IMI-Analyse 2014/036

Deutsche Komplizenschaft

Das geplante Polizeiabkommen mit Mexiko bedeutet Billigung von Menschenrechtsverletzungen

von: Peter Clausing | Veröffentlicht am: 27. November 2014

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Die Ablehnung eines Abkommens zur Zusammenarbeit mit mexikanischen Sicherheitskräften ist keine „konjunkturelle“ Entscheidung, die sich erst aus den dramatischen Menschenrechtsverletzungen im mexikanischen Bundesstaat Guerrero vom September 2014 ergeben hat. Bereits am 1. Juli 2011 wandte sich die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, ein Netzwerk von 14 Organisationen, brieflich an den deutschen Außenminister[1] und bezeichnete es als „völlig unangebracht“, ein solches Abkommen in Betracht zu ziehen. Im Januar 2012 veröffentlichte dieses Netzwerk ein Positionspapier[2], in dem es seine ablehnende Haltung ausführlich begründete. Das Papier wurde von Bundesregierung und Bundestagsausschüssen zur Kenntnis genommen und zur Seite gelegt. Seitdem sind drei Jahre vergangen und es ist einerseits viel passiert, andererseits hat sich fast nichts geändert. Im Herbst 2014 gab es allerdings den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Die Vorgeschichte

Die im vorliegenden Kontext wichtigste Nachricht: Das Polizeiabkommen ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Im Gegensatz zu ähnlichen, ebenfalls mit repressiven Ländern abgeschlossenen Vereinbarungen, erfreute sich das mit Mexiko geplante Abkommen einer unerwartet großen öffentlichen Aufmerksamkeit. Darüber wunderte sich selbst der zuständige Ministerialbeamte auf einer Internationalen Mexikotagung im Dezember 2012 in Berlin. Zwar bedürfen Verträge dieser Art der Genehmigung des Bundestages und des Bundesrates, werden aber in der Regel „durchgewunken“. Mit Mexiko verhielt es sich anders. Die erste Anfrage eines linken Bundestagsabgeordneten gab es im Mai 2011 im Rahmen einer Fragestunde des Bundestages[3], später folgten mehrere „kleine Anfragen“ an die Bundesregierung von der Linken bzw. gemeinsam von SPD und Grünen[4]. Die Verhandlungen ruhten während des mexikanischen Wahlkampfes und bis zum Amtsantritt des neuen mexikanischen  Präsidenten im Dezember 2012. Auch danach hatte das Thema offenbar keine Priorität. Eine erneute Rückfrage bei den zuständigen Stellen im Frühjahr 2014 wurde allerdings dahingehend beantwortet, dass man unbeirrt daran festhalte, dieses Abkommen abzuschließen.

Zwei Mythen

Dokumentationen[5], die belegen, dass in Mexiko alle Ebenen der staatlichen Gewalt an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, werden von der deutschen Regierung hartnäckig ignoriert. Stattdessen beruft man sich auf den Mythos, dass die Menschenrechtsverletzungen auf Übergriffe von örtlichen Polizeikräften und solchen der mexikanischen Teilstaaten zurückzuführen seien, während die Bundespolizei der richtige Partner für die Bekämpfung von Korruption und zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen sei.

Das zweite Argument, auf das sich die deutsche Regierung stützt, ist jener Mythos, dass die mexikanische Regierung ernsthaft um eine Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bemüht sei und man ihr deshalb Zeit (und Unterstützung) gewähren müsse. Doch das von Vertretern des Außenministeriums beständig wiederholte Argument eines „benefit of the doubt“ (Unschuldsvermutung) für die mexikanische Regierung wird von den tatsächlichen Verhältnissen schon seit langem ad absurdum geführt. Mexiko ist Weltmeister im Verschleiern von Zuständen und in der Errichtung von Kartenhäusern, die den Blick auf die Realität versperren, so lange man sie  nicht anrührt. Ein gravierendes Beispiel, aber bei weitem nicht das einzige, ist die systematische Anwendung von Folter. Mexiko ratifizierte 1987 als eines der ersten Länder die Antifolter-Konvention der UNO.  Doch bis zum heutigen Tag gehört Folter in diesem Land zum Tagesgeschäft. Von deutschen Regierungsvertretern wird dieser Zustand nicht bestritten, aber seit Jahren mit dem Verweis darauf relativiert, dass dies „leider noch immer“ ein Thema sei, weil man es in Mexiko – salopp gesagt – nicht schaffe, einige sadistische Dorfpolizisten unter Kontrolle zu bringen. Doch gründliche Untersuchungen stehen in krassem Gegensatz zu dem  „leider noch immer“-Duktus der deutschen Regierung. Die jüngste – ein im September 2014 von Amnesty International vorgestellter Bericht – spricht von einem dramatischen Anstieg von Folterfällen in den letzten zehn Jahren. Auch die Tatsache, dass nach wie vor Geständnisse, die unter Folter erzwungen wurden, als Beweismittel juristisch anerkannt werden, belegt, dass es sich hierbei nicht um individuelle Verfehlungen von Polizisten handelt. Vielmehr geht es hier um ein strukturelles Problem, das die nahezu vollständige Straflosigkeit für weitere Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte, wie extralegale Hinrichtungen, Vergewaltigungen und das gewaltsame Verschwindenlassen unschuldiger Personen beinhaltet.

