IMI-Analyse 2021/50 - in: AUSDRUCK (Dezember 2021)

Afghanistan und das Recht auf Bewegungsfreiheit

Flucht aus Afghanistan bleibt politisch ungewollt

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 15. Dezember 2021

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Artikel im IMI-Magazin AUSDRUCK (Dezember 2021)

Die letzten 40 Jahren tobte Krieg in Afghanistan. Nach der Invasion durch die Sowjetunion im Jahr 1979 flohen Millionen Menschen aus dem Land – die meisten von ihnen in die benachbarten Staaten Pakistan und Iran. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen kehrten viele zurück, doch als der Bürgerkrieg im Jahr 1992 ausbrach, verließen sie erneut das Land. Nach Angaben des UNHCRs leben bis heute rund 90% der rund 5 Millionen afghanischen Geflüchteten in Pakistan und Iran.[1] Innerhalb des Landes leben mehr als 3,5 Millionen Binnengeflüchtete – ein Großteil der Bevölkerung musste im Laufe seines Lebens schon einmal alles hinter sich lassen und fliehen. Diese langwierigen Fluchtbewegungen gerieten ganz in den Hintergrund, als die Bilder von den Menschen am Kabuler Flughafen, die sich verzweifelt an abhebende Flugzeuge klammerten, über zahlreiche Fernsehbildschirme flimmerten.

Die Inszenierung

In einer gemeinsamen Erklärung versicherten u.a. die abschottungswütigen Regierungen der BRD, Ungarns, Griechenlands, der Türkei und der USA: „Afghanen und internationale Bürger, die das Land verlassen wollen, müssen dies tun dürfen; Straßen, Flughäfen und Grenzübergänge müssen offen bleiben, und es muss Ruhe herrschen.“[2] Außerdem sicherten sie den Menschen aus Afghanistan ihre Unterstützung zu: „Das afghanische Volk hat ein Recht auf ein Leben in Sicherheit und Würde. Wir in der internationalen Gemeinschaft sind bereit, sie dabei zu unterstützen.“[3] Wohlklingende Operationen und Maßnahmen wurden ins Leben gerufen, um Menschen aus Afghanistan vor den Taliban zu evakuieren. Zahlreiche Regierungen, deren Soldat*innen in Afghanistan selbst Kriegsverbrechen begangen haben, spielten sich im Rahmen der Evakuierungen zumindest rhetorisch als Held*innen der Stunde auf. In Großbritannien lief die Evakuierung unter dem vielversprechenden Namen „Operation Warm Welcome“. Nicht miteinbezogen waren Afghan*innen, die ihr Leben riskieren, indem sie sich in Calais an fahrende LKWs hängen, um nach Großbritannien zu kommen. Doch so warm ist es in Großbritannien auch für die Ortskräfte aus Kabul nicht. Im November 2021 fehlen bislang immer noch langfristige Unterbringungsmöglichkeiten für rund 7.000 Menschen, die in ca. 80 Hotels ausharren – Regierungsbeamte gehen davon aus, dass diese Situation noch ein ganzes Jahr andauern kann.[4] Vor einigen dieser Hotels demonstrieren immer wieder rassistische Gruppen, wie Britain First.[5]

In den VAE fotografierte die Happiness Patrol, eine Polizeieinheit der Abu Dhabi Polizei, medienwirksam eine afghanische Familie mit Geschenktaschen vor einem bunten Streifenwagen der Happiness Patrol mit dem unverkennbaren gelben Smiley im hinteren Türfenster, nachdem ihnen die Stadt und die Sehenswürdigkeiten gezeigt wurden.[6] Dabei handelt es sich um Afghan*innen, die von US-Truppen aus Kabul in die VAE gebracht wurden und hier auf ihre Weiterreise in die USA warten.

Doch die punktuellen Mühen und Aufnahmeprogramme täuschen nicht darüber hinweg, dass die Aufnahme und die Ablehnung von Migration mittlerweile einen festen Bestandteil der Außenpolitik zahlreicher Staaten bildet – denn der politische Wille, people on the move aufzunehmen, schwindet nicht nur in der EU.

