in: Zivilcourage Dezember 2002

NATO-Osterweiterung trifft auf Protest

Eindrücke von einer Vortragsreise in Tschechien vor dem Prager NATO-Gipfel

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 8. Dezember 2002

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(red.) Auf Einladung des Bildungswerkes Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung war Tobias Pflüger Ende Oktober auf einer Vortragsreise in Tschechien. Anarchistische und antimilitaristische Gruppen hatten im Vorfeld des Prager NATO-Gipfels Veranstaltungen in Prag, Plzen, Brno und Vysoke Myto organisiert.

Ich fuhr von einem Kongress von Berlin nach Prag, 5 Stunden angenehme Fahrt durch zum Teil von der Flut verwüstetes Gebiet. In Prag angekommen, werde ich abgeholt, von zwei Männern und einer Frau, alle eine Mischung zwischen Punks und Autonomen, wir gehen durch Prag und treffen in einem Art Infoladen ein. Dort sind schon ca. 60 Leute und in einer halben Stunde wird es los gehen. Ob ich ein Bier will, eigentlich nicht um diese Uhrzeit, aber unter diesen Bedingungen…

Sicherheitshalber hatte ich mir vorher wichtige Stichworte auf einem Fresszettel aufgeschrieben, hier frei zu referieren, das geht wohl nicht. Kurz bevor es losgeht, erfahre ich, ich muss auf englisch reden. Mist. Und das wird dann auf tschechisch übersetzt, dazu wechseln sich zwei Leute ab. O.k. Let’s go…

Offiziell ist die NATO (immer noch) ein Verteidigungsbündnis, doch spätestens seit dem Krieg gegen Jugoslawien und dem NATO-Gipfel von Washington ist die NATO ein Interventions- und Kriegsführungsbündnis. Der Beitritt Tschechiens, Polens und Ungarns 1999 wurde extra vor den Beginn des Jugoslawienkrieges vorgezogen, damit sie auch mit im Boot sind. Das neue strategische Konzept der NATO sieht u.a. die sogenannte Selbstmandatierung vor. Von einem Bündnis zur Verteidigung von Territorium ist ein Bündnis zur Verteidigung gemeinsamer Interessen geworden.

Es scheint die Leute zu interessieren. Und mein schlechtes Englisch scheint keine Probleme zu machen.

Der NATO-Generalsekretär George Robertson bezeichnete schon im Februar den jetzigen Prager NATO-Gipfel als „historische Wegmarke“. Was passiert nun auf diesem NATO-Gipfel, wenn er so hochstilisiert wird?

Direkt und indirekt stehen nicht weniger als sechs zentrale Punkte für die Zukunft der NATO auf der Tagesordnung, aber nur die ersten drei werden in den offiziellen NATO-Verlautbarungen genannt: NATO-Osterweiterung, Verbindliches Aufrüstungsprogramm für alle NATO-Staaten, Neue Aufgabenstellung und neue Ziele für die NATO, Aufstellung einer NATO-Interventionstruppe („NATO Response Force“) mit 21.000 Mann und Frau, Diskussion über die (Teil-)Übernahme der Bush-Doktrin als NATO-Strategie, Die Position der NATO und der einzelnen Regierungen zum Irak-Krieg.

Einen Punkt sucht man vergeblich auf der Agenda, er wurde schon vor dem NATO-Gipfel durch die Hintertür eingeführt: Der Einsatzradius der NATO soll in Zukunft global sein, und nicht mehr auf das NATO-Gebiet beschränkt bleiben. Unverwechselbar klar ist dazu wieder einmal die Zeitung „Die Welt“: „Die Nato bereitet sich auf Einsätze in der ganzen Welt vor“. Die Militärzeitschrift IAP ist da noch deutlicher: Es geht um eine neue „geopolitische Ausrichtung nach Süden“.

