IMI-Analyse 2022/49

Neue Großoffensive in Nordsyrien?

Der Krieg tobt bereits – und die EU profitiert

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 9. September 2022

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Rania Eta, Zozan Zedan, Dilan Ezedin und Diyana Elo – das sind die Namen der vier Mädchen, die am 18. August 2022 durch einen Drohnenangriff der Türkei auf ein von der UN gefördertes Mädchenbildungszentrum in Nordostsyrien umgebracht wurden. Zum Zeitpunkt des Luftangriffs spielten sie Volleyball im Hof des Bildungszentrums. Elf weitere Mädchen erlitten Verletzungen. Das Bildungszentrum ist Teil des UN-Aktionsplans gegen die Rekrutierung von Kindern unter 18 Jahren. Zuvor waren die vier ermordeten Mädchen Teil der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), jedoch ohne in Kampfeinsätze eingebunden zu sein.[1] Dieser Angriff reiht sich ein in eine ganze Serie von Artillerie- und Drohnenangriffen, die sich seit dem Treffen des türkischen Präsidenten Erdogan mit seinen Amtskollegen Putin und Raisi in Teheran intensivieren.

Luftschläge und Artillerieangriffe nehmen zu

Erst im Mai 2022 kündigte der türkische Präsident Erdogan die nächste (völkerrechtswidrige) Militäroffensive in Nordsyrien an; bislang steht die Offensive aus, die sich gegen die als „Terroristen“ erklärten kurdische Kämpfer*innen in den von der YPG kontrollierten Städten Tal Rifaat und Manbij richten soll.[2]

Bei dem Treffen in Teheran blieb die erhoffte Rückendeckung von Russland und Iran für eine erneute Großoffensive aus – auch die USA äußern sich kritisch und rufen offiziell zur Deeskalation auf.[3] Unterstützung zeichnet sich auch aus Syrien nicht ab – bei einem Treffen des syrischen und des russischen Außenministers Mitte August lehnten beide eine mögliche militärische Invasion der Türkei in Nordsyrien ab.[4] Die Großoffensive bleibt zunächst aus, doch der Krieg tobt bereits und die Luftschläge nehmen zu. In Erinnerung dürfte noch die Bombardierung Nordiraks einen Tag nach dem Treffen in Teheran sein – bei Luftschlägen am 20. Juli 2022 im Ferienort Barakh starben acht irakische Tourist*innen, davon zwei Kinder.[5] Insgesamt sind laut dem Rojava Information Centre im Jahr 2022 bislang 75 Luftangriffe durch Kampfdrohnen erfasst.[6] Seit Januar 2022 erfolgten demnach mehr als 3.700 Angriffe auf das Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung – 1.420 davon seit Juni.[7] Mittlerweile vergeht kaum ein Tag ohne einen Luft- oder Artillerieangriff. Die Artillerieangriffe verlaufen nicht nur tödlich für die Menschen vor Ort, sondern führen immer wieder auch zu massiver Zerstörung. So zum Beispiel bei einem Artilleriebeschuss am 12. August 2022, durch den ein Waldbrand vom türkischen Militär in Colemêrg ausgelöst wurde und die Löschversuche der Bevölkerung vom Militär unterbunden wurden.[8]

Die türkische Regierung scheint ihren Drohnenkrieg und Artilleriebeschüsse zu intensivieren, um dennoch ihr denkbares Ziel umzusetzen: die Vertreibung der Bevölkerung zur Etablierung einer so genannten Sicherheitszone entlang der türkischen Grenze und die Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltung. Zudem stehen Wahlen in der Türkei an und die Inflation erreichte im Juli 2022 unerträgliche 79,6%. Am stärksten stiegen die Verbraucherpreise im Verkehrssektor (+119%) und für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke (+95%).[9] Erdogan nutzt den Krieg in Nordsyrien und im Nordirak, um u.a. von der desolaten Wirtschaftssituation vor der bevorstehenden Wahl in der Türkei abzulenken und den sozialen Unmut in rassistischer und nationalistischer Manier auf die syrischen Geflüchteten und die Kurd*innen zu richten.

30-km tiefe „Sicherheitszone“?

