IMI-Analyse 2017/32

G20 und Afrika

Eine vorauseilend historische Perspektive

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 13. Juli 2017

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Wer weiß, ob zeitgenössischen Beobachter_innen der Berliner Afrika-Konferenz im Winter 1884/85 die Tragweite der damals in der sog. Kongoakte festgehaltenen Beschlüsse klar war. Wer hat damals schon vermutet, dass die Konferenz noch über hundert Jahre später als zentrales Ereignis und Symbol des Kolonialismus und Imperialismus bewertet werden würde? Auch auf der damaligen Afrika-Konferenz wurde um den Freihandel gerungen und auch damals wurden Ansprüche der „zivilisierten“ Staaten humanitär verbrämt, etwa wenn im Abschlussdokument die „Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften“ in Aussicht gestellt wurde.[1] Zwar wurden damals nicht, wie oft zugespitzt behauptet, die Grenzen zwischen den kolonialen Besitztümern mit dem Lineal gezogen, wohl aber die Regeln formuliert, unter denen entsprechende Ansprüche geltend gemacht werden konnten und sollten. Damit wurde eine Weltordnung, quasi ein Völkerrecht kodifiziert, in dem „nur westliche Nationen als souveräne Staaten und damit gleichsam als souveräne Mitspieler“ anerkannt wurden.[2]

Obwohl sich die Kolonialmächte bei der Kontrolle der Kolonien auch damals auf lokale Herrschaftsstrukturen stützten und ihre Gebietsansprüche durch Schutzverträge mit lokalen Potentaten begründeten, liegt hierin ein entscheidender Unterschied zwischen der historischen Afrika-Konferenz und der im Juni in Berlin vorbereiteten und im Juli in Hamburg verabschiedeten G20-Afrika-Partnerschaft. Eine Unabhängigkeit und staatliche Souveränität wurde den lokalen Partnern damals nicht in Aussicht gestellt, während deren Souveränität heute zumindest formal unangetastet bleibt. Dieser Unterschied ist relevant, auch wenn die Formulierungen in den Abschlussdokumenten gerade vor diesem Hintergrund reichlich unverblümt wirken. So wird im Annex des Abschlussdokuments des Gipfels zur G20-Afrika-Partnerschaft die „Verbesserung der makroökonomischen Rahmenbedingungen durch nachhaltigen Umgang mit öffentlicher Verschuldung, Mobilisierung nationaler Einkünfte durch ein investitionsfreundliches Steuersystem, Bündelung einzelstaatlicher Steuerreformen, Begrenzung der Aushöhlung von Steuerbemessungsgrundlagen und von Gewinnverlagerungen, Gewährleistung eines soliden öffentlichen Investitionsmanagements und Verbesserung der Leistungen öffentlicher Versorgungsdienste“ angekündigt. Unverhohlen wird dabei als Ziel ausgegeben, „die makroökonomischen, unternehmerischen und finanziellen Rahmenbedingungen für private Investitionen (aus dem In- und Ausland) zu verbessern“. Hierzu gehört auch der „verbesserte Investorenschutz“ durch die „Entwicklung von anreizkompatiblen Risikominderungsinstrumenten“.[3]

Umgesetzt werden sollen diese neoliberalen Programme von „Länderteams, […] die in jedem Compact-Land gebildet werden. Die Teams bestehen aus Regierungsvertretern des jeweiligen afrikanischen Landes sowie Vertretern von internationalen Organisationen, interessierten G20-Mitgliedern und anderen Partnerländern oder -institutionen. Koordinierung und Monitoring der Initiative erfolgen durch den Finanzministerprozess der G20, der auch über Fortschritte, künftige Ambitionen und messbare Ziele in jedem Compact-Land berichten werden [sic]“.[4] Zunächst soll dies in Äthiopien, Côte d’Ivoire, Ghana, Marokko, Ruanda, Senegal und Tunesien umgesetzt werden. Der Aufbau von uni- und multilateralen Programmen zur Förderung von Investitionen der jeweiligen Industrien in Afrika, zur risikoarmen Durchführung von Megaprojekten als öffentlich-private Partnerschaft und die Umwidmung der sog. „Entwicklungshilfe“ in offene Außenwirtschaftsförderung wird jedoch weitere Länder des Kontinents betreffen und unter den G20 einen neuen Wettlauf um Afrika befördern, der diesmal die Souveränität der „Partnerländer“ formal unangetastet lässt, sie ökonomisch und sozialpolitisch jedoch vollkommen unterwirft.

