IMI-Analyse 2022/42 - in: Ausdruck Juni 2022

Migrationskontrolle aus dem All

von: Matthias Monroy | Veröffentlicht am: 25. Juli 2022

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Migrationskontrolle aus dem All

In EUROSUR nutzen die EU-Mitgliedstaaten verschiedene Satellitendienste zur Meeresüberwachung. Frontex und die Agentur für die maritime Sicherheit schließen dazu Kooperationsabkommen mit dem Programm „Copernicus“

Mit zwei neuen Verordnungen von 2016 und 2019 erhielt Frontex die Erlaubnis, eigene Ausrüstung und eine Grenztruppe von 10.000 Beamt:innen aufzubauen, davon 3.000 mit Uniformen und unter dem Kommando des Frontex-Hauptquartiers in Warschau. Die berechtigte Kritik am Eigenleben der EU-Grenzagentur und der schwindenden Kontrolle lässt außer Acht, dass Frontex zu einem Kommandozentrum für die europäische Grenzüberwachung geworden ist. Dessen Kern ist das 2014 in Betrieb gegangene Grenzüberwachungssystem EUROSUR, das wesentlich auf Satellitendaten basiert.

Viele der Informationen, die Frontex an den EU-Außengrenzen sammelt, werden seitdem in EUROSUR eingespeist. Aus dem Weltraum stammen diese von den Satelliten des EU-Erdbeobachtungsprogramms „Copernicus“,1 dass für die Bereiche Sicherheit, Zivilschutz, Umweltmanagement sowie zur Untersuchung des Klimawandels genutzt wird. Bis heute hat die EU für das Programm sieben optische und radarbasierte Aufklärungssatelliten ins All befördert.2 Empfangen und aufbereitet werden die Weltraumdaten vom EU-Satellitenzentrum (SatCen) im spanischen Torrejón, das über den Status einer Agentur verfügt.

In den ersten Jahren seines Bestehens firmierte „Copernicus“ unter dem Namen „Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung“ (GMES). Die Europäische Kommission bezeichnete die Plattform nach dem europäischen Satellitennavigationssystem „Galileo“ als „zweites Flaggschiff“ europäischer Weltraumpolitik, das auf die „erhöhten Sicherheitsbedürfnisse“ zugeschnitten sei.3 Während als Zweck von GMES in der Öffentlichkeit die Beobachtung des Klimawandels und der „verantwortliche Umgang mit natürlichen Ressourcen“ betont wurden, herrschte über das „S“ für „Sicherheit“ eher Stillschweigen. Als erste sicherheitsorientierte GMES-Ableger galten LIMES (Land- und Seeüberwachung für Umwelt und Sicherheit), G-MOSAIC (GMES-Dienste für das Management von Operationen, Lagebewusstsein und Aufklärung für regionale Krisen), MARISS (Europäische maritime Sicherheitsdienste) und GMOSS (Globale Überwachung für Sicherheit und Stabilität).

„Fusionsdienstleistungen“ aus optischen und radarbasierten Satelliten

Die Überwachungsdaten aus dem All sind Bestandteil der „EUROSUR-Fusionsdienstleistungen“ (EFS), die Frontex den Mitgliedstaaten anbietet.4 Dazu fragt Frontex zudem nationale Daten an, darunter von dem auf Radarsatelliten beruhenden französisch-italienisch-spanisch-belgisch-griechischen System „Helios II“ sowie dem deutschen „SAR-Lupe“. Zu den Lieferanten von Weltraumdaten gehören auch Rüstungskonzerne wie Leonardo und Airbus mit Aufnahmen ihrer Radarsatelliten. Optische Satellitenbilder kauft die Grenzagentur von kommerziellen Anbietern der deutschen GAF AG, die zuletzt einen Auftrag mit einem Volumen von über vier Millionen Euro erhielt.5

