Dokumentation: Kein Recht zur Selbstjustiz – Juristen äußern erhebliche Zweifel am Nato-Bündnisfall

von: 2. Oktober 2001

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Die internationale Juristenorganisation gegen den Atomkrieg (Ialana) bestreitet den Bündnisfall der Nato. Dieter Deiseroth, Gründungsmitglied der deutschen Sektion der Ialana und Bundesverwaltungsrichter, begründet im Gespräch mit der Karlsruher Frankfurter Rundschau-Korrespondentin Ursula Knapp den Standpunkt der Organisation.

Frankfurter Rundschau: Herr Deiseroth, die Außenminister der Nato-Staaten sind sich einig, dass mit dem schwersten Terroranschlag der Nachkriegsgeschichte für die Nato der Bündnisfall eingetreten ist. Sie bestreiten das, warum?

Dieter Deiseroth: Nach meinen Informationen hat der Nato-Rat bislang den so genannten Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag (noch) nicht beschlossen. Die öffentliche Berichterstattung und auch die meisten Erklärungen der Verantwortlichen sind insofern im entscheidenden Punkt widersprüchlich oder zumindest ungenau. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am Mittwochabend vor der Presse sinngemäß erklärt, der Nato-Rat habe mit deutscher Zustimmung in Solidarität mit den USA das Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 5 des Nato-Vertrags, also des so genannten Bündnisfalls, beschlossen. Demgegenüber heißt es in der Verlautbarung von Nato-Generalsekretär Robertson, die Nato betrachte die Terroranschläge in den USA als Angriff auf das gesamte Bündnis, „falls“ – und dies ist ein bedeutsamer Unterschied – „der Angriff vom Ausland aus gesteuert worden sein sollte“. Denn dann liege der Fall des Artikels 5 Nato-Vertrag vor. Offenbar gab es in diesem Punkt auch Meinungsverschiedenheiten im Nato-Rat. So ist bekannt geworden, dass insbesondere die Vertreter der Niederlande, Belgiens und Portugals sich gegen eine Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesprochen haben.

Unter welchen Voraussetzungen wäre denn im aktuellen Konflikt der Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag gegeben?

Die Feststellung des so genannten Bündnisfalls nach Artikel 5 Nato-Vertrag hat völkerrechtlich betrachtet mehrere Voraussetzungen. Dieser hat freilich ausdrücklich entschieden, dass eine bloße Unterstützung solcher nichtstaatlicher Angreifer durch Waffenlieferungen oder durch logistische Hilfen eines fremden Staats für die Annahme eines bewaffneten Angriffs im Sinne des Artikel 51 UN-Charta nicht ausreichen.

Was heißt dies für den konkreten Fall des Terrorangriffs auf Ziele in New York und Washington?

Vor der förmlichen Feststellung, ob die Voraussetzungen des Artikels 5 Nato-Vertrag vorliegen, muss sehr genau die Fakten- und Beweislage geprüft werden. Keinesfalls darf auf der Grundlage unüberprüfbarer Behauptungen oder gar von Mutmaßungen angenommen werden, die Terroranschläge seien von militärisch organisierten nichtstaatlichen Verbänden verübt worden, die von einem ausländischen Staat entsandt oder in dessen Auftrag oder mit dessen wesentlicher Beteiligung tätig geworden seien. Bisher fehlt es für die Annahme einer solchen Verantwortlichkeit eines fremden Staats an jedem Anhaltspunkt. Aber auch dann, wenn im konkreten Einzelfall ein „bewaffneter Angriff“ im Sinne des Artikels 51 UN-Charta erfolgt wäre, dürfte ein militärischer Gegenschlag völkerrechtlich betrachtet unzulässig sein.

Woraus ergibt sich das?

Eine Gewaltanwendung auf der Grundlage von Artikel 51 UN-Charta ist nur zulässig, wenn dies zur Abwehr eines gegenwärtigen Angriffs erforderlich ist. Artikel 51 UN-Charta rechtfertigt keine Vergeltungs- oder Bestrafungsaktionen. Auch dies hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag mehrfach entschieden.

Die Befürworter eines Nato-Einsatzes werden Ihnen entgegenhalten, dass ein völkerrechtlicher Vertrag auf veränderte Umstände reagieren können muss. Kann der Nato-Vertrag von 1949 sozusagen dynamisch ausgelegt und auf terroristische Angriffe dieses Ausmaßes angewendet werden?

Die Handhabung und auch die Interpretation des Nato-Vertrags durch die Vertragsstaaten mag sich ändern. Dies ändert aber nichts daran, dass die Nato-Staaten an die UN-Charta und das geltende Völkerrecht gebunden bleiben.

Angesichts tausender unschuldiger Opfer müssen die USA selbstverständlich alles tun, um die Täter zu bestrafen. Vor allem müssen Wiederholungen verhindert werden.

Das sollte man auch tun. Die Strafverfolgungsbehörden der Staaten sollten weltweit eng zusammenarbeiten und alles daran setzen, die Täter zu ermitteln und sie den für die Verurteilung allein zuständigen Gerichten zu überantworten. Selbstjustiz, auch staatliche Selbstjustiz, darf in Rechtsstaaten und durch Rechtsstaaten nicht stattfinden.

Welche wirksamen Möglichkeiten sehen Sie denn, um den Terrorismus wirksam zu bekämpfen und solche Attacken zu verhindern?

Verblendete Terroristen kann man schwerlich durch Gegenterror abschrecken. Ihnen gilt der Verlust des eigenen Lebens offenbar wenig. Vielmehr müssen die Ursachen des Terrorismus bekämpft werden. Man muss erkennen, dass insbesondere im Nahen Osten praktisch jeden Tag Menschen zu Terroristen sozialisiert werden. Dazu trägt auch die Art des israelischen Umgangs mit den Palästinensern bei. Friedenspolitik in diesen Konfliktzonen ist der wichtigste Beitrag dazu, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Die Rekrutierungsbasis für immer neue Terroristen muss minimiert werden. Schließlich sollte international jegliche Zusammenarbeit mit terroristischen Gruppierungen, sei es mit islamistischen Gruppen, sei es mit der UCK in Kosovo oder Mazedonien, strikt geächtet werden. Hier herrscht ein großer Nachholbedarf.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer kommt aus einer Partei der Friedensbewegung. Hätte er Ihrer Ansicht nach gegen den Bündnisfall stimmen müssen?
Als deutscher Außenminister ist er an die Vorgaben der Verfassung und des geltenden Völkerrechts strikt gebunden. Da die Voraussetzungen für den Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag und nach Artikel 51 UN-Charta nicht vorliegen, muss sich dies auch in seinem Abstimmungsverhalten im Nato-Rat niederschlagen.