In den Hintergrund traten bei der Evakuierung all jene Menschen, die nicht mit dem Militär gearbeitet haben – Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und auch diejenigen, die sich seit Jahren auf der Flucht befinden und immer noch im Limbo leben. Erst im April 2021 demonstrierten mehr als 1.000 Afghan*innen in Indonesien gegen die steigenden Suizide in ihrer Community und forderten Australien und weitere Staaten auf, sie nach jahrelangem Warten endlich aufzunehmen. In Indonesien dürfen sie nicht arbeiten und sollten sie versuchen, mit Booten Richtung Australien aufzubrechen, erwartet sie dort die militärische Operation Souveräne Grenzen, die Boote zur Umkehr zwingt.[7] Ähnlich sieht es mit Afghan*innen auf den griechischen Inseln oder auch in den selbstgemachten Camps in Bosnien oder bei Calais aus. Im Vordergrund standen bei der Evakuierung die „Ortskräfte“. Unter den evakuierten Mitarbeitern der Streitkräfte, der Geheimdienste und Polizeistrukturen der NATO-Mitgliedstaaten befanden sich abgesehen von Übersetzer*innen laut Emran Feroz auch Mitglieder der von den berüchtigten CIA ausgebildeten und geleiteten Khost Protection Force (KPF) oder der Spezialeinheit 01, die beide in Menschenrechtsverletzungen involviert waren.[8] Doch selbst diese ehemaligen Ortskräfte der westlichen „Sicherheitskräfte“ stehen vor bürokratischen Herausforderungen, die sich aus dem seit Jahrzehnten andauernden Abbau der Asylrechte innerhalb der USA und der EU ergeben.

Die Mauern

Abgesehen von den Mauern um den Kabuler Flughafen, hielten zum Zeitpunkt der Evakuierung zahlreiche weitere Mauern die Menschen aus Afghanistan von ihrem Ziel ab, eine sichere Zukunft zu finden. Direkt an der mehr als 2.600 km langen Grenze zu Pakistan verläuft seit 2017 eine von Pakistan errichtete Grenzanlage – im Juli 2021 waren bereits 90% der Bauarbeiten verrichtet.[9] Ebenfalls 2017 begann die türkische Regierung, die rund 500 km lange Grenze zum Iran mit einer Mauer zu versehen. Diese besteht „aus sieben Tonnen schweren, drei Meter hohen und zwei Meter dicken Betonblöcken mit Stacheldraht und einem vier Meter tiefen Graben“[10] sowie zahlreichen Überwachungstürmen mit Kameras und Drohnenüberwachung. In Anbetracht des Truppenabzugs aus Afghanistan und dem herbeibeschworenen doch bislang ausbleibenden Anstieg der Geflüchteten aus Afghanistan beschleunigte die türkische Regierung im Juli 2021 die Bauarbeiten.

Auch Griechenland beschloss 2020 einen Grenzzaun zu bauen – 5 Meter hoch und 27 km lang trennt er Griechenland von der Türkei. Ausgestattet ist die Grenzanlange u.a. mit Infrarotkameras, Drohnen und Schallkanonen (Long Range Acoustic Devices).[11] Nach dem Truppenabzug aus Afghanistan schickte die griechische Regierung verstärkt Grenzschützer*innen in die Region Evros, um deutlich zu machen, dass Geflüchtete aus Afghanistan in Griechenland nicht willkommen sind.[12] Selbst im Norden der EU bauen die Regierungen fleißig Mauern. Litauen errichtet seit Ende Oktober 2021 eine Mauer entlang der 679 km langen Grenze zu Belarus– sie besteht aus 3,4 Meter hohen Stahl, der mit NATO-Klingendraht und Überwachungskameras versehen ist. Zuvor hatte Litauen – sowie Polen und Lettland – bereits Absperrungen aus dem scharfen NATO-Draht an ihren Grenzen zu Belarus ausgerollt. Bis September 2022 soll die Grenzanlage fertig sein und 500 km der Grenze abdecken.[13] Polen plant eine aus fünf Meter hohen Stahlpfählen mit aufgesetzten Stacheldrahtrollen bestehende Mauer. Zudem soll die Grenzanlage mit Bewegungssensoren sowie Tag- und Nachtsichtkameras ausgestattet sein. Die Bauarbeiten sollen zügig bis zum Sommer 2022 abgeschlossen werden.[14] Der Ruf nach Mauern wird lauter: Im Oktober 2021 wandten sich die Innenminister*innen von 12 EU-Mitgliedsstaaten an die EU-Kommission, um die Finanzierung von Grenzzäunen zu fordern. Zu ihnen zählten u.a. die Vertreter*innen aus Bulgarien, Dänemark, Griechenland, Litauen, Polen, Österreich und Ungarn.[15]  Bislang weist die EU-Kommission diese Forderung entschlossen zurück.