Für die Erdbeobachtung zur Grenzüberwachung haben Frontex und die Europäische Kommission (vertreten durch die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU) 2015 eine Delegationsvereinbarung unterzeichnet, wonach die Agentur bis 2021 insgesamt 47,6 Millionen Euro für „integrierte Dienste“ in den Bereichen Sicherheit und Grenzüberwachung erhielt.6 Frontex übernimmt dafür die Überwachung der Küstengebiete und des „Grenzvorbereichs“, Meeresüberwachung, verschiedene Möglichkeiten der Schiffsortung, -verfolgung und -meldung sowie Umweltbeobachtung. 2018 kamen die „großräumige Überwachung des Grenzvorbereichs“, die „Identifizierung von Orten und Aktivitäten von Interesse“ (ProDetect) und die „analytische Bewertung der Migration“ (MUSO) hinzu.7 Am 15. November 2021 unterzeichneten die Kommission und Frontex schließlich die neue Vereinbarung für „Copernicus“, die von 2022 bis 2028 gilt. Sie enthält ein vorläufiges Budget von 67 Millionen Euro.

Frontex verfolgt „Schiffe von Interesse“

Über die Brauchbarkeit der Daten aus der Weltraumbeobachtung bei Frontex ist wenig bekannt. Laut einem 2017 vorgelegten Abschlussbericht eines gemeinsamen Tests mit den EU-Agenturen EMSA (Maritime Sicherheit) und EFCA (Fischereiaufsicht) wurden an 111 Tagen weltraumgestützte Aufklärungsdaten erzeugt und an die Koordinierungszentren der Mitgliedstaaten weitergegeben.8 Demnach konnten Schiffe und Boote ab einer Länge von acht Metern mit einer „hohen Zuverlässigkeit“ erkannt werden. In 33 Fällen erfolgten daraufhin von dortigen Küstenwachen weitere Maßnahmen, in 45 weiteren Fällen wurde dazu die EU-Militärmission EUNAVFOR MED vor Libyen aktiv.9

2020 hat das Fusionszentrum bei Frontex 409 optische und 1163 Radarsatellitenbilder an die Endnutzer:innen in den Mitgliedstaaten geliefert.10 Daraus sollen sich 94 „Anomalien“ ergeben haben. Dies bezeichnet etwa eine auffällige Nähe zu anderen Schiffen, der Wechsel der Fahrspur, ein besonderer Tiefgang oder Umladungen auf hoher See. Im gleichen Jahr überwachte Frontex 110 „Schiffe von Interesse“ und lieferte dazu 92 Berichte. „Schiffe von Interesse“ können über einen längeren Zeitraum verfolgt werden – ein bei EUROSUR angesiedelter „Maritimer Simulationsmodul-Dienst“ trifft dabei Vorhersagen zur Position. Die Weitergabe der Informationen an die Mitgliedstaaten erfolgt über ein von Frontex entwickeltes „Informationserfassungs- und Analyseinstrument“ (JORA).

Plattform zur „maritimen Analyse“

Die Auswertung der satellitengestützten Daten basiert auf verschiedenen Quellen. Frontex nutzt dazu inzwischen eine computergestützte Plattform zur „maritimen Analyse“. Hierzu hat die Agentur 2020 einen Vertrag mit der israelischen Firma Windward für 2,6 Millionen Euro in den Regelbetrieb überführt.11 Die Firma ist auf die digitale Zusammenführung und Bewertung von Daten zur Schiffsverfolgung und Meeresüberwachung spezialisiert und wirbt mit dem Slogan „Fangen Sie die Bösewichte auf See“.12 Zu ihren Investoren gehören der ehemalige CIA-Direktor David Petraeus sowie frühere Firmenchefs von Thomson Reuters und British Petroleum.

Die Windward-Plattform basiert auf Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Zur Analyse werden maritime Meldesysteme, darunter AIS-Positionsdaten größerer Schiffe sowie Wetterdaten genutzt. Diese werden mit Angaben über die Schiffseigentümer:innen und Reedereien sowie die Historie früherer Schiffsbewegungen angereichert. Für jedes beobachtete Schiff entsteht auf diese Weise eine Signatur, die auf verdächtige Aktivitäten überprüft werden kann. Schaltet deren Kapitän:in etwa den AIS-Transponder ab, kann die Anwendung dies als Auffälligkeit erkennen und anhand der aufgezeichneten Muster die weitere Beobachtung übernehmen. Windward nutzt als Datenbank das Register der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO), das etwa 70.000 Schiffe verzeichnet. Angeblich verfügt Windward über zusätzliche Informationen zu insgesamt 400.000 Wasserfahrzeugen, darunter kleinere Fischerboote. Zu ihren Kunden gehören der Firma zufolge der UN-Sicherheitsrat, der die Technik zur Überwachung von Sanktionen einsetzt, und die italienische Finanzpolizei, die das System für die Kontrolle italienischer Hoheitsgewässer nutzt.

