IMI-Analyse 2021/041 - in: AUSDRUCK (September 2021)

China und der Westen –wer bedroht wen?

Wie sollen wir uns in der Diskussion über die VR China verhalten?

von: Gespräch mit Jörg Lang und Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 20. September 2021

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Auslöser für eine von der Informationsstelle Militarismus e.V. (IMI) am 1. Juni 2021 zu diesem Thema veranstalteten Diskussion waren ein Beitrag von Andreas Seifert „China und die Neuordnung der Weltpolitik“ (IMI-Studie 2/2021) und eine Replik von Jörg Lang „China – ein Militarismus unter anderen?“ (unsere zeit, 23.4.2021).

Es geht darum, wie die VR China bei uns wahrgenommen wird und welche Interessen jeweils auch hinter bestimmten China-Bildern stehen. Wird China bedroht oder stellt es selbst eine Bedrohung dar? Wie sollen wir uns dazu verhalten und warum? Ausgehend von diesen drei Leitfragen entspann sich eine Debatte, die von Claudia Haydt moderiert wurde und deren Ergebnisse wir hier in einem Nebeneinander der Argumente präsentieren.

Andreas Seifert ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., hat Sinologie unter anderem in Beijing studiert. Er war seit 1990 regelmäßig zu Studien- und Reiseaufenthalten in China. Er forscht u.a. zur Populärkultur, zur modernen Geschichte und zum politischem System Chinas.

Jörg Lang war lange Jahre Rechtsanwalt in politischen Strafsachen, im Ausländer- und Flüchtlingsrecht v.a. für Mandant:innen aus dem Nahen und Mittleren Osten, sowie im Sozialleistungsrecht. Außerdem arbeitete er 7 1/2 Jahre in der Auswärtigen Informationsabteilung der PLO in Beirut.

Wie nehmen wir die Volksrepublik China wahr: Rolle in der Weltpolitik; Menschenrechte, Teilhabe, Demokratie, Umwelt, Ökonomie?

Andreas Seifert: Das Chinabild hierzulande war und ist einer stetigen Wandlung unterworfen – das medial vermittelte Bild ist zudem interessengeleitet. An einer „unvoreingenommenen“ Berichterstattung scheint kein Interesse zu bestehen. Aber neben den verkürzten, intentionalen Meldungen in Nachrichtensendungen und auch Talkshows gibt es auch medial durchaus differenzierte Beiträge, die das oftmals aktuell negative Bild durchbrechen und China in seiner Vielfalt und seinen vielen Dimensionen darstellen. Es gibt zwei sich ergänzende Tendenzen – einerseits scheint der „kritische“ Blick der westlichen Medien eindeutig von dem Willen geprägt, China entlang einer politischen Neuorientierung negativ darzustellen, andererseits schottet sich China von jeder externen und unkontrollierten Berichterstattung ab: der Bewegungsraum für Journalisten und Beobachter wird enger. Dies gilt nicht nur für „westliche“ Journalisten vor Ort, sondern auch für die chinesischen Inlandskorrespondenten, die im Land über ihr Land berichten wollen. Die Gesetzgebung in der VR China unterbindet jede unabhängige Berichterstattung, die nicht den staatlichen Vorgaben entspricht – ein anderes Narrativ als das staatliche gibt es nun nicht mehr. Chinesen haben zudem nur noch eingeschränkte andere Möglichkeiten, etwas anderes als die vorgegebene Meinung zu hören. Die Kontrolle über das, was beispielsweise im chinesischen Internet zu lesen ist und was nicht, ist inzwischen nahezu perfekt – die kulturelle Hegemonie ist gegeben.

