IMI-Analyse 2022/52 - in: Ausdruck September 2022

Funktionen der EU-Waffenexporte

Tödliche Profite für wenige Profiteure

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 26. September 2022

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Die weltweiten Militärausgaben überschritten im Jahr 2021 erstmals zwei Billionen US-Dollar und wuchsen damit laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) das siebte Jahr in Folge. Auch im Jahr 2022 nehmen die Rüstungsausgaben weiter zu. Noch nie gaben die Staaten weltweit so viel für Militär und Rüstung aus – und das trotz COVID-19-Pandemie. Zu den großen Exporteuren zählen die EU-Mitgliedstaaten; EUropa will globale Militärmacht sein.

Summiert machen Waffenexporte aus der EU in den Jahren 2016-2020 ganze 26 Prozent der weltweiten Gesamtmenge aus. Miteingerechnet sind hierbei noch die Exporte aus dem Vereinigten Königreich. Doch selbst ohne UK wären es weiterhin 22,7 %. Damit rangiert die EU auf Platz zwei der weltweiten Waffenexporteure, getoppt allein durch die USA (37 %) und gefolgt von der Russischen Föderation (20 %), China (5,2 %) und Israel (3 %). Der Großteil der aus der EU exportierten Waffen kommt aus Frankreich (8,2% der weltweiten Gesamtmenge), dicht gefolgt von Deutschland (5,5 %), Spanien (3,2 %) und Italien (2,2 %).[1] Im Allgemeinen steigen die Waffenexporte aus der EU und in die EU. Die EU schwingt sich auf zu einer globalen Militärmacht. Nicht Stabilität und Frieden, sondern geopolitische Interessensicherung ist ihr Motiv.

Ein „sicherheitspolitisches Instrument“?

Der Verteidigungsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik Christian Mölling behauptet: „Waffenlieferungen schaffen unweigerlich eine dauerhafte sicherheitspolitische Beziehung mit den Empfängern: Sie verändern die innerstaatlichen Machtverhältnisse beim Empfänger und die regionale Balance. Insofern ist auch Deutschland verantwortlich für Wandel und Stabilität in der Welt.“[2] Waffenlieferungen können also als „sicherheitspolitische Instrumente“ das Machtgefüge in den Empfängerländern wandeln – in den Exportstaaten übrigens auch. Doch das dadurch innerstaatliche und regionale Stabilität erreicht werden kann, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen – ganz im Gegenteil. Dies legt Simone Wisotzki in der von Urgewald in Auftrag gegebenen Studie „Rüstungsexporte als Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik? Argumente auf dem Prüfstand“ dar. Wisotzki vergleicht hierfür Rüstungsexporte in Staaten und Regionen mit dem Konfliktgeschehen und der Häufigkeit des Auftretens. Dabei stellt sie fest: „Zu den größten Rüstungsimporteuren im Zeitraum 2016–2020 zählen unter anderem Ägypten und Saudi-Arabien, aber auch in der Region Ostasien China, Indien, Pakistan und Südkorea. […]. Die Aufrüstung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Konfliktgeschehens in beiden Regionen und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Konfliktgeschehen und Rüstungswettläufen“.[3] Ebenso entkräftet Wisotzki die gängige sicherheitspolitische Logik des Stabilitätsgewinns durch Unterstützung der Selbstverteidigung. Weder sogenannte Defensivwaffen noch die Stabilisierung und Ertüchtigung von Drittstaaten durch Ausstattungshilfen oder Exporte für die Bündnisfähigkeit der NATO und Europas bringen Sicherheit, Stabilität und Frieden.

Wisotzki führt hier u. a. die als vermeintliche Defensivwaffen deklarierten Patrouillenboote an, die Deutschland an Saudi-Arabien lieferte. Diese wurden nicht zur „Selbstverteidigung“ eingesetzt, sondern zur Aufrechterhaltung der tödlichen Seeblockade im Jemenkrieg, womit das saudische Militär auch humanitäre Hilfslieferungen an die unter Hungersnot leidende Bevölkerung blockierte. Die sogenannte „Ertüchtigung“ von Drittstaaten bringt bislang ebenso wenig die versprochene Stabilität. Die „Ausstattungshilfe“ wechselt immer wieder die Hände. Sowohl Waffen, die die Bundesregierung an die Peschmerga in Nordirak als auch an die afghanische Polizei lieferte, landeten auf dem Schwarzmarkt, wie Wisotzki zeigt.