Bundesregierung verteidigt Mythen

Das Staatsverbrechen vom 26. September 2014, bei dem 6 Personen von der örtlichen Polizei erschossen und 43 Lehramtsstudenten verhaftet wurden, die seitdem spurlos verschwunden sind, ist emblematisch. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass dies „nur“ der stark beachtete Einzelfall eines Dauerzustandes ist. Nicht umsonst forderten die Teilnehmer_innen einer 43-stündigen Mahnwache, die vom 31. Oktober bis 1. November 2014 vor der mexikanischen Botschaft in Berlin abgehalten wurde: „Wir wollen die 43 lebend zurück, und auch die 26.000 anderen!“[6] Es gibt zahlreiche Belege, dass mexikanische Sicherheitskräfte aller Ebenen, einschließlich der Bundesebene am Verschwindenlassen von Personen beteiligt sind. Ein wichtiges Instrument in diesem Zusammenhang ist das vielfach kritisierte „Arraigo“, das die mexikanischen Behörden ermächtigt, Personen ohne Haftbefehl bis zu 80 Tage festzuhalten, ein Konstrukt, das der „Schutzhaft“ Nazideutschlands ähnelt.  Es gibt keine offiziellen Statistiken, aber seröse Schätzungen beziffern die seit 2006 in Mexiko verschwundenen Personen auf 26.000, wobei dies durch Drogenbanden Entführte ebenso einschließt wie die zahlreichen, durch Sicherheitskräfte willkürlich Verhafteten.

In einer Fragestunde des Bundestages am 15.Oktober 2014 verkündete Staatsministerin Dr. Maria Böhmer: “Die Bundesregierung hält an der Absicht fest, das in Verhandlungen befindliche Sicherheitsabkommen mit Mexiko zum Abschluss zu bringen. Ziel des Abkommens sind die Verbesserung der Zusammenarbeit mit der mexikanischen Bundesregierung – ich betone: Bund – und deren Unterstützung bei der Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität.”[7]

Knapp drei Wochen später insistierte Michael Roth, ein weiterer Staatsminister im Auswärtigen Amt, bezüglich einer Aussetzung der Verhandlungen zu dem Abkommen: „Da es gerade um den Kampf gegen die organisierte Kriminalität geht, wäre es aus meiner Sicht geradezu hanebüchen, wenn wir jetzt vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Verbrechen im Bundesstaat Guerrero unsere Verhandlungen ausset­zen würden. Wir brauchen mehr Sicherheit. … Daher bin ich dafür, dass wir diese Verhandlungen entschieden fortsetzen“[8]. Dabei schloss er sich der Sichtweise des EU-Botschafters in Mexiko an, dass aufgrund der oben erwähnten Vorfälle „keine Notwendig­keit von Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der EU und Mexiko“ erforderlich seien, weil der Verhandlungspartner die Bundesebene ist, die nicht Urheber der Menschenrechtsverletzungen im Bundesstaat Guerrero sei.

Auf dünnem Eis

Die Argumentation der Bundesregierung ist schamlos und verhöhnt die Opfer, denn selbst im aktuellen Fall der 43 Lehreramtsstudenten ist eine Beteiligung der Bundesebene nachgewiesen:

  • Informationen von mexikanischen Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden die Studenten, bevor sie von der lokalen Polizei angegriffen wurden, durch bundesstaatliche und föderale Polizeikräfte überwacht. Diese Kräfte zogen sich mit Beginn der Angriffe durch die lokalen Polizeieinheiten zurück.
  • Soldaten des 27. Infanteriebataillons und der Bundespolizei errichteten eine Straßensperre, während die Studenten beschossen und verhaftet wurden, so dass über diesen Zeitraum der betreffende Ort für unabhängige Personen, zum Beispiel Journalisten, unerreichbar war.
  • Dort stationierte bundesstaatliche Sicherheitskräfte (das 27. Infanteriebataillon und das 3. Bataillon der „Spezialkräfte“) sowie ein Operationszentrum der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft wurden in derselben Nacht über die Übergriffe informiert, ohne dass sie etwas unternahmen.
  • Zwei Stunden nach dem Vorfall war das Militär direkt am Ort des Geschehens. Statt die verbliebenen, nicht entführten Studenten zu unterstützen, wurden diese bedroht, geschlagen und ihnen Hilfe verweigert.
  • Die nationalen Sicherheitskräfte nahmen die Suche nach den 43 verschwundenen Studenten erst acht Tage nach dem Vorfall auf, als sich ein Handeln aufgrund des öffentlichen Aufschreis nicht mehr vermeiden ließ. Dabei ging die Bundespolizei während der angeblichen Suche nach den Verschwundenen gegen die örtliche Bevölkerung vor. Die Bewohner eines Dorfes, einschließlich der dortigen Kinder, wurden bedroht, geschlagen, und acht Personen ohne Vorlage eines Haftbefehls festgenommen.