Die Pushbacks und die Abschiebungen

Aktuell dürften die Pushbacks zwischen Belarus und Polen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen – wie politische Spielbälle werden sie der jeweils anderen Seite zugeworfen. Bisher endete der Versuch über die polnische Grenze zu kommen für mindestens acht Menschen tödlich. Doch Menschen aus Afghanistan erfahren das brutale Zurückdrängen über die Landesgrenze an vielen Orten. Laut der IOM schoben iranische Behörden zwischen August und September 2021 rund 58.000 Menschen nach Afghanistan ab. Berichte von menschenrechtsverletzenden Pushbacks aus Bulgarien, Kroatien und Griechenland vermehren sich.[16] Human Rights Watch berichtet über das brutale Vorgehen der türkischen Behörden bei den Push-Backs in den Iran. In dem Entwurf zum Aktionsplan für Afghanistan, der der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch zugespielt wurde, zeigt sich, dass die EU an ihrem Prinzip der Abschottung, Grenzvorverlagerung und Abschiebung festhält. Demnach betont die EU-Kommission, dass zurzeit zwar ein EU-“Rücknahmeabkommen“ mit Afghanistan ausgesetzt wird, aber legale Abschiebungen von Afghan*innen in Drittstaaten weiterhin als Option bestehen. Außerdem beabsichtigt die Kommission, einen Frontex Verbindungsoffizier nach Pakistan mit einem Mandat für Afghanistan zu schicken und sich mehr in Region in Bezug auf Migration einzubringen. Geplant ist das Silk Routes’ Countries Integrated Border Management Projekt oder auch das BOMCA (Border Management in Central Asia and Afghanistan), an deren Aktivitäten sich auch Frontex beteiligen darf.[17]

Der Weg ins Desaster

Die humanitäre Lage in Afghanistan ist katastrophal. Nach Berichten der UN-Agentur OCHA stieg die Zahl der an Hunger leidenden Menschen im Vergleich zum Vorjahr um 30%. Im Oktober 2021 hungerten fast 19 Millionen Menschen und damit die Hälfte der Bevölkerung.[18] Die Aussichten sind düster und so betont der Direktor des Welternährungsprogramms: „In diesem Winter werden Millionen von Afghanen gezwungen sein, zwischen Migration und Hunger zu wählen […], der Countdown zur Katastrophe läuft“.[19] Zu den Hauptursachen dieser Hungerkatastrophe zählen die seit vierzig Jahren währenden Kampfhandlungen, die anhaltende Dürre, , die zusammenbrechende Wirtschaft und die von den USA eingefrorenen Devisenreserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von rund 9 Milliarden Dollar. Dadurch können Gehälter nicht gezahlt werden, die Arbeitslosigkeit schnellt empor. Die Preise für die Grundnahrungsmittel sind seit dem Abzug der NATO-Kriegstruppen um 30% gestiegen. Laut dem UN-Entwicklungsprogramm könnten bereits Mitte 2022 ganze 97% der insgesamt 38 Millionen Afghan*innen unter die Armutsgrenze fallen – also die gesamte Bevölkerung.[20]