Auch Bündnisfähigkeit ist ein poröses Argument. Zum einen bestehen im NATO-Bündnis unterschiedliche Konflikte z.B. hinsichtlich Griechenlands und der Türkei. Zum anderen beeinflussen Bündnisabkommen die eigene staatliche Handhabung von Waffenexporten. So zeigt das Beispiel Saudi-Arabien, wie Sammelausfuhrgenehmigungen und Reexportgenehmigungen den von der damaligen Bundesregierung beschlossenen Rüstungsexportstopp umgehen konnten. Frankreich und Deutschland schlossen 2019 ein neues Abkommen ab, das die Rüstungskooperation regelt. Elementar verankert ist darin, dass sich die BRD als „Kompetenzzulieferer“[4] bei einem Warenanteil von bis zu 20 Prozent des Produktes nicht gegen einen geplanten Export des Produktes durch Frankreichs stellen kann.[5] Unerheblich scheint dabei zu sein, dass sowohl der Gemeinsame Standpunkt zur Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene als auch der internationale Waffenhandelsvertrag (ATT) Waffenlieferungen an Kriegsparteien verbietet, was, so Wotzki, für alle Mitgliedsstaaten gilt.[6]

Waffenexporte – Triebfeder der Wirtschaft?

Als zuverlässig kontrolliert einsetzbares sicherheitspolitisches Instrument taugen Waffenexporte folglich nicht. Obwohl Deutschland unter den Top Fünf der Waffenexporteure rangiert, leistet die Rüstungsindustrie bislang einen relativ geringen Beitrag zur Gesamtwirtschaftsleistung. Im Jahr 2021 exportierte die BRD Waren im Wert von 1.376 Milliarden €, davon 9 Milliarden € an Rüstungsgütern. Demnach machten die Rüstungsexporte nur etwa 0,65 % aller Exporte aus der BRD aus. Viele Arbeitsplätze bietet die Industrie nicht: Laut dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft beschäftigte die Rüstungsindustrie im Jahr 2020 rund 55.500 Personen.[7] Im Vergleich dazu arbeiten rund 81.000 Menschen am Flughafen Frankfurt. Doch die Zeichen deuten auf eine Ausweitung der Rolle von Waffenexporten hin.

In Frankreich hingegen nehmen die Waffenexporte laut dem Wirtschaftsexperten Claude Serfati eine andere Rolle für die Wirtschaftsleistung des Staates ein: „Frankreich ‚kompensiert‘ seinen [zivilen] wirtschaftlichen Niedergang durch einen Anstieg seiner beträchtlichen internen Militärausgaben seit Anfang der 2010er Jahre, aber auch durch eine Vervielfachung der militärischen Aktivitäten, die das Material kampferprobt machen, und schließlich durch die Vervielfachung von Zugeständnissen an diktatorische Länder, um weiterhin Waffen verkaufen zu können.“[8] Frankreich setzt offener und unbeschränkter auf die Rüstungsindustrie.

Währenddessen deutet sich auf EU-Ebene an, dass die Rüstungs- und Sicherheitsindustrie wachsen soll. Dafür sind Exporte nötig, denn Forschung und Entwicklung verschlingen große Summen staatlicher Gelder. Dies betonte der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell im Jahr 2020 in einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments. Borell stellt fest: „Um eine florierende Verteidigungsindustrie zu gewährleisten, sind Exporte unerlässlich.“[9]

Es geht um strategische Autonomie…

In seiner Plenarrede führt Borrell aus, wozu eine florierende Verteidigungsindustrie für die EU als „globaler Sicherheitsanbieter“ beitragen soll. So sei die Aufrechterhaltung einer dynamischen und innovativen Verteidigungsindustrie in der Europäischen Union eine Schlüsselkomponente der strategischen Autonomie der EU und der europäischen Verteidigung: „Sie dient dazu, unsere Fähigkeiten zu sichern und die Abhängigkeit zu verringern, während die Verteidigungsindustrie auch eine wichtige Quelle für technologische Innovationen ist.“