„Weltraumdatenautobahn“ von Airbus

Um die Erde kreisende Satelliten können nur in Sichtweite Daten zum Boden funken, das begrenzt etwa die Funktionen von „Copernicus“ erheblich. Für eine stets gewährleistete Kommunikation nutzt Frontex deshalb das europäische Datenrelaissatellitensystem (EDRS) des Airbus-Konzerns.13 Drei Laser-Satelliten dieser „Weltraumdatenautobahn“ können über Distanzen von 80.000 Kilometern hinweg eine Verbindung zwischen tiefer fliegenden Beobachtungssatelliten mit einer Bodenstation herstellen. Damit können deren Bilder nahezu in Echtzeit an jeden Ort der Erde übermittelt werden. Das System kann auch für die Übertragung der Aufklärungsdaten weit entfernter Drohnen genutzt werden.

Die „Weltraumdatenautobahn“ kostete mindestens 520 Millionen Euro und wird als öffentlich-private Partnerschaft zwischen Airbus und der Weltraumagentur (ESA) mit hohen öffentlichen Summen subventioniert.14 Mehrere Länder beteiligen sich an der Finanzierung, darunter Deutschland, Italien, die Schweiz, Luxemburg, Schweden, Belgien und Großbritannien. Die Entwicklung der in Mecklenburg-Vorpommern angesiedelten Laserterminals für den Empfang der Daten wurde vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) unterstützt. Eigentümer der „Weltraumdatenautobahn“ ist jedoch Airbus, die Firma vermarktet die Dienste deshalb allein. Frontex war die erste Kundin; inzwischen wird das EDRS auch von der EMSA genutzt.

Satellitenüberwachung für EMSA und EUNAVFOR MED

Mit dem „CleanSeaNet“ betreibt auch die EMSA ein Erdüberwachungsprogramm, es soll unter anderem Ölverschmutzungen und deren Verursacher:innen aufspüren.15 Für die Nutzung der „Copernicus“-Meeresüberwachung unterzeichnete die Agentur wie Frontex eine Vereinbarung mit der Europäischen Kommission, die von 2021 bis 2027 73 Millionen Euro vorsieht.16 Kern der satellitengestützten EMSA-Dienste ist jedoch die Bereitstellung von AIS-Datendiensten zur Positionsbestimmung von Schiffen. Hierzu nutzt die EMSA Satelliten, die diese Signale empfangen und weitergeben. Täglich werden auf diese Weise rund 34 Millionen Nachrichten generiert. In 17 Fällen hat die EMSA den Mitgliedstaaten letztes Jahr Daten aus der Satellitenüberwachung für die Seenorettung zur Verfügung gestellt. Auch Frontex und die Fischereiaufsichtsagentur erhalten von der EMSA Informationen aus der Meeresüberwachung. Ein neues Kooperationsabkommen ermöglicht auch Angehörigen der EU-Militärmission EUNAVFOR MED den Zugang zu maritimen EMSA-Diensten, um damit den Seeverkehr in libyschen Gewässern und Häfen zu beobachten.17

Im alltäglichen Einsatz wird die satellitengestützte Meeresüberwachung von Frontex im Vergleich zur täglichen bemannten Aufklärung mit dem Frontex-Flugdienst18 offenbar nicht in großem Umfang genutzt. Der Grund dafür liegt vermutlich in der niedrigen Auflösung der – auch für Frontex – frei verfügbaren Sentinel-Daten, die bei Radarsatelliten fünf und bei optischen Satelliten zehn Meter pro Pixel beträgt. Kommerzielle Satellitendaten ermöglichen Werte von 30 Zentimetern, erfordern aber ein entsprechendes Budget. Vermutlich werden die Satellitendienste von EUROSUR also weiterhin vorwiegend zur mehrtägigen Verfolgung verdächtiger größerer Schiffe genutzt und weniger für das Aufspüren von kleinen Booten mit Geflüchteten auf dem Weg nach Europa. Das könnte sich ändern, wenn die EU über eine neue Generation hochauflösender Satelliten verfügt oder Frontex noch mehr Geld erhält, um Daten von Anbietern wie Maxar auch für die Migrationsabwehr zu nutzen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Copernicus: Copernicus Security Services, https://insitu.copernicus.eu/FactSheets/CSS_Border_Surveillance