Im Mai 2022 bekräftigte der türkische Präsident erneut seinen Plan, eine sogenannte Sicherheitszone mit einer Breite von 30 km entlang der türkischen Grenze zu Nordsyrien errichten zu wollen. Bereits im Jahr 2019 stellte er diesen Plan vor der UN vor. Dort will er 1 Million der 3,6 Millionen syrischen Geflüchteten ansiedeln, die momentan in der Türkei leben.[10] Bislang wurden laut dem Rojava Information Centre mehr als 300.000 Menschen aus diesem Gebiet vertrieben – und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Ersetzt wurden sie durch fast ebenso viele Binnenvertriebene aus überwiegend arabisch geprägten Regionen Syriens. In einem Bericht des Rojava Information Centre heißt es: „Nach Angaben der Afrin Human Rights Organization waren im Jahr 2020 rund 65% der Siedler*innen Familienangehörige von SNA-Milizionären oder ISIS-Mitgliedern, die nach der Niederlage der Organisation geflohen waren.“[11] Dies findet in von der Türkei besetzten Gebieten, wie in der Region Afrin, statt – alleine in der Zeit von 2018-2021 wurden dort 32 Dörfer errichtet.[12]

Zudem tragen nicht nur die militärischen Angriffe zur Vertreibung der Bevölkerung bei – hinzu kommen die Zerstörung der Lebensgrundlage, z.B. durch das Roden von Olivenbäumen. Laut dem Rojava Information Centre fällten SNA-Gruppen mehr als 3.688 Bäume in den von der Türkei besetzten Gebieten. Dem Information Centre liegen auch Berichte von mindestens 19 Fällen von unrechtmäßiger Beschlagnahmung und dem Verkauf von Eigentum, u.a. von Häusern, vor, die an Binnenvertriebene aus den Regionen Homs und Damaskus verkauft wurden. Erschwert wird den Menschen vor Ort ihre Existenz durch das Erheben hoher Steuern für landwirtschaftliche Produktion, wie zum Beispiel eine 50%-Steuer auf die Olivenproduktion.[13]

Waffen aus der EU

In den Jahren 2017-2021 bezog die Türkei ihre Rüstungsimporte hauptsächlich aus Italien (30%), den USA (22%) und Spanien (21%).[14] In der Zeit von 2015-2020 lieferte Italien 57 Kampfhubschrauber des Typs  A-129C Mangusta an die Türkei, die laut Berichten aus Nordirak dort durch das türkische Militär eingesetzt werden.[15] Auch die Rüstungslieferungen aus der BRD spielen eine große Rolle für die türkischen Waffenarsenale – die größten Waffenexporteure an die Türkei in den letzten 40 Jahre waren die USA, Deutschland und Frankreich.[16]

In den Jahren 2018 und 2019 war die Türkei das Hauptempfangsland deutscher Kriegswaffen – fast ein Drittel aller Rüstungsgüter gingen an den Bosporus, im Jahr 2018 im Wert von 242,2 Mio.€ und im Jahr 2019 im Wert von stolzen 344,6 Mio €. Im Jahr 2020 erteilte die BRD 68 Einzelgenehmigungen im Wert von 22,9 Mio € und im Jahr 2021 35 Genehmigungen mit einem Gesamtwert von 11,1 Mio €.[17] Dabei beschloss die Bundesregierung bereits im Jahr 2016 eine restriktivere Exportpolitik für die Türkei und im Jahr 2019 – nach der dritten völkerrechtswidrigen Großoffensive der Türkei im Nordosten Syriens und den steigenden Spannungen wegen Ölgasfeldern im Mittelmeer zwischen der Türkei, Zypern und Griechenland – führte sie einen löchrigen Rüstungsexportstopp ein. Der „Exportstopp“ sollte die Lieferung von Waffen verhindern, die die Türkei im Syrienkrieg einsetzen könnte – jetzt würden hauptsächlich Waffen für den maritimen Bereich geliefert. Hierbei geht es vor allem um im Jahr 2009 genehmigte Lieferungen von U-Boot-Komponenten, mit denen in der Türkei in Zusammenarbeit mit ThyssenKrupp Marine Systems sechs U-Boote montiert werden.[18]