Der Rüstungs- und Sicherheitsmarkt, der angesichts der Versicherheitlichung von Migration und Klimawandel weiteres Wachstum verspricht, stellt das Kronjuwel des EUropäischen Binnenmarktes dar, der nun auf globaler Ebene wettbewerbsfähig sein soll. Die Unabhängigkeit der eigenen Rüstungsindustrie verschafft den Mitgliedsstaaten militärische Vorteile und damit auch militärische Macht. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verlagern die hohen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskosten u.a. auf die Empfängerregionen ihrer Waffenexporte, in denen oftmals Konflikte schwelen oder Kriege wüten. Die Waffenlieferungen befeuern diese, was noch mehr Menschenleben fordert. Der Export von Rüstungsgütern senkt die Produktionskosten, so Mark Akkerman, Forscher von Stop Wapenhandel: „Exporte erhöhen die Produktionsmengen, was die Rüstungsindustrie wettbewerbsfähiger macht“.[10] Zudem erweisen sich exportierte Produkte dann gegebenenfalls schneller als „kampferprobt“ und gewinnen somit an Attraktivität für zukünftige Kund*innen. Ein explizites Beispiel stellt die Äußerung von Stéphane Mayer, dem Vorstandsvorsitzenden des französischen Rüstungsunternehmens Nexter Systems in einer Anhörung der französischen Nationalversammlung dar: „Ich kann bestätigen, dass die Leistung der Leclerc-Panzer im Jemen die Militärs des gesamten Nahen Ostens nachhaltig beeindruckt hat“.[11] In der Studie „Öl ins Feuer – Wie die Europäische Union ein neues Wettrüsten anheizt“, die im März 2022 vom European Network Against the Arms Trade (ENAAT) und dem Transnational Institute (TNI) herausgegeben wurde, betonen die Autor*innen ebenfalls, dass diese Entwicklung den Weg zu einer Ausweitung der Exporte ebnet, um die eigene Rüstungsindustrie weiter zu stützen.[12] Noch scheitert die EU-Zusammenarbeit hin zu einer strategischen Autonomie an den Konkurrenzkämpfen innerhalb der EU – doch nichtsdestoweniger treibt das Ziel der Etablierung oder Aufrechterhaltung einer unabhängigen Rüstungsindustrie der jeweiligen Mitgliedstaaten die Exporte voran.

…zur geopolitische Interessensicherung

Zu den gängigen Motiven hinter Waffenexporten zählt zudem die geopolitische Interessensicherung, die sowohl von dem Export- als auch dem Importland ausgehen kann. In seiner Studie „A Union of Arms Exports“ betont Mark Akkerman, dass Waffenlieferungen Regime in Ländern unterstützen, die mit den wirtschaftlichen und militärischen Interessen der EU verknüpft sind. So sichern Waffenexporte z.B. den Zugang zu Öl. Unverhohlen rechtfertigte die niederländische Regierung den Export von gepanzerten Patrouillenboote an Nigeria im Jahr 2009 damit, dass diese wichtig zum Schutz der Ölplattformen des Energiekonzerns Shell, zuvor Royal Dutch Shell, im Nigerdelta seien.[13]

Ein erschreckendes und doch illustratives Beispiel stellen die Waffenexporte aus der EU nach Ägypten dar – durch den Suezkanal ist Ägypten das Nadelöhr des Welthandels und damit von hoher geopolitischer Relevanz. Ein Bericht des Nachrichtenportals Middle East Eye[14] zeigt, inwiefern Waffenlieferungen dazu genutzt werden, EUropäische Lieferstaaten zum Schweigen bezüglich der gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Ägypten zu motivieren. In einem internen Memo des ägyptischen Außenministeriums vom 28. Mai 2017, welches dem Nachrichtenportal Middle East Eye vorliegt, steht explizit, dass die kritischen Töne bezüglich der Menschenrechtslage aus Ägyptens Zivilgesellschaft und Medien in der EU nicht zuletzt deshalb Gehör finde, weil ein Mangel an vitalem Interesse an einer Kooperation mit Ägypten vonseiten der EU bestehe (wie z.B. milliardenschwere Rüstungsdeals, ein Abkommen zur Unterbringung von Geflüchteten) – dies hingegen sei der Fall der Türkei. Unterzeichnet ist das Memo von Samih Schukri, dem amtierenden ägyptischen Außenminister. Dies lässt sich auch in Importstrategien der letzten Jahre erkennen: Bemerkenswert ist Macrons Erklärung, die Waffenlieferungen an Ägypten nicht weiter an Menschenrechte knüpfen zu wollen, da Dialog effizienter sei als eine Boykotthaltung, die al-Sisis vermeintlichen Antiterrorkampf schwächen würde.