Blicke ich zurück auf die Berichterstattung über China in Deutschland, so habe ich wahrgenommen, wie man sich vom antikommunistischen Mainstream der 1950er bis 1970er Jahre zu Beginn der 1980er Jahre verabschiedet hat – auch die pro-kommunistische, die Kulturrevolution verklärende Schwärmerei in linken Kreisen verlor zur gleichen Zeit an Schwung. Der Zugang zum Land, den die (ausländischen) Korrespondenten nun physisch erlangten, schärfte den Blick auf ein sich entwickelndes Land. Die Berichterstattung in den 1980er und 1990er Jahren war in der Tendenz positiv – daran änderte auch der Tiananmen-Zwischenfall (1989) nicht viel. Der Markt lockte und die Verlagerung von Produktionsstandorten nach China war immer noch positiv besetzt. Die Nachteile und die negativen Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Entwicklung im sozialen Bereich (Massenentlassungen, Abbau von Versorgungsstrukturen, sich verstärkendes Stadt-Land-Gefälle,…), in der Umwelt (Verdreckung der Gewässer und der Luft, massiver Verlust von Ackerbaufläche, Zunahme von umweltbedingten Krankheiten, …) und vor allem in der gesellschaftlichen Teilhabe (Vetternwirtschaft, Selbstbereicherung der Kader, grassierende Korruption, …) spielten in der Berichterstattung über China in dieser Zeit eine nachgeordnete Rolle. In vielen „linken“ Debatten verlor China dagegen nach 1979 deutlich an Strahlkraft und mit der Niederschlagung der Studentenproteste jede Glaubwürdigkeit. Den „Verrat“ an sozialistischen Wurzeln konnte man auch schon 1980 diagnostizieren, doch erschienen die Ereignisse von 1989 als deutlicher Beleg für eine verknöcherte Partei, die sich vor allem an die Macht klammert.

Erst nach 2000 geriet dieses positive mediale Bild einer kapitalismuskonformen Volksrepublik ins Wanken und zeichnete damit letztlich aber auch nur nach, was in China offen diskutiert werden konnte: sich verschärfende gesellschaftliche Widersprüche führen zu Spannungen und offenen Konflikten. Der steigende Wohlstand und der staatlich propagierte Nationalismus vermochten hiervon noch viel zu verdecken und doch sah sich die Regierung von Hu Jintao zu einer Änderung in der Politik gezwungen. Dabei ging es um die gleichmäßigere Verteilung („bescheidener Wohlstand“ für alle, xiaokang) des neu entstehenden Wohlstandes und auch darum, die abgeschafften Systeme der Daseinsfürsorge (Krankenversicherung auf dem Lande, Rentensysteme, …) wieder aufzubauen, um den sozialen Frieden zu kitten. Ab 2000 verschlechterte sich das mediale Bild der Volksrepublik in Deutschland und mehr und mehr Kritik am Land wurde laut. Dies hat seine Ursache auch in den enttäuschten Erwartungen der Unternehmer, ihrer Lobbyisten und den Politikern hierzulande, die endlich auch am chinesischen Markt „verdienen“ wollten.

Unter Xi Jinping (ab 2012) schottete sich das Land zunehmend ab – eine beispiellose Kampagne gegen Korruption wurde initiiert, die in mehrfache Hinsicht wirkte (und wirkt), aber auch eines besonders unterlässt: die Wurzeln der Korruption anzugehen. Die Partei wurde dadurch „moralisch gefestigt“ und damit auch der Dissens ihr gegenüber de-legitimiert. Die Kontrolle wurde systematisch verstärkt und andere Meinungen kriminalisiert.

Die meisten Chinesen sind sehr loyal zu ihrem Land – zumindest dieser Eindruck entsteht, wenn man sich mit den Privilegierten unterhält, denen man hier begegnet: Studierende, Unternehmer und Unternehmerinnen, Touristen. Der gezeigte Patriotismus ist anerzogen und verinnerlicht und funktioniert als Kitt für eine sozial tief gespaltene Gesellschaft. Chinesen haben tatsächlich allen Grund stolz zu sein auf das, was sie die letzten vierzig Jahre geleistet haben, und sie verschließen den Blick gegenüber den negativen Nebeneffekten nicht – nur öffentlich darüber sprechen, schon gar mit Ausländern, werden sie nicht mehr.