2 Vgl. Copernicus: Die Sentinel-Satellitenfamilie, www.d-copernicus.de/daten/satelliten/daten-sentinels

3 European Commission: Global Monitoring for Environment and Security: First concrete steps, 14.11.2005, https://ec.eu-ropa.eu/growth/content/global-monitoring-environment-and-security-first-concrete-steps-0_de

4 Vgl. Durchführungsbeschluss (EU) 2018/620 der Kommission über die technischen Spezifikationen für die Copernicus-Dienstekomponente gemäß der Verordnung (EU) Nr. 377/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Amtsblatt der Europäischen Union L 102/23, 23.4.2018

5 Tenders Electronic Daily: Poland-Warsaw: Single Framework Contract for Satellite Imagery Provisioning, https://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:101568-2021:TEXT:EN:HTML

6 Frontex: Frontex to implement border surveillance services as part of Copernicus, 17.12.2015, https://frontex.europa.eu/media-centre/news/news-release/frontex-to-implement-border-surveillance-services-as-part-of-copernicus-Z1r4A0

7 Europäisches Parlament: Antwort von Dimitris Avramopoulos im Namen der Europäischen Kommission auf die Anfrage E-003211/2018 der MEP Özlem Demirel, 5.9.2018, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-8-2018-003211-ASW_DE.html

8 Vgl. Frontex/EFCA/EMSA: Pilot Project „Creation of a European Coastguard Function“. Final Report, https://frontex.europa.eu/assets/Publications/General/Final_Report_EUCG.pdf

9 Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Beobachtung bevorstehender Fluchtbewegungen. In „Copernicus“ wurde etwa ein Flüchtlingscamp an der marokkanisch-spanischen Grenze beobachtet, mutmaßlich um zu bestimmen wann dieses eine bestimmte Größe erreicht, vgl. SatCen: GIS in the European Union, 10.11.2026, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2018/01/Adriano-Baptista-EU-SatCen_GIS-in-EU.pdf#page=9

10 Europäisches Parlament: Antwort von Matthias Oel im Namen der Europäischen Kommission auf die Anfrage E-3295/2021 der MEP Özlem Demirel, 21.2.2022, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2021-003295_DE.html

11 Tenders Electronic Daily: Poland-Warsaw: Maritime Analysis Tools, https://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:109760-2020:TEXT:EN:HTML

12 Windward: Dynamic maritime domain awareness, www.wnwd.com/solutions/maritime-domain-awareness

13 Deutscher Bundestag: EU-Drohnen auf der „Weltraumdatenautobahn“ von Airbus, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Bundestagsdrucksache 18/8784, 13.6.2016

14 Deutscher Bundestag: Nutzung von Satelliten des europäischen Datenrelaissystems durch Grenzpolizei und Militär, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Bundestagsdrucksache 18/7754, 2.3.2016.

15 EMSA: Welcome to CleanSeaNet 2nd generation, https://portal.emsa.europa.eu/web/csn.

16 European Commission: Copernicus part of the 2021 (direct management) and 2021-2027 (indirect management) work programmes of the Union Space Programme, 18.6.2021, https://www.copernicus.eu/sites/default/files/2021-06/Financing_Decision_C_2021_4316_final-Annex_2_Copernicus_Work_Programme.pdf

17 EMSA: EMSA signs cooperation agreements with EU Naval Missions to provide enhanced maritime awareness for operations in Somalia and Libya, 11.2.2022, https://www.emsa.europa.eu/newsroom/press-releases/download/7015/4648/23.html

18 Matthias Monroy: Frontex-Flugzeuge: Unter dem Radar gegen das Völkerrecht, 12.06.2020, https://netzpolitik.org/2020/im-blindflug-gegen-das-voelkerrecht