Doch genau dies kritisieren sowohl die griechische Regierung als auch Friedensaktivist*innen, denn abgesehen von den tödlichen Militäraktivitäten in Nordsyrien und Nordirak, umgeht die Türkei das Waffenembargo Libyens und greift dort u.a. durch Waffenlieferungen in den Krieg ein und streitet mit Zypern und Griechenland um die Rechte von Öl- und Erdgasfeldern im östlichen Mittelmeer – ein Streit, der das Potenzial hat, zu einem militärischen Konflikt auszuwachsen. Abgesehen davon limitierte der Rüstungsexportstopp keine Sammelgenehmigungen und keine Re-Exportgenehmigungen. Diese laufen weiter: So wurden 2021 drei Re-Exportanfragen aus Frankreich für die Ausfuhr an die Türkei genehmigt – für elektronische Ausrüstung und Ortungsausrüstung. Auch sieben Sammelausfuhrgenehmigungen wurden 2021 erteilt – hier heißt es nur schwammig, dass diese u.a. Empfänger in der Türkei beinhalten. Diese umfassen u.a.: Splitter-Gefechtsköpfe für die Flugabwehrrakete Evolved Sea Sparrow Missile (ESSM) von TDW sowie die zugehörige Software und Technologie, Nachbrennertriebwerke von MTU Aero Engines sowie dazugehörige Software und Technologie und von DIEHL Aviation Gilching Komponenten für den Airbus A400M – sowie Technologie dazu. Die Türkei nutzt bereits neun Transportflugzeuge des Typs A400M und erwartet die Lieferung eines zehntens – dieser Typ gelangte in die Schlagzeilen, nachdem 2020 öffentlich wurde, dass dieses Flugzeug von der Türkei dazu genutzt wurde, kriegsrelevante Fracht, Soldaten und Söldner in das Bürgerkriegsland Libyen zu bringen, gegen welches ein UN-Waffenembargo besteht. Nichtsdestotrotz wartete Airbus zeitgleich das Flugzeug in der Türkei – und unterstützte dadurch die türkischen Streitkräfte bei ihrem Bruch des Waffenembargos.[19]

Durch Technologietransfers stärkt die Türkei immer weiter die eigene Rüstungsindustrie. Die Entwicklung der Drohnenproduktion in der Türkei zeigt, inwiefern Technologietransfers aus der EU als technologischen Steigbügel zum Aufstieg zu einer Drohnenmacht fungierten.

Beihilfe zum Aufstieg der Drohnenmacht

Komponenten aus der EU (Österreich, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden) spielen eine wichtige Rolle in der Konstruktion des tödlichen Drohnenexportschlagers der Türkei, der Bayraktar TB2 Drohne.[20] Einige der Komponenten kann die türkische Rüstungsindustrie mittlerweile selbst produzieren. Die Thermalbatterie für die Munitionen stellte SB Aerospatiale in Frankreich her. Dieses Unternehmen gehört zur ASB-Gruppe, einem Unternehmen von Saft (ein Tochterunternehmen von TotalEnergies) und Airbus. Die Komponenten aus Deutschland betreffen u.a. auch die Munition; aus der BRD wurden Tandemsprengköpfe und Know-how in die Türkei exportiert: „Das an diesem Austausch beteiligte Unternehmen war TDW, das sich zu 100 % im Besitz des europäischen Raketenherstellers MBDA befindet, der wiederum im Besitz des deutsch-französischen Airbus, des britischen BAE Systems und des italienischen Leonardo ist.“[21] Ein weiteres Beispiel ist das mit optischen und infrarotbasierten Kameras und Lasertechnologie ausgestattete Sensormodul der TB2, das Matthias Monroy quasi als das Auge der Drohne bezeichnet. Zwischenzeitlich lieferte es Hensoldt (Modul ARGOS-II), doch mittlerweile produziert das türkische Rüstungsunternehmen Aselsan die Sensormodule für die TB2.[22]

Stopp die Waffenexporte an die Türkei!

