Menge[5] Menschen gegenüber, die global vor Kriegen und Gewalt, Hunger und Armut Unterdrückung und Ausbeutung auf der Flucht sind. Viele von ihnen würden gerne in der EU eine neue Heimat suchen, oder sich dort vorübergehend niederlassen. Doch im konservativen und rechten Lager stehen dem hierzulande Befürchtungen vor „Überfremdung“ entgegen. Die Rede ist von Parallelwelten, Ghettos und Terrorismusgefahr. Auch einige Gewerkschafter sehen durch ein erhöhtes Angebot von Arbeitnehmern das Lohnniveau gefährdet. Zugleich sprechen PolitikerInnen immer noch gerne von sogenannten „Scheinasylanten“, welche unrechtmäßig die Sozialkassen belasten würden, in die „die Deutschen“ eingezahlt hätten. Diese nationalistischen und rassistischen Diskurse ermöglichen es, dass die EUropäische Einwanderungspolitik hochgradig selektiv wird. Es wird unterschieden zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Migranten, also nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Integrationsbereitschaft, Religion usw.

Minderung des Migrationsdrucks und Präselektion

Vor allem in den ärmsten Regionen ist zunächst festzustellen, dass es selten die Ärmsten der Armen sind, die in der Migration in ein reicheres Land eine Perspektive sehen. Eher handelt es sich um überdurchschnittlich Gebildete und finanziell Bessergestellte, die eine solche Odyssee wagen. Trotzdem sterben viele von ihnen auf dem Weg in die EU. Studenten haben es am leichtesten in die EU einzureisen, mit ordentlichem Visum, werden sie doch als Import von Humankapital verstanden. Für alle Herkunftsländer von Flüchtlingen wurde in den letzten Jahren die Visumpflicht eingeführt, Flüchtlinge bekommen aber kein Visum und sind damit zur illegalen Einreise gezwungen.[6] Dies ist nicht nur ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für kommerzielle „Schleußer“[7], sondern wird den Migranten im späteren Asylverfahren als Straftat vorgeworfen.
Beim EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 wurde nicht nur dieses Visa-System EU-weit vereinheitlicht, sondern zugleich die biometrische Erfassung aller Flüchtlinge und die zentrale Speicherung dieser biometrischen Daten im Visa-Informations-System (VIS) beschlossen. Wer in einem EU-Staat als Flüchtling abgelehnt wird, ist es damit in der gesamten EU. Zusätzlich wurde die Europäische Grenzschutzagentur gegründet. In der Pressemitteilung des Bundesministerium des Inneren vom 27.11.2003 heißt es dazu: „Damit wird eine Initiative von Bundesinnenminister Schily realisiert. […] Die Agentur soll allgemeine Querschnittsaufgaben (Risikoanalyse, Harmonisierung der Aus- und Fortbildung, Förderung der Entwicklung von Detektionstechnik, Koordinierung gemeinsamer Rückführungsmaßnahmen) übernehmen.“[8] Für sie wurden 400 Millionen Euro bewilligt. Neben den genannten Aufgaben verfolgt sie das Ziel, Herkunfts- und Transitländer in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen.[9] Mit den meisten Herkunftsländern sind allerdings ohnehin längst „Rücknahmeabkommen“ geschlossen worden. Das selbe Ziel verfolgt unter anderem die europäische Nachbarschaftspolitik (ENP): „Unter dem Dach der ENP sollen mit den einzelnen Nachbarstaaten massgeschneiderte Aktionspläne ausgearbeitet werden. Diese sollen auf einem Bekenntnis zu gemeinsamen Werten wie Menschenrechten, verantwortungsvoller Staatsführung und Marktwirtschaft beruhen und unter anderem einen politischen Dialog, die Aussicht auf Teilhabe am EU-Binnenmarkt und an EU-Programmen, eine Vernetzung von Energie und Verkehr, eine stärkere Marktöffnung und eine enge Zusammenarbeit in Bereichen wie Grenzschutz, Migration und Terrorismusbekämpfung umfassen.“[10] Hier wird nicht nur deutlich, welche Art Herrschaft auf die EU-Anrainer ausgeübt wird, sondern auch, dass Migration und Grenzschutz diskursiv in die Nähe von Terrorismusbekämpfung gerückt werden. Sogenannte „Rücknahmeabkommen“ waren nicht nur eine Bedingung für Länder, die mit der Osterweiterung in die EU eintreten wollten, sondern sind auch in anderen Kontinenten an die Erteilung von „Entwicklungshilfe“-Geldern gebunden.[11] Die Tendenz, die Migranten schon weit vor den EU-Außengrenzen auszusortieren wird immer deutlicher. Die britische Regierung schlug im Februar 2003 vor, die Antragsbearbeitung in „Transit Processing Centers“ auszulagern. „Nach dem britischen Vorschlag sollen die geplanten Zentren auf Offshore-Plattformen vor Küsten errichtet werden, und zwar in Ländern wie Marokko, der Türkei, Kroatien, Somalia oder dem Iran, die implizit als sichere Drittländer gelten.“[12]
Besonders unerwünscht sind in der EU Menschen, die in großer Zahl vor bewaffneten Konflikten fliehen. Es ist eine traurige Tatsache, dass Menschen, die vor Konflikten fliehen, in denen sich europäische Armeen aus scheinbar humanitären Gründen beteiligen, nicht in die EU gelassen werden und ihnen die Anerkennung als Flüchtling versagt bleibt. Im Jugoslawien-Krieg wurde erstmals das Konzept der „heimatnahen Unterbringung der Vertriebenen“ (Schily) durchgesetzt. NATO-Truppen errichteten in der unmittelbaren Nachbarschaft, Albanien und Mazedonien, Lager und verhinderten gleichzeitig die Weiterreise der Flüchtlinge.[13] Im Jahr 2000 betrug die Anerkennungsrate für Afghanische Flüchtlinge in Deutschland