Bei der NATO-Osterweiterung geht es darum, dass die NATO in Prag den Beitritt weiterer Staaten beschließen wird. Die NATO hat offiziell zehn Staaten eingeladen zuerst bei einem sogenannten „Membership Action Plan“ (MPA) mitzumachen. Beim MPA handelt es sich im wesentlichen um eine Überprüfung der NATO-Kompatibilität der Armeen, die Zusage der Kandidaten für eine deutliche Erhöhung der Militärausgaben und die Überprüfung von möglichst nicht auffälligen Menschenrechts- oder Demokratie-Defiziten: In Prag folgt dann möglicherweise eine Einladung zum NATO-Beitritt. Es ist absehbar, dass die baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) in die NATO aufgenommen werden. Gute „Chancen“ haben auch Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien. Albanien, Mazedonien und Kroatien haben ebenfalls beim „Membership Action Plan“ mitgemacht, werden aber wohl diesmal eher noch nicht mit dabei sein. Nach Prag ist also mit einer NATO mit 26 Staaten zu rechnen.

Das Referat ist zu Ende (später mehr vom Inhalt) und es ergeben sich eine Reihe von interessierten Nachfragen und Meinungsäußerungen.

Neben weiteren Fragen zur NATO werde ich vor allem zwei Dinge gefragt: Wie ist das Verhältnis von Militär bzw. NATO einerseits und Kapitalismus andererseits und welche Form von Protest und Widerstand ich für den NATO-Gipfel in Prag empfehle. Uff. Ich halte Kapitalismus / Neoliberalismus einerseits und Militärpolitik andererseits für einen Januskopf. Der Übersetzer kennt den Begriff nicht. Für zwei Seiten derselben Medaille. Mir ist wichtig, sich genau mit der militärischen Komponente zu beschäftigen und sich genau die widersprüchlichen Akteure anzuschauen. Manchen ist das zu vorsichtig und zu differenziert, den meisten gefällt es. Bezüglich des Protestes / Widerstandes gegen die NATO gebe ich zwei Antworten: erstens muss vor Ort entschieden werden, welcher Protest / welcher Widerstand wirksam ist und gut ankommt, daran haben sich Menschen von außen zu halten oder zumindest zu orientieren. Zweitens habe ich trotz der vorigen Anmerkung genaue Vorstellungen, welche Form von Widerstand ich persönlich gut finde. Informationen halte ich für sehr wichtig, aufbereitete Informationen und direkte wirksame Aktionen, die nicht in die aufgestellte Gewaltfalle des Staates laufen. Das war schwierig auf englisch. Die meisten sind meiner Meinung, manche nicht.

Ob ich Lust habe, nach dem Vortrag etwas zu essen und zu trinken. Ja gerne ich habe Hunger, nur habe ich kein tschechisches Geld. Kein Problem, ich werde eingeladen, Mist, warum habe ich nicht vorher Geld gewechselt. Auch beim Essen in einer Kneipe geht es um Protest und Widerstand, in Prag gebe es viele Neonazis, wie das in Deutschland wäre.

Übernachten darf ich in einer Schüler/innen-WG, ein Computerfreak, der seinen PC neben einem speziellen Gewächshaus in der Küche hat und Unmengen von Musik drauf, unterhält mich bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag schwänzt der nette Schüler die Schule und zeigt mir Prag. Er weiß, wann ich mit dem Bus nach Plzen fahren muss. Er bringt mich dorthin und nun fahre ich bis ich erkenne, dass Plzen da ist.

In Plzen ist ein Vortrag an der Universität geplant. Meine Kontaktleute sind nun Menschen einer Tierrechtsorganisation, in der sich die kritischen Kräfte von Plzen sammeln. Nach einem sehr guten veganen Essen und dem Vorgespräch mit dem Übersetzer folgt der Abendvortrag an der Universität. Der Übersetzer kann fließend bayrisch/deutsch, er war zwei Jahre auf einem Gymnasium in Weiden. Er ist ein unpolitischer Politikstudent, das gibt es hier also auch, und bittet mich nichts gegen die EU zu sagen. Der Hörsaal ist proppevoll. 70 bis 100 Leute lauschen meinen Ausführungen bzw. denen des Übersetzers.

