Dokumentation: Amerika braucht Feinde – Der Schriftsteller über Bush und das Uhrwerk des Krieges

von: 6. November 2001

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Gespräch mit Gore Vidal

Herr Vidal, Umfragen zufolge sind über neunzig Prozent der Amerikaner für die Kriegshandlungen gegen Afghanistan. Überrascht Sie diese Zahl?

Wir mögen eigentlich keine Kriege. Das amerikanische Volk wollte nicht gegen Hitler kämpfen. Die amerikanische Rechte wollte es. Großbritannien stand vor dem Ruin, Frankreich hatte sich bereits im Mai 1940 ergeben. In meinem Buch „Das goldene Zeitalter“ können Sie nachlesen, welche Stimmung damals in Washington herrschte. Achtzig Prozent der Amerikaner waren Isolationisten. Die amerikanische Bevölkerung will keine Kriege. Die Führung der Vereinigten Staaten, die Eigentümer dieses Landes müssen jedoch Kriege führen, sonst bekommen sie nicht das nötige Geld für das Pentagon, Summen, die dann an Boeing und Lockheed weitergereicht werden. Es ist also sehr wichtig, daß wir Feinde haben. Deshalb erschaffen wir immer wieder neue. Das amerikanische Volk weiß dagegen nicht einmal, wo die entsprechenden Länder auf der Landkarte liegen. Wir haben ja kein öffentliches Bildungssystem, der Durchschnittsamerikaner hat fast über- haupt keine Bildung. Die Angehörigen der Upper Class sind natürlich besser ausgebildet, aber sie sind auch mit Propaganda vollgepumpt. Des- halb stecken wir in all diesen Schwierigkeiten, und das Volk weiß gar nicht, wie sehr es hinters Licht geführt wird.

Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, daß die Vereinigten Staaten ihre Hauptfeinde – Sadam Hussein, nun Usama Bin Ladin – sehr persön- lich angreifen, diese Feinde aber selbst mit Hilfe des CIA in den achtziger Jahren aufgebaut haben.

Die Vereinigten Staaten neigen dazu, ausländische Individuen zu dämonisieren: Sie sind drogenabhängig, betrügen ihre Frauen, tragen Frauenkleider und so weiter. General Noriega, der Staatschef von Panama, war angeblich der Schlimmste von allen, der Herrscher über Drogenverbindungen in alle Welt, sagte damals Präsident Bush. Dies ist unsere Spezialität. Nur weil wir unsere Gegner dämonisieren, können wir all diese Kriege führen – seit 1945 sind es rund dreihundert. Seit Pearl Harbor hat uns kein Staat überfallen. Wir haben gegen andere Länder immer als erste losgeschlagen. Und wir hatten immer eine Ent- schuldigung dafür parat. Diese Länder beherbergten Terroristen oder sie schickten sich an, die freie Welt zu verlassen und kommunistisch zu werden. Mit solchen Begründungen hat Clinton eine Aspirinfabrik im Sudan bombardiert.

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat in dieser Zeitung geschrieben, daß die Vereinigten Staaten nicht verstanden haben, wieviel Wut und Ärger sich in der Welt gegen den Westen aufgestaut haben – Millionen Menschen seien seit 1945 durch US-Interventionen getötet. Warum gibt es in Amerika keinen Widerstand gegen solche Interventionen?

Ich sage Ihnen den Grund: Wir haben keine repräsentative Regierung. Das Volk ist nicht vertreten. Und wir haben keine politischen Parteien. Wir haben ein Einparteiensystem mit zwei rechten Flügeln, einer nennt sich Republikaner, der andere Demokraten. Aber beide werden von den großen Unternehmen finanziert. Die Republikaner stehen viel weiter rechts, sind reicher und vertreten die Kriegsinteressen wahrscheinlich etwas stärker als die Demokraten. Aber das ist der einzige feine Unterschied, den man ausmachen kann. Jeder Abgeordnete wird bezahlt, denn die Kosten für Fernsehauftritte vor den Wahlen sind enorm. Die besser aussehenden Rechtsanwälte werden üblicherweise in den Senat oder ins Repräsentanten- haus geschickt. Das Volk hat aber überhaupt keine Verbindungen zu ihnen. Natürlich gibt es Ausnahmen, vor allem in den kleineren Staaten, in denen die Kosten nicht so hoch sind. Aber ein kalifornischer Senator vertritt im allgemeinen Aerospace, den Krieg, Marschflugkörper und Atomwaffen. Jetzt gehen in Kalifornien wegen Energiemangel die Lichter aus …

Sie treten seit Jahren als Mahner auf. Warum hört Ihnen niemand zu?

Wir haben in Amerika eine Viertelmilliarde Menschen, von denen mehr als die Hälfte funktionale Analphabeten sind. Was ich schreibe, dringt nur zu den wenigen durch, die dann die vielen erreichen können. Nur ein Prozent der Amerikaner liest überhaupt Bücher.

Welche Perspektive sehen Sie für die Zukunft? Wie kann es besser werden?