Der historische Kontext

Sollte in einhundert Jahren oder früher eine kritische Aufarbeitung der G20 erfolgen, so werden einige Zusammenhänge womöglich viel deutlicher zutage treten, als aus zeitgenössischer Perspektive. Nicht zu ignorieren wird dann etwa sein, dass die beteiligten Staaten sich zugleich in einer Kaskade von Stellvertreterkriegen auf der Arabischen Halbinsel unter völliger Missachtung des Völkerrechts gegenseitig bekämpfen, wie etwa die Regionalmächte Saudi Arabien und Türkei oder die Großmächte USA und Russland. Zur Vorgeschichte des Gipfels wird dann gehören, wie die USA in den vergangenen zehn Jahren ein umfassendes Netzwerk von Militärbasen auf dem afrikanischen Kontinent errichtet haben[5] und Frankreich mit Unterstützung der EU seine ehemaligen Kolonien zwischen der westafrikanischen Küste und dem Sudan als G5 Sahel zusammengefasst und einem „Krieg gegen den Terror“ unterworfen hat, der es seiner Fremdenlegion mit Unterstützung lokaler Armeen erlaubt, grenzüberschreitend und ohne Kontrolle der jeweiligen Regierung tätig zu werden.[6] Im Übrigen hat der Gipfel in einem Deutschland stattgefunden, das erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit, nun wieder als Berliner Republik, unter der Parole „neue Macht, neue Verantwortung“ unverhohlen seinen Führungsanspruch in Europa geltend machte und diesen an einem in die Schuldenfalle geratenen und getriebenen Griechenland vorexerzierte. Letzteres wird v.a. deshalb zur Vorgeschichte gehören, weil auch hier unter formaler Anerkennung seiner Souveränität das Land von einer in keiner Weise legitimierten Troika aus Europäischer Zentralbank, IWF und Europäischer Kommission zum Ausverkauf öffentlicher Güter, Reform des Steuer- und Finanzwesens und Öffnung für „Investitionen“ gezwungen wurde.

In ihrer Zusammensetzung erinnert diese Troika zwar nur grob an die nun anvisierten „Länderteams“, die praktische Umsetzung, wie sie in der G20-Afrika-Partnerschaft vorgesehen ist, scheint jedoch auf den Erfahrungen der Austeritätsprogramme und v.a. ihrer Umsetzung in Griechenland aufzubauen: „In einem ersten Schritt“ sollen die afrikanischen Länder „mit den beteiligten internationalen Organisationen in Kontakt zu treten, um die Ziele der Initiative und mögliche nationale Prioritäten und Beiträge zu besprechen“. „In einem zweiten Schritt legen die Länder in Zusammenarbeit mit den internationalen Organisationen in einzelnen Investitionspapieren ihre jeweiligen prioritären Bereiche für Reformen und Maßnahmen fest, um besser private Investitionen mobilisieren zu können… Auf der Grundlage dieser prioritären Bereiche konzentrieren sich die Compact-Länder in Zusammenarbeit mit den internationalen Organisationen in einem dritten Schritt auf konkret durchzuführende Reformschritte. Interessierte G20-Mitglieder und andere Partnerländer und -institutionen sind eingeladen, das Abkommen mit ihren eigenen Instrumenten und Maßnahmen zu unterstützen.“[7]

Die lokalen „Partner“

Ein weiterer, mit der formalen Anerkennung der Souveränität jedoch zusammenhängender Unterschied zur Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 besteht darin, dass Vertreter des afrikanischen Kontinents damals so gut wie keine Rolle gespielt haben, am G20-Gipfel mit Südafrika jedoch zumindest ein afrikanisches Land und beim vorangegangenen Afrika-Gipfel in Berlin weitere zumindest eingeladen waren. Gekommen sind jedoch recht wenige, genannt werden im betreffenden Anhang des Abschlussdokuments „die Staats- und Regierungschefs von Ägypten, Côte d’Ivoire, Ghana, Guinea, Mali, Niger, Ruanda, Senegal und Tunesien“. Auch diese sind einer kritischen Betrachtung wert. Wesentlich dazu beigetragen, dass der Afrika gewidmete Gipfel einen Hauch „afrikanischer Ownership“ für sich reklamieren konnte, war die Präsenz des ägyptischen Militärdiktators Al-Sisi, wodurch zumindest ein bevölkerungsreicher Flächenstaat des Kontinents repräsentiert war. Sein Kollege aus der Côte d’Ivoire, der ehemalige IWF-Mitarbeiter Ouattara, wurde 2011 im Schatten des Libyenkrieges durch ein EU-Embargo und eine französische Militärintervention an die Macht gebracht und erweist sich seither als verlässlicher Statthalter EUropäischer und französischer Interessen. Der malische Präsident Ibrahim Boubacar Keïta, ehemaliger Mitarbeiter des Entwicklungsfonds der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wurde im Kontext einer französischen Militärintervention gewählt und lässt französischen und deutschen Truppen und Unternehmen – wie sein Kollege im Niger – mittlerweile fast freie Hand. Ruanda wurde von Paul Kagame vertreten, der im Kontext des Völkermordes 1994 an die Macht kam und diese seither mithilfe eines auf ihn zentrierten Sicherheitsapparates und unfreier Wahlen sichert. Er gilt v.a. als Statthalter US-amerikanischer Außenpolitik und wesentlich mitverantwortlich für den anhaltenden Bürgerkrieg im Osten der DR Kongo.