George Robertson will in Prag ein verbindliches Aufrüstungsprogramm für alle (neuen und alten) NATO-Staaten beschließen lassen. Es sollen folgende Bereiche in allen Staaten umfangreich aufgerüstet werden (in militärischer Sprache): „Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Angriffe, Gewährleistung der Überlegenheit auf dem Gebiet der Führungs-, Fernmelde- und Informationssysteme, Verbesserung der Interoperabilität dislozierter Streitkräfte und zentraler Aspekte der Leistungsstärke bei Kampfeinsätzen sowie Gewährleistung der raschen Dislozierbarkeit und der langfristigen Durchhaltefähigkeit von Streitkräften.“ Übersetzt bedeutet dies eine bessere Kriegsführungsfähigkeit und weitere „qualitative“ Aufrüstung. Die NATO wird gegenüber allen Mitgliedstaaten Druck machen, dass sie mehr kampforientierte Truppen mit mehr kriegstauglichem Material zur Verfügung stellen, das geht einher mit zum Teil deutlichen Erhöhungen der Militärhaushalte und bedeutet bezogen auf die Bundeswehr einen verschärften Aus- und Aufbau von kriegsführungsfähigen Truppen („Einsatzkräften“).

Es ergibt sich eine lange Fragerunde, bis die Hausmeisterin kommt und alles ein Jähes Ende hat. Am nächsten Tag ist mein „freier“ Tag, ich habe keinen Vortrag. Die Tierrechtsorganisation lässt mich in ihrem Büro an einem Schreibtisch arbeiten. Übernachten kann ich bei einem Studenten, der noch bei seinen Eltern lebt. Er arbeitet bei der Grünen Partei mit, dort könne er verschiedene Themen wie Tierrechte, Ökologie, Antimilitarismus zusammen bearbeiten. Er hoffe nur, dass die tschechischen Grünen nicht würden wie die deutschen Grünen. Mein Gastgeber bringt mich zu meinem größten Abenteuer. Eine Busfahrt von Plzen im Westen Tschechiens in die kleine Stadt Vysoke Myto im Südosten. Nach mehrfachem Umsteigen und einem längerem Aufenthalt komme ich an, werde wie üblich abgeholt und zum Veranstaltungsort, einer Schule gebracht. Hier kommen nur wenige. Der Übersetzer kommt extra aus Prag und schneidet den englischen Vortrag mit. Der Vortrag wird später ins Tschechische übersetzt und findet sich auf diversen Homepages (Zweimal übersetzt, ob das noch das ist, was ich gesagt habe?).

Übernachten darf ich bei einer Familie, die Mutter macht sich Sorgen um ihre Tochter wegen möglichen Ausschreitungen beim NATO-Gipfel in Prag, ich versuche zu sagen, dass Gewalt (auch) vom Staat und von der Polizei ausgeht und dass ich natürlich gegen Zerstörungen bin. Am nächsten Morgen führt mich ein Student durch Vysoke Myto, eine nette Kleinstadt, er bringt mich wieder zu einem Bus nach Brno.

Dort ist erstmals niemand zum Abholen da. Doch, nur mein Bus kam am falschen Bussteig an, etwas verspätet treffe ich die Hauptorganisatorin der Rundreise, Alice, sie spricht fließend deutsch, ihre Mutter kommt aus Sachsen. Sie ist trotz jungen Jahren politisch sehr erfahren, ist immer wieder auf internationalen Konferenzen und war die Pressesprecherin der berühmten IWF-Proteste in Prag im Jahr 2000.

Mit ihr unterhalte ich mich über die tschechische Politikszene: Das breite Bündnis von 2000 ist auseinandergebrochen, die damaligen Ausschreitungen waren für viele Tschech/inn/en eine neue Erfahrung. Aber es gab das übliche Problem, einige wenige, die randalieren und alle anderen sind mit diskreditiert. Innerhalb der tschechischen Linken gibt es die traditionellen Kommunisten mit derzeit 14 % im Parlament und die unabhängigen linken, antifaschistischen, antimilitaristischen, anarchistischen Gruppen.