Ebenfalls bemerkenswert sind die Waffenlieferungen aus der BRD: Diese stiegen seit dem Putsch des Miltärdiktators al-Sisi im Jahr 2013 um mehr als 205 %, so das Tahrir Institute for Middle East Policy. Einen Höhepunkt erreichten sie in den letzten Tagen der vorigen Bundesregierung von Union und SPD. Obwohl es üblich ist, dass die abtretende Regierung in den letzten Tagen keine Entscheidungen mehr von großer politischer Tragweite fällt, genehmigte sie – sehr zur Freude der deutschen Rüstungsindustrie – Rüstungsexporte im Wert von fast fünf Milliarden Euro an Ägypten. Neben 16 Luftabwehrsystemen soll Ägypten drei Kriegsschiffe erhalten.

Währenddessen beteiligt sich Ägypten an der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition im Krieg in Jemen, führte Luftschläge in Libyen und im Sinai durch und ist für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Seit Jahren berichten zivilgesellschaftliche Organisationen von mehr als 60.000 politischen Gefangenen, die oft jahrelang ohne Urteil in Haft gehalten werden und selbst wenn über sie ein Urteil gefällt wurde, so waren die Verfahren oftmals eine reine Farce. Seit dem 2. April 2022 befindet sich der Menschenrechtsaktivist Alaa Abdel Fatah im Hungerstreik, um gegen seine willkürliche Inhaftierung und die rechtswidrigen Haftbedingungen zu protestieren. Mittlerweile erhielt er die britische Staatsangehörigkeit. Seine Familie hofft, dass er des Landes verwiesen wird und damit der Inhaftierung entkommt. Auch Großbritannien zählt zu al-Sisis großen Waffenzulieferern. Im November findet die COP27 in Ägypten statt.

Entwicklung stoppen

Es ist jetzt an der Zeit, dass die Regierungen der BRD und der UK die Freilassung von Alaa Abdel Fatah und aller politischen Gefangenen fordern – erste Proteste und eine Kampagne für die Freilassung Fatahs fanden bereits statt. Doch der Bundesregierung sind vor allem die Rüstungsexporte und der Aufbau eines unabhängigen Rüstungskomplexes wichtig. Durch Druck aus der Zivilgesellschaft muss diese Entwicklung der EU zu einer globalen Militärmacht abgewendet werden, damit nicht weiter zahlreiche Menschen in Drittländern mit ihrem Leben den Preis für diesen militärischen Aufschwung der EU zahlen müssen.

Anmerkungen

1 SIPRI: Trends in International Arms Transfers, 2020, sipri.org, März 2021.

2 Christian Mölling: Abhängig von Waffen, swp-berlin.org, 6.8.2014.

3 Simone Wisotzki: Rüstungsexporte als Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik? Argumente auf dem Prüfstand, urgewald.org, Oktober 2021.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Deutsche Rüstungsindustrie: Eine Branche im Umbruch, iwd.de, 29.3.2022.

8 Classement des vendeurs d’armes: „La France fait des efforts désespérés pour rester dynamique“, marianne.net, 7.12.2020.

9 Arms exports: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the EP plenary, eeas.europa.eu, 15.9.2020.

10 Mark Akkerman: A Union of Arms Exports: why European arms keep fuelling war and repression around the world, stopwapenhandel.org, Oktober 2021.

11 Claude Serfati: Frankreichs militärischer Machthebel und die «europäische Verteidigung», in: Ingar Solty, Claude Serfati, Judith Dellheim: Sicherheitspolitik contra Sicherheit. Zur Symbiose von Rüstung und Industrie in der Europäischen Union, Rosa Luxemburg Stiftung Manuskripte Neue Folge 24, rosalux.de, Januar 2020, S. 35.

12 Mark Akkerman, Pere Brunet, Andrew Feinstein, Tony Fortin, Angela Hegarty, Niamh Ní Bhriain, Joaquín Rodriguez Alvarez, Laëtitia Sédou, Alix Smidman und Josephine Valeske: Fanning the flamesHow the European Union is fuelling a new arms race, tni.org, März 2022.

13 Mark Akkerman: A Union of Arms Exports, Oktober 2021.

14 Ahmed Shams: Silence for arms: Egypt’s secret deal with the EU, middleeasteye.net, 26.7.2022.