Die Forderung von Außenministerin Baerbock nach einem Rüstungsexportstopp in die Türkei ist begrüßenswert, doch angesichts der vorangegangenen Schritte hin zu einer „restriktiveren“ Exportpolitik in die Türkei lassen sich Lehren ziehen, um dieser Forderung starken Nachdruck verleihen zu können. Zum einem müssen Sammel- und Re-Exportgenehmigungen eingeschlossen werden in einen Rüstungsexportstopp. Dazu müssen die mit den EUropäischen Partnern geschlossenen Abkommen geändert werden. Solange dies nicht geschieht, kann die BRD keinen ernsten Rüstungsexportstopp einführen. Zweitens müssen mehr Informationen zu den Rüstungsexporten zugänglich sein – doch es werden immer weniger. So veröffentlicht die Bundesregierung seit 2019 in den Rüstungsexportberichten weniger Einzelangaben zu den Empfängerländern: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass anhand der hier aufgelisteten Einzelangaben eine Re-Identifizierung betroffener Unternehmen möglich ist. Nach den Regelungen des Bundesstatistikgesetzes kann daher zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen eine Veröffentlichung nicht erfolgen“.[23] Zu guter Letzt muss die BRD allgemein von einer Ausrichtung abkommen, in der dem Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie eine solche Wichtigkeit zugeschrieben wird, dass sie von Waffenexporten abhängig ist und diese bereitwillig an zahlreiche Staaten, die in Kriege verwickelt sind, liefert – wie z.B. die VAE, Ägypten, Türkei und Saudi-Arabien.

Anmerkungen

[1]      Rojava: Vier Kinder bei türkischem Drohnenangriff getötet, anfdeutsch.com, 19.8.2022

[2]      Turkey’s Erdogan renews case for Syria operation at Tehran talks, aljazeera.com, 19.7.2022

[3]      Questions and Answers: Turkey’s Threatened Incursion into Northern Syria, reliefweb.int, 17.8.2022, Department Press Briefing – August 18, 2022, state.gov, 18.8.2022

[4]      Russian-Syrian agreement on rejecting Turkish operation in north Syria, npasyria.com, 23.8.2022

[5]      Turkish air raids kill eight tourists in northern Iraq: Officials, aljazeera.com, 20.7.2022

[6]      Rojava Information Centre, twitter.com, 24.8.2022

[7]      Elke Dangeleit: Vier Mädchen tot: Türkei bombardierte UN-Bildungszentrum in Nordsyrien, heise.de, 21.8.2022

[8]      Colemêrg: Soldaten setzen Waldgebiet in Brand, anfdeutsch.com, 18.8.2022

[9]      Turkish inflation hits almost 80%, peak might be near, reuters.com, 3.8.2022

[10]     State of the Occupation Q4: Infighting Reaches All Time High During the Fall as War Looms, rojavainformationcenter.com, 21.6.2022

[11]     Ebd.

[12]     Ebd.

[13]     Ebd.

[14]     Trends in International Arms Transfers, 2021, sipri.org, März 2022

[15]     Civilian Casualties of Turkish Military Operations in Northern Iraq (2015 – 2021), A report byEnd Cross-border Bombing CampaignAugust 2022, iraqicivilsociety.org, August 2022

[16]     Thodoris Chondrogiannos: How EU weapons sales are stoking an arms race between Greece and Turkey, investigate-europe.eu, 28.3.2022

[17]     Drucksache 20/819: Deutsche Rüstungsexporte in die Türkei und speziell für die türkische Kriegsmarine, Kleine Anfrageder Abgeordneten Sevim Dağdelen, Andrej Hunko, Ina Latendorf, Cornelia Möhring, Żaklin Nastić, Sören Pellmann, Victor Perli, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE, dserver.bundestag.de, 23.2.2022

[18]     Ebd.

[19]     Airbus wartet türkische Militärflugzeuge, tagesschau.de, 25.8.2020

[20]     Apostolis Fotiadis und Niamh Ni Bhriain: Smoking Guns. How European arms exports are forcing millions from their homes, tni.org, 28.7.2021

[21]     Ebd.

[22]     Matthias Monroy: Krieg niederer Intensität, medico.de, 9.8.2022

[23]     Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2020 – Rüstungsexportbericht 2020, bmwk.de, Juni 2021