Neben der Einbindung afrikanischer Staats- und Regierungschefs am Berliner Katzentisch wird die „afrikanische Ownership“ in Fortsetzung des deutschen Marshallplans für Afrika u.a. mit der Bezugnahme auf die Agenda 2063 der Afrikanischen Union simuliert. Hier stellt sich die Frage, ob die vertretenen Regierungen bzw. ihre Sherpas das entsprechende Dokument überhaupt angesehen haben und zeigt sich die Verlogenheit der vollmundigen Versprechungen, mit denen das Gipfeldokument garniert ist. So heißt es in diesem AU-Dokument u.a.: „Bis 2020 werden alle Erbschaften des Kolonialismus Geschichte und alle besetzten afrikanischen Gebiete vollständig befreit sein“. Konkret genannt werden das von Mauritius beanspruchte Chagos-Archipel, welches die britisch-amerikanische Militärbasis Diego Garcia beherbergt, die Insel Mayotte und die Westsahara. In keinem der drei Fälle ist eine nennenswerte Initiative zur Dekolonialisierung der Gebiete durch die G20 erkennbar oder absehbar.[8] Noch am 22. Juni 2017 hatte ein Großteil der G20 gegen einen Antrag der Gruppe der afrikanischen Staaten in der UN-Generalversammlung gestimmt oder sich enthalten, mit dem der Konflikt um das Chagos-Archipel auf Bitten Maritius‘ vor den internationalen Gerichtshof gebracht werden sollte.[9]

Vehikel einer neuen Weltordnung

Rückblickend wird auch zu den Teilnehmer_innen des G20-Gipfels selbst das Urteil eindeutig ausfallen. Dann werden nicht nur Trump und Putin, Erdogan und Xi Jinping als Protagonisten eines – mit Kolonialismus und Imperialismus Hand in Hand gehenden – Autoritarismus am Pranger stehen, sondern die Anmaßung der G20 selbst. Vielleicht wird der Gipfel in Hamburg letztlich nur eine Randnotiz sein bei der Entfaltung eines ohnehin längst ausgerufenen Wettlaufs um Afrika einerseits und der Marginalisierung der UN und des Völkerrechts andererseits. Dass die mächtigsten Staaten – sich zugleich in Drittstaaten auf der Arabischen Halbinsel und Afrika gegenseitig bekriegend – versuchen, jenseits der UN ein Parallelgremium zur Erörterung globaler Fragen zu etablieren, beinhaltet die implizite gegenseitige Versuchung und Versicherung, dem Völkerrecht keine Relevanz mehr zuzubilligen. In der Praxis, das wurde auf den Straßen Hamburgs deutlich, scheint dasselbe auch für die Menschenrechte zu gelten.

Vielleicht liegt hierin – mehr noch, als in den tatsächlichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent – die (bereits bei den G7/G8 wiederkehrende) Schwerpunktsetzung auf Afrika begründet. Denn dort ist die Souveränität als Erbe des Kolonialismus, durch anhaltende politische Morde, auch von Regierungsvertretern, und von außen induzierte Putsche schon lange eine eher formale, häufig verhandelbare Angelegenheit. Die Anerkennung der militärisch von EU und NATO abhängigen Afrikanischen Union als Regionalorganisation, die auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates in Mitgliedsländern intervenieren kann, ist nur ein Beispiel dafür, dass der ganze Kontinent fortgesetzt als eine Art völkerrechtlicher Sonderzone gesehen wird.[10] Er dient den konkurrierenden Großmächten, die sich trotz ungelöster und mit großer Gewalt ausgehandelter Konflikte untereinander treffen wollen, als Vehikel, um eine neue Weltordnung zu konstituieren und sich jenseits von Recht und UN an ihre Spitze zu setzen. Auch das allerdings ist nicht neu, war schon bei den G7/G8-Treffen zu beobachten.