Unsere Debatte hier braucht aber einen unverstellten Blick auf China, um zu verstehen, was dort passiert und nicht jeder, der einen kritischen Blick pflegt, befüttert die „Dämonisierung“ der Volksrepublik. Wer hier in einer linken Debatte Kritik an der VR ausspart und als „China-Bashing“ abtut, hantiert mit einem verklärten China-Bild. Die Relativierung chinesischer Zustände oder Verhaltensweisen zu dem keineswegs zu verharmlosenden, aggressiven und arroganten militärischem und ökonomischen Verhalten des Westens und insbesondere zum Gebaren der USA, verhilft zu keiner tragfähigen Beurteilung der VR.

In den 30 Jahren, in denen ich die Volksrepublik China bereist und beforscht habe hat sich das Land wesentlich gewandelt, haben sich Einstellungen geändert und Mentalitäten angepasst. Die Größe des Landes und seine Vielfalt sind dabei eine Herausforderung für jede Berichterstattung: Verkürzungen und Pauschalitäten führen in die Irre.

Jörg Lang: Meine Bewertung der Rolle der VR China bei der Neuordnung der Weltpolitik ist geprägt von meinen Erkenntnissen und auch persönlichen Erfahrungen insbesondere im Nahen Osten. Danach befinden wir uns tatsächlich in einer für die Existenz und Zukunft der Menschheit entscheidenden Auseinandersetzung um die „Neuordnung der Welt“: nämlich der zwischen dem Imperialismus, jetzt angeführt von den USA; und andererseits den weltweit durchaus wachsenden antiimperialistischen Kräften bzw. den Kräften für Frieden und das Überleben der Welt. Dies wird in der IMI-Studie nicht hinreichend berücksichtigt. „Imperialismus“ ist nicht einfach das Machtstreben eines Staates oder Reiches. Ich verstehe unter Imperialismus vielmehr die letztlich systemangelegte aggressive ökonomische, politische und militärische Ausprägung des derzeitigen „westlichen“ privat-kapitalistischen Systems.

Kennzeichnend für diesen Imperialismus ist für mich nach wie vor:

  • die Aneignung aller Profite aus Produktion und Dienstleistungen letztlich im Interesse der heute höchstorganisierten privaten Produktions- IT-, und Finanz-Monopole; dementsprechend eine grundsätzlich ebenso primär an deren privaten Interessen orientierte Steuerung aller privaten und gesellschaftlichen Investitionen einschließlich der medialen Steuerung des Bewusstseins der Menschen. Systemimmanent gehört auf globaler Ebene zu diesem Imperialismus auch die Tendenz, andere Länder und Regionen zu besetzen bzw. politisch, ökonomisch und militärisch im Interesse der privatkapitalistischen Monopole zu dominieren und auszubeuten.
  • Die Folgen dieser weltweiten aggressiven Politik sind immer noch: Ausbeutung anderer Länder; Zerstörung oder Unterentwicklung der lokalen Produktivkräfte; Sanktionierung und Korrumpierung von nationalen Befreiungsbewegungen; alltägliche Ermordung zahlreicher Einzelpersonen bspw. auch durch Drohnenangriffe; brutale regime changes; nachhaltige Zerstörung und Destabilisierung der betroffenen Staaten und ganzer Regionen einschließlich ihrer Infrastruktur; wachsende Rüstungsexporte und Aufrüstung.

Nach meiner Auffassung wird die gegenwärtige Außen- und Sicherheitspolitik der VR China nicht von vergleichbar aggressiven politisch-ökonomischen imperialistischen Zwängen geprägt. Ich zähle sie zu einer wichtigen antiimperialistischen Kraft.