Ich glaube, daß die Vereinigten Staaten definitiv ein Polizeistaat geworden sind. Daran kann man nichts mehr ändern, dazu sind zu viele Gesetze geschaffen worden, zum Beispiel Clintons Antiterrorgesetz, das es erlaubt, die Armee gegen das eigene Volk einzusetzen – ein grober Verstoß gegen die gesamte Verfassungstradition und ihr Herzstück, die Bill of Rights. Das Schlimmste, was passieren kann, geschieht gerade. Bin Ladin hätte für seine dunklen Absichten gar keinen besseren Augenblick wählen können. Die großen Unternehmen entlassen Leute, die Arbeitslosigkeit steigt, Europa gibt seine Währung zugunsten des Euro auf. Was glauben Sie, wie es in Europa bald zugehen wird, mit einer neuen Währung und ohne einheitliche Regierung, die dahintersteht? Niemand auf der Welt hat jemals eine Währung ohne Regierung erfunden. Und nun dies: ein Euro in Krisenzeiten.

Sie leben seit fast vierzig Jahren überwiegend in Italien. Da haben Sie die wunderbare Gelegenheit, Herrn Berlusconi zu studieren.

Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich habe hier ein Haus – das ist alles. Die Idee, ich hätte Italien den Vereinigten Staaten vor- gezogen, wäre völliger Wahnsinn. Jeder, der meine Bücher kennt, weiß, daß die Vereinigten Staaten mein Thema sind. Ich schreibe über nichts anderes: ihre Geschichte, ihre Politik, ihre verrückten Religionen.

Wollen Sie den Amerikanern mit ihren historischen Romanen die eigene Geschichte erklären?

Irgend jemand muß diese Aufgabe ja übernehmen. Es wäre mir lieber, jemand anders täte es, es ist harte Arbeit. Wenn wir ein wirkliches Schulsystem hätten … Aber das haben wir nicht. An den Schulen wird Propaganda gelehrt. Vor einiger Zeit brach eine Antidrogeneinheit der Polizei in ein Haus ein, brachte drei oder vier Bewohner, darunter Kinder, um und fand dann heraus, daß sie in das falsche Haus einge- drungen war. Das ist keine erfundene Geschichte, sondern stand in den Nachrichten. Mir ist wichtig, daß solche Geschichten gedruckt werden. Zeitungen bringen diese Geschichten, aber sie drucken so vieles und setzen es dann auf die letzte Seite oder in den Lokalteil. Die Menschen passen einfach nicht genügend auf, deshalb kann die Regierung so mit ihnen umgehen.

Wie stehen Sie zum Islam?

Ich habe den Koran gelesen. Das ist mehr, als jeder andere, den ich auf dieser Seite der Welt kenne, getan hat. Der Koran ist ein sehr schönes Buch, ziemlich surrealistisch. Ich teile den herablassenden Blick vieler Menschen im Westen nicht. Es ist eine großartige Zivilisation. Sie hat Höhen und Tiefen gehabt, genau wie in Deutschland oder Amerika.

In diesen Tagen wird immer wieder Samuel Huntington zitiert.

0 Gott, nein, nicht schon wieder! Jeder in Deutschland zitiert ihn, in Amerika ist er so gut wie unbekannt. Was hat er bloß in Europa getan, um so bekannt zu werden? Das Gerede vom „Krieg der Zivilisationen“ ist vollkommener Unsinn. Wir hatten ja schon einen Krieg der Zivilisationen. Das war im zwölften Jahrhundert, und der Krieg wurde von Saladin ge- wonnen, während Richard Löwenherz nach der Schlacht um Jerusalem ab- ziehen mußte. Das war eine große Konfrontation. Ich sehe keinen Grund, weshalb es erneut zu so etwas kommen sollte. Wir stehen zu den Arabern nicht in Konkurrenz. Sie müssen ihr Öl verkaufen, wir müssen es wegen unserer verrückten Automobilindustrie kaufen. Uns verbindet also mehr, als uns trennt. Und Amerika hatte einmal gute Beziehungen zur arabischen Welt, bis es die Probleme im Nahen Osten miterschuf. Jetzt haben wir so gut wie keine Freunde mehr in diesem Teil der Welt.

Sie kennen die inneren Bereiche Washingtons und behaupten, Sie wüßten, wie „die Menschen ticken, die die Macht haben“. Wie tickt George W. Bush?

Er tickt unregelmäßig – jedenfalls läuft seine Uhr oder seine Maschine nicht rund. Bush war an seiner Universität Cheerleader. Und das ist auch seine jetzige Rolle. Er ist Cheerleader für andere, hält Reden. Die Entscheidungen aber werden von anderen getroffen, von Cheney und Verteidigungsminister Rumsfeld.

Und von seinem Vater?

Ich glaube, sein Vater spielt keine so große Rolle. Aber all diese Entscheidungsträger, die heute für den Krieg sind, haben ihn niemals erlebt und würden sich freiwillig niemals in die Nähe einer Kanone begeben. Nur Powell ist gegen den Krieg. Soldaten mögen keine Kriege. Sie mögen Kriegsdrohungen, aber keine Kriege. Sie wissen, daß Menschen verletzt und getötet werden, sogar Generäle. Als die gefürchtete Madeleine Albright Außenministerin war, konnte einzig und allein Colin Powell sie an die Leine nehmen. Sie wollte ständig Städte und Menschen bombardieren, Bodentruppen in den Kosovo entsenden. Da sagte Powell zu ihr: „Es sind keine Spielzeugsoldaten, Mrs. Albright.“

Das Gespräch führte und übersetzte Werner Bloch.

aus: FAZ / Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 18. Okt. 2001