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0,9% und im März 2003, mit Begin des Krieges gegen den Irak sank die Anerkennungsrate irakischer Flüchtlinge auf den historischen Tiefstand von 13%.

Die Abschaffung des Rechts auf Asyl

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Menschenrecht auf Asyl waren eine Reaktion auf den Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Juden. Um so schlimmer ist es, dass die heutige Bundesregierung mit ihrer EU-Politik neben anderen restaurativen Elementen auch das Asylrecht in der EU völlig verwässert hat. Während die Bundesregierung in den meisten Politikfeldern für ein Mehrheitsprinzip plädierte und dieses teilweise hartnäckig durchsetzte, damit einzelne Staaten den kerneuropäischen Zug nicht mit ihrem Veto bremsen konnten, beharrte sie auf ihrem Veto hinsichtlich der EU-Asylpolitik.[14] Unter dem Argument, Deutschland biete großzügige Sozialleistungen und wäre deshalb besonders attraktiv für Asylsuchende versuchte sie jede Liberalisierung ihrer rigiden Asylpolitik zu verhindern. So kann Deutschland beispielsweise weiter an seiner einmalig diskriminierenden Residenzpflicht festhalten, die es Flüchtlingen verbietet, den Landkreis zu verlassen. Schröder intervenierte persönlich, damit Asylsuchende in Deutschland weiterhin vom legalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Die deutsche Blockade einer einheitlichen Asylregelung für die EU führte zu einem „Wettlauf der Schäbigkeiten“ (Karl Kopp). Bevor ein einheitliches EU-Asylrecht verabschiedet wurde, konnten die einzelnen Mitgliedstaaten ihre nationalen Vorbehalte noch in nationale Gesetze formulieren um dann einen Minimalkonsens über die Anerkennung von Flüchtlingen zu treffen. Dieser Konsens wurde Ende April gefunden. Zunächst die gute Nachricht: Auch nichtstaatliche Verfolgung wird zukünftig EU-weit als Verfolgungsgrund anerkannt. Die schlechte: Das macht nichts. Denn, wie Schily ausführt: „Für uns ist es wichtig, dass die in Deutschland erfolgreich praktizierte Drittstaatenregelung erhalten wurde.“[15] Diese Drittstaatenregelung macht das Asylrecht quasi obsolet und wurde auf deutschen Druck für die gesamte EU übernommen. Wer über ein als „Sicheren Drittstaat“ eingestuftes Land eingereist ist, der kann ohne weitere Prüfung seines Antrages in dieses zurück abgeschoben werden. Welcher ein sicherer Drittstaat ist, liegt im ermessen der EU-Staaten. Da beispielsweise Fluglinien mit hohen Strafen zu rechnen haben, wenn sie Menschen ohne Visum in die EU bringen, können in Deutschland kaum Migranten ankommen, die nicht über einen sogenannten „Sicheren Drittstaat“ einreisen. Es besteht also die Möglichkeit von Kettenabschiebungen: Von Deutschland nach Polen, von Polen in die Ukraine, nach Weißrussland und in irgendeinen Folterknast dieser Erde. Um wirklich alles mögliche Terrain der Erde als „Sicheren Drittstaat“ zu deklarieren werden auch Teilstaaten und Regionen in diese Regelung einbezogen und gar die Möglichkeit von sog. „inländischen Fluchtalternativen“ erwogen: Gebiete auf dem Territorium der Verfolgerstaaten, die unter internationalem Recht stehen, von NATO- oder EU- Militär bewacht werden und ähnliche vorübergehende Konstrukte. Die Bereitschaft, möglichst viele Staaten als sichere Drittstaaten einzustufen hat einen weiteren fatalen Effekt: Menschen aus diesen Ländern und Regionen haben kaum eine Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge.