Zur allgemeinen und inneren Entwicklung: Insgesamt hat die Volksrepublik in den vergangenen 70 Jahren eine fast unglaubliche umfassende Entwicklung der Produktivkräfte geschafft und Hunderte von Millionen Menschen aus Hunger, Elend und Armut geführt. Glaubt man den chinesischen Vorgaben des 14. Fünfjahresplanes, so steht nunmehr die Entwicklung eines bescheidenen Wohlstands und einer qualitativ höherwertigen umweltfreundlichen Lebensweise des Menschen im Einklang mit der Natur und einem verstärkten Klimaschutz auf der Tagesordnung. Jedenfalls in der Vergangenheit hat die KP China ihre Pläne, allen ständigen Unkenrufen zum Trotz, auch weitgehend umgesetzt

Die ökonomische Basis ist eine von der KP Chinas Partei selbst so definierte „Sozialistische Marktwirtschaft“ bzw. ein von der Kommunistischen Partei gesteuerter Kapitalismus. Charakteristisch dafür sind die Entwicklung unterschiedlichster Eigentums- und Unternehmensformen, teilweise auch in privater Hand. Die Schlüsselindustrien, der Kern des Bankenwesens, Grund und Boden sowie Bodenschätze liegen allerdings nach wie vor in öffentlicher Hand. Die Verteilung von Konsumgütern und Dienstleistungen erfolgt im Wesentlichen über Markt- und Konkurrenzmechanismen, wobei Daseinsfürsorge, das Gesundheitswesen und die Alterssicherung in öffentlicher Hand liegen. Insgesamt erfolgen die Aneignung der Profite und vor allem die Steuerung von gesellschaftswichtigen Investitionen immer (noch?) unter der Kontrolle der öffentlichen Hand bzw. der Kommunistischen Partei.

Die Gesamtentwicklung erfolgt in einem rational nachvollziehbaren Gemeininteresse und dient trotz allen derzeit auftretenden starken Einkommens-und Vermögensunterschieden nicht nur den Privilegien einzelner oder privater Monopolinteressen, sondern den arbeitenden Menschen, der Gesamtbevölkerung und der Gesamtentwicklung des Landes.

Was die „Neuordnung der Weltpolitik“ anlangt: Es gibt kein vergleichbares vom westlichen Kolonialismus ausgebeutetes und durch imperialistische Kriege verheertes Land, das in den vergangenen Jahrzehnten eine vergleichbare Entwicklung der Produktivkräfte und der gesamten Gesellschaft im Gemeininteresse geschafft hat, einschließlich der Existenzsicherung für alle, der Ordnungssicherung, der Stabilität und des Friedens. Und das alles gerade nicht auf der Grundlage der Ausbeutung dritter Länder und direkter und indirekter Kriege gegen sie.

Demokratiediskussion. Andreas Seifert beschreibt die Volksrepublik China als „Autokratie“ im Gegensatz offenbar zu einer Demokratie (wobei er freilich nicht definiert, was die wesentlichen Elemente für eine lebendige Demokratie sind; und auch nicht darauf eingeht, ob diese denn „bei uns“ bzw. im auch von ihm so bezeichneten „Westen“ noch vorhanden sind bzw. zunehmend abgebaut werden). Die VR China definiert sich in ihrer Verfassung selbst janusköpfig als eine „Diktatur des Volkes“. Ihr Demokratie-Verständnis richtet sich dabei eher danach, ob eine Herrschaft dem Volk dient, und weniger danach, welche formalen Rechte ein „Volk“ bzw. bestimmte Angehörige eines Volkes haben.

Nach meinen persönlichen Informationen aus China scheinen dabei die sozialen und persönlichen Teilhabemöglichkeiten der Menschen, jedenfalls in ihren unmittelbaren Lebensbereichen und insbesondere auch bei der Arbeit und in den Betrieben, realer und stärker ausgeprägt als „bei uns“, wo sie eher abnehmen. Das Rechtsstaatswesen und die Rolle der Gerichte sind offenbar in den vergangenen Jahren ausgebaut worden. Es gibt eine aktive bzw. passive Identifikation der Menschen mit der Kommunistischen Partei und deren inzwischen über 90 Millionen Mitgliedern, v.a. auf der örtlichen Ebene und über die Nachbarschaftskomitees. Dies hat sich insbesondere auch während der Pandemie gezeigt. Richtig ist, dass – was „Systemfragen“ anlangt bzw. die Herrschaft der KP China an sich – es keine Medienfreiheit gibt. Aber auch „bei uns“ agieren die führenden privaten und öffentlichen Medien inzwischen zunehmend uniform, wenn es um die angebliche alternativlose Herrschaft des privatkapitalistischen Systems als solche und die Vorherrschaft dieses Systems in der Welt geht.