Nach dem Abzug der NATO-Militärtruppen standen in der westlichen Öffentlichkeit die Folgen einer Regierung der Taliban für die Menschen- und Frauenrechte im Vordergrund. Doch z.B. der Zugang zu Bildung wird nicht nur durch die Taliban erschwert – die dürrebedingten Ernteausfälle zwangen zahlreiche Familien dazu, ihre Töchter (und Söhne) aus den Schulen zu nehmen. Hinzu kommt, dass die Gehälter der rund 220.000 Lehrer*innen und der Betrieb der Schulen in Höhe von jährlich rund 800 Millionen US-Dollar durch ausländische Gelder finanziert werden. Jetzt steht die Bildung der etwa sieben Millionen Schüler*innen auf dem Spiel. Die bittere Armut, die sich rasant ausbreitet, treibt zudem die Verlobung und Verheiratung von minderjährigen Mädchen voran.[21] Bedenkt man die afghanischen Frauen und Mädchen auf der Flucht, so ist auch ihre Bildung und ihre körperliche Unversehrtheit alles andere als garantiert.

Die Lehren aus dem Krieg in Afghanistan sollten sein, dass wir uns gegen Kriege und anti-muslimischen Rassismus stellen müssen und immer wieder betonen, dass Kriege keinen Terrorismus bekämpfen, sondern ihn schaffen – wir brauchen Respekt und Solidarität zwischen den Menschen, ganz gleich woher sie kommen. Die Mauern müssen fallen und Brücken entstehen – angesichts der anrollenden Hungerkatastrophe muss es Menschen möglich sein, zu fliehen. Doch aktuell sieht es so aus, als würde die EU Afghanistan sehenden Auges weiter in das humanitäre Desaster schlittern lassen.

Anmerkungen


[1]      Sanaa Alimia: Die Taliban sind wieder an der Macht: Was bedeutet das für Fluchtbewegungen innerhalb und außerhalb Afghanistans?, boell.de, 27.8.2021

[2]      U.S. Department of State: Joint Statement on Afghanistan, state.gov, 15.8.2021

[3]      Ebd.

[4]      Amelia Gentlemen und Helen Pidd: Afghan refugees may be housed in UK hotels for up to a year, say council, theguardian.com, 21.10.2021

[5]      Diane Taylor: Far-right groups in UK target hotels housing Afghan refugees, theguardian.com, 25.10.2021

[6]      Abu Dhabi Police give Afghan evacuee family a tour of the city, khaleejtimes.com, 13.10.2021

[7]      Kawoon Khamoosh: The ‚forgotten‘ Afghan refugees taking their own lives, bbc.com, 29.4.2021

[8]      Emran Feroz: A Notorious CIA-Armed Militia Finds a Home in the U.S., prospect.org , 3.11.2021

[9]      Pakistan army completes 90% fencing work along Afghan border, independent.co.uk, 3.8.2021

[10]     Florian Rötzer: Gegen Flüchtlinge aus Afghanistan. Türkei baut Mauer zum Iran, heise.de, 20.8.2021

[11]     Tobias Zick: 27 Kilometer Stahlmauer zur Türkei, sueddeutsche.de, 7.6.2021

[12]     Greece to bolster border with Turkey over Afghanistan migration fears, euronews.com, 11.10.2021

[13]     Lithuania starts building wall on eastern EU border, infomigrants.net, 5.11.2021

[14]     Wie Polen seine Grenze zu Belarus befestigen will, spiegel.de, 4.11.2021

[15]     Monir Ghaedi: Europe should pay for walls against migrants, say ministers, infomigrants.net, 8.10.2021

[16]     Afghanistan. Few routes to safety for Afghans at risk of Taliban reprisals, amnesty.org, 20.10.2021

[17]     EU. Tracking the Pact: Migration action plans on Afghanistan, Bosnia and Herzegovina, Iraq and Nigeria, statewatch.org, 4.11.2021

[18]     Afghanistan IPC Acute Food Insecurity Analysis: September 2021 – March 2022 (Issued in October 2021, reliefweb.int, 25.10.2021

[19]     Stefanie Glinski: ‘Countdown to catastrophe’: half of Afghans face hunger this winter – UN, theguardian.com, 25.10.2021

[20]     Agnes Tandler: Afghanistan unter der Armutsgrenze, migazin.de, 14.9.2021

[21]     Ebd.