 

Der oben geschilderte Hergang, der sich aus Meldungen in der mexikanischen Presse und Aussagen von renommierten Menschenrechtsorganisationen rekonstruieren lässt, erinnert an die Verhältnisse zu den schlimmsten Zeiten des kolumbianischen Bürgerkrieges: Die zentralen Kräfte schaffen die Rahmenbedingungen und sorgen für Straflosigkeit und die lokalen Kräfte erledigen die Drecksarbeit.

Doch die Ereignisse vom September 2014 sind kein Einzelfall. Ebenfalls im Bundesstaat Guerrero, wurde am  12. Dezember 2011 in der Hauptstadt Chilpancingo eine Demonstration gewaltsam aufgelöst und dabei zwei Studenten erschossen. An dem Einsatz waren sowohl die Polizei von Guerrero als auch Bundespolizisten beteiligt. Ein Teil dieser Polizisten war mit G36-Sturmgewehren des deutschen Unternehmens Heckler & Koch bewaffnet. Gegen die Mörder der beiden Studenten gibt es bis heute kein Strafverfahren. Somit ist weder der Verdacht ausgeräumt, dass die Erschießung der Studenten mit G36-Gewehren erfolgte, noch, dass die Schüsse von Bundespolizisten abgefeuert wurden.

Ein weiterer schwerwiegender Fall der jüngsten Zeit wurde von Sicherheitskräften, die der Bundesregierung unterstehen, direkt begangen. Am 30. Juni 2014 wurden – Recherchen der Zeitschrift Esquire México zufolge – 21 unbewaffnete Personen von der mexikanischen Armee exekutiert.[9] Offiziellen Darstellungen zufolge waren diese angeblich bei einem Schusswechsel ums Leben gekommen. Erst die Esquire-Recherche brachte den Vorfall ans Tageslicht. Es gibt zahlreiche Fälle wie diese. Wenn die deutsche Regierung trotz erdrückender Beweislage darauf beharrt, dass die mexikanischen Sicherheitskräfte auf der Bundesebene sozusagen „unbefleckt“ sind, beteiligt sie sich an der Verschleierung von Straftaten.

Desinteressiertes „Menschenrechtsministerium“

Staatsminister Roth erklärte in der oben erwähnten Fragestunde, dass sich das Auswärtige Amt „nicht nur als Ministerium für internationale Beziehungen ver­steht, sondern vor allem als Menschenrechtsministerium“. Daraus ergibt sich die Frage, warum das Ministerium seiner selbst erklärten Verantwortung so ungenügend nachkommt. Eine Antwort darauf gibt das abschließende Urteil[10] des Permanenten Völkertribunals (TPP). Dieses in der Tradition der Russell-Tribunale aus der Zeit des Vietnamkriegs stehende Tribunal hatte sein „Kapitel Mexiko“ im Oktober 2011 aufgeschlagen, zahlreiche Anhörungen durchgeführt und auf tausenden Seiten dokumentiert. In seiner Abschlusssitzung kam es zu dem Urteil, dass in Mexiko eine extrem schwere, generalisierte humanitäre Krise herrscht. Das Tribunal schlussfolgerte, dass dort – gemessen an den Statuten des Vertrags von Rom und des Internationalen Strafgerichtshofs – multiple Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden und identifizierte dafür vier grundsätzlich Verantwortliche: die transnationalen Unternehmen; Drittstaaten, unter anderem Deutschland, die zugunsten ihrer Konzerne intervenierten; internationale Institutionen, wie den Internationalen Währungsfond und die Weltbank; sowie den mexikanischen Staat. Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum sich Deutschland bemüht, der mexikanischen Verschleierungstaktik Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Anmerkungen

[1] Offener Brief der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko an Bundesaußenminister Westerwelle, 1.7.2011.

[2] Polizeizusammenarbeit mit Mexiko – eine kritische Analyse, 23.1.2012.

[3] Deutscher Bundestag – Stenografischer Bericht, 11.5.2011.

[4] Drucksache 17/8275; Drucksache 17/9116.

[5] Ni Seguridad, Ni Derechos, Human Rights Watch, 9.11.2011; Mexiko: Schockierender Anstieg von Folterfällen in den letzten zehn Jahren. Pressemitteilung, Amnesty International, 4.9.2014.

[6] http://vimeo.com/112652424

[7] Deutscher Bundestag – Stenografischer Bericht, 11.10.2014.

[8] Deutscher Bundestag – Stenografischer Bericht, 5.11.2014.

[9] Der Artikel wird ausführlich zitiert in Proceso, 17.9.2014.

[10] http://www.tppmexico.org/sentencia-de-la-audiencia-final-del-capitulo-mexico-del-tpp/