Lager im Nirgendwo

Der britische Vorschlag von „Transit Processing Centers“ in internationalen Gewässern oder auf dem Hoheitsgebiet von „Verfolgerstaaten“ wurde zunächst von der EU abgelehnt. Dies ist kein Wunder der Menschlichkeit, sondern liegt schlichtweg an der „kontinental-europäischen“ oder „kerneuropäischen“ Sicht der Dinge. Wozu sollte man Plattformen im Meer errichten, wenn man in jedem Ursprungsland, in jedem Anrainerstaat und an der Ostgrenze der EU Lager bauen kann, die ebenso der eigenen staatlichen Herrschaft und Willkür unterliegen, die zwar nicht im Meer, aber ähnlich isoliert platziert sind. Helmut Dietrich beschreibt, wie an der neuen EU- Außengrenze Lager entstehen, die weder eine kritischen Öffentlichkeit haben noch nationalem Gesetz unterstehen.[16] Unter ihnen werden Menschen entsprechend ihre Herkunft geordnet. Es ist nicht unbedingt „verboten“ das Lager zu verlassen, aber das Lager liegt innerhalb des Grenzstreifens, wo jeder vom Grenzschutz aufgegriffene „Ausländer“ auf der Stelle ausgewiesen werden kann. Diese Gebiete sind nahezu menschenleer. Die Lager werden häufig kommissarisch von Westeuropäern geleitet. Ihre Finanzierung übernimmt das PHARE-Programm, welches programmatisch dem Wiederaufbau der Wirtschaftsstrukturen dienen soll. Wenn es bisher ein Migrant geschafft hat, lebend in die EU zu gelangen, anerkannt oder zumindest akzeptiert zu werden, so wurde er letztendlich nach gewissen Kriterien einem Landkreis zugeordnet. Die aktuelle Migrationspolitik akzeptiert und befürwortet einen gewissen Anteil „Illegalisierter“, aber versucht diesen Anteil entsprechend ökonomischer Anforderungen zu kontrollieren. Sie errichtet Lager, welche in erster Linie ein Reservat an Arbeitskräften sind und an biopolitischer Auffüllmasse. Je nach Bedarf wird diese oder jene soziologische Schicht hereingelassen oder abgeschoben, oder sie verharrt in der Warteposition, ohne Rechte, ohne Selbstbestimmung. Lager haben eine Tendenz dazu, zu rechtsfreien Räumen zu mutieren. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht im Lager einen Grundmoment politischer Herrschaft der zunehmend an Bedeutung gewinnt: „Das Lager als entortende Verortung ist die verborgene Matrix der Politik, in der wir auch heute noch leben und die wir durch alle Metamorphosen hindurch zu erkennen lernen müssen, in den zones d’attente unserer Flughäfen wie in manchen Peripherien unserer Städte. Es ist das vierte unablösbare Element, das zur alten Trinität von Staat, Nation (Geburt) und Territorium hinzugekommen ist und sie aufgesprengt hat. […] Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem [des Staates] Inneren eingelassen hat, ist der neue biopolitische nómos des Planeten.“[17]