Am Abend dann Vortrag an der Universität Brno, es sind ca. 40 – 50 Leute da., Alice übersetzt sehr gut.

Für erheblichen Wirbel hat die Forderung der US-Regierung nach Aufstellung einer NATO-Interventionstruppe („NATO Response Force“, NRF) mit 21.000 Mann und Frau gesorgt. Diese NATO-Interventionstruppe soll ab 2006 losgeschickt und jeweils aus einem bereitgehaltenen NRF-Pool der NATO-Staaten zusammengestellt werden können und innerhalb kürzester Frist, die Rede ist von 7 (!) bis 30 Tagen einsatzbereit sein. Die US-Regierung und dort besonders Donald Rumsfeld machen diese Stand-By-Kriegsführungstruppe zum Lackmustest über die Relevanz der NATO. Allerdings gibt es bei so kurzer Vorwarnzeit erhebliche Probleme mit der Pflicht, Auslandseinsätze vom Bundestag beschließen zu lassen. Auch ist diese Interventionstruppe eine Konkurrenz zur für 2003 geplanten EU-Interventionstruppe mit 60.000 Mann, bei der ja Deutschland sowohl quantitativ („Ein Drittel aus Deutschland“) als auch in der Befehlsstruktur eine wesentliche Rolle spielt (das Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow ist „Kern eines Operation Headquarters der Europäischen Union“). Ergebnis wird wohl sein, dass beide Interventionstruppen herausgebildet werden.

Wesentlichster Punkt für die Zukunftsplanung der NATO ist aber wohl die Debatte, ob die verbindliche US-Militärstrategie, die National Security Strategy (NSS), besser bekannt als Bush-Doktrin, in ihren Kernteilen von der NATO als Strategie übernommen wird oder nicht. Wolfgang Schäuble hatte im Bundestag eine Übernahme der NSS gefordert. Aber wahrscheinlich war er damit zu schnell. Eine Übernahme der Bush-Doktrin würde auch bedeuten, dass die beiden neuen und zentralen Kernelemente der NSS verbindlicher Teil der (neuen) NATO-Strategie werden: Erstens die Führung von Präventivkriegen, wenn die Regierenden die Hegemonie bedroht sehen und zweitens einen „niederschwelligen“ Einsatz von Atomwaffen. Die rot-grüne Bundesregierung wollte sich hier vorläufig noch nicht festlegen, klar ist aber, dass dieser Punkt der US-Regierung noch wichtiger ist als die neue NATO-Kriegsführungs-Truppe.

Erstaunte Nachfragen nach der Bush-Doktrin. Und: Erstmals gibt es Widerspruch. So schlecht könne die NATO doch nicht sein, sie bringe doch Frieden… Neben deutschen Soldaten und Panzer sind in Kuwait auch 250 tschechische Soldaten als teil der dortigen Einheit. Sollte Tschechien so wie wohl Deutschland in den Krieg verwickelt werden?

Für die deutsche Politik könnte der NATO-Gipfel bedeuten, dass Zusagen zur Erhöhung des Militärhaushaltes gemacht werden, eine deutsche Teilnahme an der neuen NATO-Interventionstruppe erfolgt, die in Arbeit befindlichen neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) noch einmal umgeschrieben werden müssen, weil eine Light-Form von Präventivkriegen noch mit hinzukommt und die Übernahme von weiteren Militärengagements (in Form von Lead-Nation o.ä.) in Afghanistan, auf dem Balkan und weiteren Stationen beim permanenten Krieg. Schließlich ist schon heute Deutschland nach den USA der Staat, der am zweitmeisten Truppen im Auslandseinsatz hat.

Original: http://www.dfg-vk.de/zc/2002-06/16.pdf