IMI-Analyse 2012/024
Die Verantwortung zum Schutz der Würde
von: Thomas Mickan | Veröffentlicht am: 29. November 2012
Der Beitrag geht der Frage nach, in welchem Verhältnis das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P) zur Frage der Würde steht. Er erschien in leicht gekürzter Fassung im FriedensForum (Nr. 6/2012, S. 45-46).
Die Krise in Libyen gilt in weiten Teilen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als wichtiger „Praxistest“ für die Schutzverantwortung (kurz R2P). (1) Dabei stellen in einem erst vor kurzem veröffentlichten Standpunkt der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Matthias Dembinski und Densua Mumford fest, dass der Test insbesondere in „weiten Teilen der nicht-westlichen Welt“ als gescheitert gelte. Die auf den Libyenkrieg sich gründende „Entfremdung“ vom Konzept sei jedoch stärker auf die „prozeduralen Lücken […] als […] den substantiellen Gehalt der Norm“ selbst zurückzuführen. (2) Entgegen Dembinskis/Mumfords Feststellungen kann ich für ein westliches Land wie Deutschland jedoch keine Entfremdung beobachten, es ist viel eher zu Annäherungen insbesondere im parteipolitischen Spektrum gekommen. Das Einbringen zweier dem Konzept gegenüber sehr aufgeschlossenen Anträge im Bundestag von den Grünen (3) und der SPD (4) oder die mehrmaligen Vorstöße des Außenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion Philipp Mißfelder, (5) können dabei als Beispiele gelten.
Statt wie Dembinski/Mumford weitere prozedurale Vorschläge zur „Rettung“ (6) des Konzeptes der R2P zu unterbreiten, erscheint es mir notwendig, eine Diskussionsanregungen zu formulieren, die den weitgehend vernachlässigten Zweifel am Konzept selbst hegt. Die grundlegenden Argumente für und wider der so genannten Humanitären Interventionen mit ihrem Einsatz von Gewalt sind jedoch bis zur Ermüdung an anderen Stellen diskutiert worden, und auch die Argumente rund um die Gefahr des „Missbrauchs“ des Konzeptes wie in Libyen möchte ich hier nicht wiederholen. Viel mehr will ich anhand der Dimension der Würde einen Gradmesser skizzieren, der mir in der Auseinandersetzung um die Kriterien und Anwendungsfragen um die R2P nur selten Beachtung zu finden scheint. (7)
Massenverbrechen und Würde
Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen sind die massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen, die mit dem Konzept der R2P adressiert werden. Das spezifische Merkmal aller vier Verbrechen ist nicht ausschließlich die Auslöschung zahlreicher Menschenleben und die damit verbundene Nicht-Anerkennung des Rechts auf Leben. Vielmehr liegt das durch diese Verbrechen ausgelöste Unbehagen noch tiefer motiviert als im kollektiven Töten und Sterben selbst, es begründet sich darin, dass der Grund der Menschenrechte, das heißt die Würde, verneint wird. Das Zerstören einer ganzen Personengruppe aufgrund einer „ethnischen“ Zuschreibung und ohne Ansehen der einzelnen Person kann dabei als Beispiel gelten; oder ein Benutzen von Unbeteiligten als Mittel der Kriegsführung; oder ein Umschlagen von Gewalt in Grausamkeit, in der nicht nur ein Mensch getötet, sondern sich auch in dessen Körper beispielsweise in Form einer Vergewaltigung eingeschrieben wird.