Herrschaftspraktiken

Dass nun auch eine biometrische Erfassung der Migranten erfolgt ist in zweierlei Hinsicht aussagekräftig: Erstens zeigt sie, dass es tatsächlich um die gezielte Steuerung der Bevölkerungsentwicklung geht, zweitens zeigt sie, dass Herrschaft letztendlich auf dem möglichst detaillierten Wissen über die Beherrschten beruht. In so fern ist das Lager der Traum jedes Herrschers. Er hat eine große Zahl genau definierter und festgesetzter Individuen zur Auswahl, die er sich nach beliebigen Kriterien zu Untertanen machen kann. Die Techniken der biometrischen Erfassung, die derzeit an Migranten ausprobiert werden, kommen bis 2006 auch über alle EU-Bürger. Ab dann wird sich, wer einen Pass beantragt, die Fingerabdrücke abnehmen lassen müssen. Am Flughafen Frankfurt(Main) wird derzeit ein Pilotprojekt durchgeführt, welches parallel auf den größten europäischen Flughäfen stattfindet: Vielflieger wie Geschäftsleute können sich freiwillig die Augeniris scannen lassen und müssen ab dann nicht mehr bei der Passkontrolle anstehen, sondern können durch einen separaten Eingang. Sie müssen nur kurz in eine Kamera schauen und warten, bis ein Summton ihre Identität bestätigt und sie passieren lässt. Bedenkt man, dass jetzt schon Kameras auf Autobahnen jedes Kennzeichen scannen und mit Datenbanken über Verdächtige Autos abgleichen, ggf. gleich im nächsten Polizeirevier Alarm schlagen, kann man sich ausmalen, wie die Zukunft aussehen wird, wenn künftig einfache Überwachungskameras in der Lage sind, Identitäten festzustellen. Immer mehr Innenstädte und bereits die meisten Kaufhäuser sind lückenlos Kameraüberwacht. In nahezu jeder Innenstadt entstehen mittlerweile pseudo-öffentliche Räume, die von privaten Wachfirmen kontrolliert werden. Menschen, die es sich nicht leisten können, ihre Freizeit mit Shopping zu verbringen, werden aus diesen Räumen herausgedrängt. Bahnhöfe sind für viele Menschen aus anderen Weltregionen mittlerweile zu No-Go-Areas geworden, da sie dort ständig von Wachpersonal kontrolliert werden. In einigen Fußballstadien werden bereits alle Besucher am Eingang gefilmt und wenn jemand digitale Ähnlichkeit mit einem bekannten Hooligan hat, kann ihm der Eintritt verwert werden. In dem Maße, wie sich das Herrschaftsgebiet der EU (auch über seine Territorialen Grenzen hinaus) ausdehnt, ist eine Zunahme biopolitischer Herrschaft und von Raumordnungspolitik zu beobachten. Dass diese Praktiken zunächst rassistisch an „den Anderen“ ausprobiert und auf Minderheiten angewandt werden sollte nicht verwundern. Zeigt doch die Geschichte, dass hier von der Mehrheit oft geschwiegen oder zugestimmt wird. Diesen Fehler sollten wir nicht noch einmal machen.

Anmerkungen:
[1] Die Zahl der dokumentierten Todesopfer, die direkt auf die zunehmende Grenzsicherung und den Ausbau der Festung Europa zurückzuführen sind, stieg nach einer Zusammenstellung des Anti-Rassismus Netzwerks United auf über 4.000 in den letzten zehn Jahren. Die Zahl der undokumentierten Todesfälle liegt vermutlich einiges höher.
[2] Max-Planck-Institut für demografische Forschung: „Demografische Forschung aus erster Hand“. Jahrgang 1, Nr.1 2004.
[3] Schmid, Josef: „Bevölkerungsentwicklung und Migration in Deutschland“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ B43 /2001.
[4] Morice, Alain: „Die Neuen Grenzen des Asyls“ in „Le Monde diplomatique“ Nr. 7307 vom 12.3.2004
[5] Schätzungen belaufen sich auf 12 Millionen Migranten.
[6] Kopp, Karl in: Friedrich, Rudi u. Pflüger Tobias: „In welcher Verfassung ist Europa“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft 2004.
[7] Von den Politikern wird gegen eben diese Schleußer in den Medien gehetzt. Viele betreiben dies kommerziell und ohne die Würde oder das Leben der Migranten zu achten. Verächtlichen Meldungen über Schleußer und Schleußerbanden beziehen sich aber auch teilweise auf Menschen, die unentgeltlich aus politischer Überzeugung Menschen den Grenzübertritt ermöglichen.
[8] http://www.bmi.bund.de/top/dokumente/Pressemitteilung/ix_93551.htm
[9] Kopp, Karl a.a.o.
[10] „Die EU definiert die Ostgrenzen der Union“ in: NZZ 13.04.2004.
[11] Morice, Alain: „Die Neuen Grenzen des Asyls“ in „Le Monde diplomatique“ Nr. 7307 vom 12.3.2004.
[12] Morice, Alain, a.a.o.
[13] Kopp, Karl a.a.o.
[14] Kopp, Karl: „Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor Flüchtlingen“ in: „Wissenschaft und Frieden“ 2/2004.
[15] http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/39/31008/
[16] Dietrich, Helmut: „Flüchtlingslager an den neuen Außengrenzen – wie Europa expandiert“ in: Friedrich, Rudi u. Pflüger Tobias: „In welcher Verfassung ist Europa“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft 2004.
[17] Agamben, Giorgio: „Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben“ Frankfurt am Main 2002.

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