Insofern ist noch nicht abzusehen, ob der Gipfel in Hamburg für Afrika und die Welt zum historischen Ereignis wird oder nur eine von vielen Etappen bei der Ersetzung von internationalem Recht durch das reine Recht der Stärke. So oder so ist gut, dass es, anders als beim Afrikagipfel 1884/85, nennenswerte und sichtbare Proteste gab – und im Übrigen ein Maß an Repression, das des Kaiserreichs würdig gewesen wäre. Ob dabei rückblickend noch zwischen den verschiedenen Protestformen unterschieden wird und ob der Riot im Schanzenviertel als Aufstand gegen die kommende Weltordnung oder perfides Mittel der Aufstandsbekämpfung gewertet werden wird, mag sich jeder selbst ausmalen.

Anmerkungen

[1] Zitiert nach: Andreas Eckert: 125 Jahre Berliner Afrika-Konferenz – Bedeutung für Geschichte und Gegenwart, GIGA Focus 12/2009.

[2] Ebd.

[3] Bundesregierung / G20-Ratspräsidentschaft: Annex zur Abschlusserklärung G20-Gipfel – G20-Afrika-Partnerschaft.

[4] Ebd.

[5] Nick Turse: America’s War-Fighting Footprint in Africa, www.tomdispatch.com vom 27.4.2017.

[6] Christoph Marischka: Sahel: völkerrechtsfreie Zone per UN-Resolution, IMI-Standpunkt 2017/18.

[7] Bundesregierung / G20-Ratspräsidentschaft: Annex zur Abschlusserklärung G20-Gipfel – G20-Afrika-Partnerschaft.

[8] Mayotte wurde erst 2011 zum französischen Departement erklärt und 2014 in das Territorium der EU eingegliedert. Großbritannien will das Chagos-Archipel v.a. wegen der gemeinsam mit den USA genutzten Militärbasis Diego Garcia nicht aufgeben und versuchten erst im Juni 2017, zwischen dem Partnerschaftsgipfel in Berlin und dem G20 in Hamburg in der UN-Generalversammlung die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs auf Bitten Mauritius zu verhindern. Mit einer Mehrheit von 94 zu 15 Stimmen bei 65 Enthaltungen wurde der Antrag angenommen – die meisten G20-Staaten hatten wie die USA, Großbritannien und Australien dagegen gestimmt oder sich wie Deutschland gegen das fast einhellige Votum der afrikanischen Staaten enthalten. Dass viele EU-Staaten nicht an der Seite Großbritanniens abgestimmt, sondern sich „nur“ enthalten haben, wurde v.a. als Retourkutsche für den Brexit interpretiert. Vgl: Somini Sengupta: U.N. Asks International Court to Weigh In on Britain-Mauritius Dispute, www.nytimes.com vom 22. Juni 2017.

[9] „General Assembly Adopts Resolution Seeking International Court’s Advisory Opinion on Pre-independence Separation of Chagos Archipelago from Mauritius“, Pressemitteilung (GA/11924) vom 22. Juni 2017.

[10] Artikel 4 (h) der Gründungsakte der Afrikanischen Union sieht Entsprechendes in bestimmten Fällen vor. Dies steht im Widerspruch zu Artikel 53 (1) der UN Charta, was aber selten thematisiert wird. Ganz im Gegenteil sind v.a. die EU und ihre Mitgliedstaaten intensiv bemüht, entsprechende Entscheidungsstrukturen auf Ebene der EU und ihrer subregionalen Organisationen zu schaffen. So sind – von der EU und USA finanzierte und unterstützte – Interventionen afrikanischer Staaten in ihren Nachbarstaaten mittlerweile in Ost-, Zentral- und Westafrika im wörtlichen Sinne Alltag. Falls die Legalität des entsprechenden Absatzes der AU-Gründungsakte infrage gestellt oder diskutiert wird, so gilt die – nicht in der UN-Charta verankerte – „Verantwortung zum Schutz“ meist als Vehikel, um das Sonder-Völkerrecht auf dem afrikanischen Kontinent zu legitimieren. Vgl. beispielhaft: Stephanie Anne Fogwell: The legality of the African Union’s right to intervention, University of Pretoria 2013.