Ich teile die Annahme, dass jeder Krieg Unbeteiligte betrifft, jedes Töten die Würde der Person fundamental verneint und Gewalt immer eine Grausamkeit wider die Menschheit bedeutet. Dennoch scheint es mir aufschlussreich, die besondere Qualität der in der R2P adressierten Verbrechen aufzuzeigen, um eine Beurteilungsdimension öffnen zu können, ob die an die R2P gestellten Hoffnungen zu erfüllen sind. Das es dabei keine befriedigenden Antworten hinsichtlich des Umgangs mit den aufgezählten Verbrechen geben kann und dass nicht alle diese Verbrechen weltweit die gleiche Aufmerksamkeit erfahren können, liegt auf der Hand, weil jedes einzelne im besonderen Maße das Gewissen der Menschheit erschüttert und darin ein ausgewogenes Verstehen und weitsichtiges Antworten in Mitleidenschaft gezogen werden müssen. Für einen adäquaten Geltungsanspruch der R2P sollte es daher ausreichend sein, wenn diese so konzipiert ist, dass sie – ganz im Sinne der Idee von menschlicher Sicherheit – die einzelne Person in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass erstens in ihrer Umsetzung der Grund der Menschenrechte, also die Würde jeder einzelnen Person nicht in Frage gestellt werden darf und zweitens nicht nur das Töten beendet wird, sondern die prognostizierten Opfer als eigenständige Akteur_innen anerkannt und die mutmaßlichen Täter_innen in ihrer Rechtfertigungspraxis berücksichtigt werden. (8)
„Würde“ verstehe ich dabei in Anlehnung an den Frankfurter Philosophen Rainer Forst und einer langen Denktradition vor ihm als einen „Status, der Menschen als Menschen, unabhängig ihrer spezifischen Identität, zukommt.“ (9) Weiter zu fragen ist dabei, was nun eine Verletzung des Status ausmacht. Für Forst tritt diese Verletzung ein, wenn die „reziproke Rechtfertigung auf gleicher Augenhöhe verneint wird.“ (S. 153) Rechtfertigung heißt dabei, dass jede Person in der Aushandlung einer einer Frage „die sie im wesentlichen betr[ifft], nicht übergangen“ (ebd.) werden darf. Reziprok bedeutet wechselseitig, also dass jede Person sich der anderen zu erklären hat, aber auch ein Recht darauf besitzt, ausreichende Begründung insbesondere für Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu erhalten. Würde ist damit eng verbunden mit „Selbstbestimmung“ (S. 155) und ihr „Impuls […] ist ein machtkritischer“ (S. 158). Die Wechselseitigkeit der Begründung besitzt dabei verschiedene Ebenen: Es darf „niemand bestimmte Ansprüche erheben, die er anderen verweigert“; und „niemand [darf] anderen die eigene Perspektive […] unterstellen“, um somit zu beanspruchen „im ‚eigentlichen‘ Interesse der Anderen zu sprechen“ (S. 157). Ferner gilt, dass „Einwände von keiner betroffenen Person ausgeschlossen werden dürfen, und dass die Gründe, die eine Norm legitimieren sollen, von allen Personen geteilt werden können müssen“ (ebd.). Festzuhalten bleibt dabei der direkte Zusammenhang aus Würde und Rechtfertigung als Gradmesser gerechter Verhältnisse: „Ungerecht sind Verhältnisse, die nicht hinreichend reziprok-allgemein gerechtfertigt sind, und zutiefst ungerecht diejenigen, die die Praxis der Rechtfertigung selbst systematisch unterbinden“ (S. 164).
Militär und die Verantwortung zum Schutz der Würde
Kann die R2P dem Kriterium der Würde entsprechen, indem sie selbst keine Würdeverletzungen in diesem Sinne begeht, die prognostizierten Opfer der Massenverbrechen als eigenständige Akteur_innen anerkannt und die mutmaßlichen Täter_innen in ihrer Rechtfertigungspraxis berücksichtigt? Hier ist leider nicht der Platz, diese Frage umfassend zu beantworten. Ich möchte jedoch als ein Beispiel auf die besondere Rolle des Militärs in der R2P insbesondere in der zweiten Säule hinweisen.
Die zweite Säule umfasst die internationale Unterstützung zur Einhaltung der R2P eines Staates gegenüber seinen Bürger_innen. Das beinhaltet einerseits den Auf- und Umbau von „sicherheitsrelevanten“ Kapazitäten und andererseits die Entsendung von Militär und Polizei als Unterstützung für ein Land, das sich gegen gewaltbereite Aufständische und den darin prognostizierten Massenverbrechen wehrt. Hoffnungsvoll wird unter dem Auf- und Umbau von sicherheitsrelevanten Kapazitäten der Aufbau von Frühwarnsystemen, der Ausbau der Zivilen Konfliktbearbeitung oder von diplomatischen Diensten genannt. Viel zentraler steht dabei jedoch der Kapazitätsaufbaus im Zuge so genannter Reformen des Sicherheitssektors im Mittelpunkt (10).
Die Reformen betreffen dabei zu einem großen Anteil einen Auf- und Umbau von Militär und Polizei in dem vermeintlich zu unterstützenden Land. Wie beispielsweise die jüngeren Diskussionen um die deutsch-belarussische Polizeiausbildung zeigen, wird dabei gern unterschätzt, dass Polizei und Militär selbst Teil eines Repressionssystems sein können und mit dem „Bürger in Uniform“ oder dem „Freund und Helfer“ eher weniger gemein haben (11). Auch müssen die Strukturen der gewollten Unterstützung als Mittel selbst befragt werden, ob in diesem die oben genannte Würdekonzeption vorzufinden ist. Insbesondere beim Militär scheint mir das nicht der Fall zu sein, da dieses inhärent undemokratisch (weil auf Befehlen und Hierarchien beruhend), a-demokratisch (weil Normen mit Gewalt durchsetzend) und deindividualisierend (weil Gruppenkonformität erzeugend und fordernd) ist. Das Militär ist deshalb einer der denkbar ungünstigsten Akteur_innen für die Erfüllung reziproker Rechtfertigungsverhältnisse, da diese darin sowohl nach Außen als auch nach Innen negiert werden. Der Einwand, es könne doch eine „demokratische Polizei“ nach deutschen Vorbild aufgebaut werden, scheint mir dabei zwar weniger die Möglichkeit der reziproken Rechtfertigung in Frage zu stellen, aber den vermeintlichen Universalitätsanspruch der R2P und die eigenständige Akteur_innenmacht der Betroffenen. Kann sich beispielsweise ein Polizeiaufbau in Libyen nach saudiarabischem Vorbild einer islamischen Religionspolizei vorgestellt werden? Wie die Internationale Gemeinschaft mit der Selbstbestimmung umgeht, zeigen zudem die Beispiele Kosovo und Afghanistan in deren paternalistischen Bevormundung mehr als deutlich.
Die eigentliche Dynamik, die aus diesem Sicherheitsverständnisse erwächst, zeigt sich in den Entwicklungen in Mali im Zusammenhang der Libyenintervention mit den gewaltvollen Auseinandersetzungen im Norden Malis. Als Antwort auf diese Entwicklungen aufgrund des Präzedenzfalles der R2P in Libyen wird dann vor allem von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich eine neue Trainingsmission für das malische Militär im Rahmen der EU installiert, um die malische Regierung gegen die Rebellierenden zu unterstützen. Dass vorher bereits eine umfassende Militärunterstützung in Mali erfolgte, bleibt unerwähnt. Die verheerende Wirkung erklärt sich auch aus dem in der R2P vorherrschenden Geist. Es ist ein Verständnis, dass den Aufbau staatlicher Organe als zentrale Säule versteht und die damit verbundenen neuen Würdeverletzungen ausblendet, die Selbstbestimmung der prognostizierten Opfer unterminiert und die mutmaßlichen Täter_innen systematisch ihre Praxis der Rechtfertigung abspricht. Wenn die harte Hand des Staates gestärkt wird, kann die Verantwortung zum Schutz der Würde als zentraler Gradmesser für gerechte Verhältnisse nicht berücksichtigt werden.
Anmerkungen:
1) Ich beziehe mich im Folgenden auf das Konzept der R2P wie es 2009 im Bericht des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon als so genannter 3-Säulen Ansatz formuliert wurde: Die erste Säule ist die Verantwortung des Staates zu schützen, die zweite die internationale Unterstützung und der Aufbau von Kapazitäten und die dritte das rechtzeitige und entschiedene (i.d.R. militärische) Eingreifen. Vgl. Ban Ki-moon (2009): Implementing the responsibility to protect. Bericht des UN-Generalsekretärs, A/63/677.
2) Dembinski, Matthias/Mumford, Densua (2012): Die Schutzverantwortung nach Libyen. HSFK-Standpunkte, Nr. 4/2012, S. 3. Als prozedurale Lücke identifizieren die Autor_innen insbesondere die Unzureichende Einbindung von Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union in Entscheidungsstrukturen.
3) Antrag der Fraktion der Grünen (2012): Schutzverantwortung weiterentwickeln und wirksam umsetzen. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/9584.
4) Antrag der Fraktion der SPD (2012): Die internationale Schutzverantwortung weiterentwickeln. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/8808.
5) U.a. Mißfelder, Philipp (2012): UNO wird ihrer Rolle als Weltpolizei nicht gerecht. Interview mit dem Deutschlandfunk, 5.10.2012, online abrufbar unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1884356/, [Zugriff: 10.10.2012].
6) Hammer, Karin: Editorial. In: Dembinski/Mumford (2012): Die Schutzverantwortung nach Libyen, S. 1.
7) Ein Sammelband von Philip Cunliffe ist hier als kritischer Debattenbeitrag davon abzuheben. Vgl.: ders. (2011) (Hrsg.): Critical Perspectives on the Responsibility to Protect. Oxon: Routledge.
8) Bereits Kofi Annan diskutiert in seinem Bericht „In Larger Freedom“ die R2P unter der Überschrift der Würde, es liegt daher nicht allzufern dieses aufzugreifen. Vgl. ders. (2005): In Larger Freedom. Bericht des UN-Generalsekretärs, A/59/2005, S. 35 (135).
9) Forst, Rainer (2009): Der Grund der Kritik. Zum Begriff der Menschenwürde in sozialen Rechtfertigungsordnungen, S. 152. In: Jaeggi, Rahel/ Wesche, Tilo (Hrsg.): Was ist Kritik?, S. 150-164.
10) Ban Ki-moon (2009): Implementing the responsibility to protect, S. 15f.
11) Vgl. hierzu u.a. Kuzmarov, Jeremy (2012): Modernizing Repression: Police Training and Nation Building in the American Century (Culture, Politics, and the Cold War). University of Massachusetts Press.