Zur Menschenrechtsdiskussion: „Im Westen“ wird bei Menschenrechten heute der Schwerpunkt auf individuelle Selbstverwirklichungsrechte gelegt. In der Praxis beschränken sie sich für die Mehrheit aber zunehmend auf Freiheiten beim Konsum, bei Events und Unterhaltung und in der privaten Lebensführung („lifestyle“, „selfie“-tum). Nach dem Verständnis der Volksrepublik China (und ebenso der Menschen in den nach wie vor ausgeplünderten und verheerten Ländern der Welt) sind Menschenrechte dagegen mehr existenziell und kollektiv zu beziehen, also auf die Verwirklichung des Rechts auf Leben, Essen, Wasser, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Frieden. Hier braucht sich die VR China nicht zu verstecken. Schon gar nicht im Vergleich etwa zu Ländern wie Indien, Indonesien Brasilien, Nigeria, Irak usw., die nach wie vor unter westlich-privatkapitalistischer Dominanz stehen.

China-bashing: Die seit Jahrzehnten ganz überwiegend negative Berichterstattung in den westlichen Medien erweist sich bei sorgfältigem Hinsehen als Teil einer zunehmend orchestrierten psychologischen Kriegsführung gegenüber der Volksrepublik China. Dies gilt auch für die Dauerkampagne zu den angeblichen schweren Verletzungen von individuellen Menschenrechten in China. Das Ziel ist dabei aber, wie die Erfahrung lehrt, nicht die Verteidigung der Menschenrechte, sondern die versuchte Destabilisierung eines so genannten Systemgegners und konkret wenn möglich der Sturz der Herrschaft der KP China.

Problemfeld Frieden oder: Wer bedroht wen?

Andreas Seifert: Beginnend mit der Politik der Vier Modernisierungen hat China schon in den 1970er Jahren begonnen, seinem Militär eine neue Struktur zu geben, es zu verschlanken, aber auch technologisch aufzurüsten. Ziel aller Bemühungen war es lange Zeit, eine Landesverteidigung aufzubauen, die es mit jedem Angreifer aufnehmen kann. Die Demobilisierung von Soldaten und aktive Reduktion der Truppenstärke war dabei immer begleitet, von einer qualitativen Aufrüstung. Insbesondere seit den 2000er Jahren hat es dabei einen deutlichen Ausbau der Marine und anderer technologieintensiver Truppenteile gegeben.

Die Dimension dieses Ausbaus ist sowohl Reaktion auf eine empfundene Bedrohung durch andere – vor allem die USA und Japan – wie sie auch selbst Ängste bei Anrainern auslöst. Vietnam und die Philippinen sehen sich ganz unmittelbar von den immer öfter militärisch abgesicherten Explorationen und Gebiets- und Regelungsansprüchen der Volksrepublik in die Ecke gedrückt.

Die mediale Begleitung des Flottenaufbaus in den chinesischen Medien und insbesondere des Konflikt um das Südchinesische Meer ist dabei von scharfer nationalistischer Rhetorik und gewichtigen Bildern geprägt. Eine Art nationaler Endkampf, den die Marine bis zum letzten Mann zu kämpfen bereit ist. Volksrepublikanische Fischer fühlten sich ermuntert, vietnamesische Fischerboote selbst in einer gedachten 200-Meilen-Zone zu rammen und zu bedrohen.

Beijing sieht sich massiv durch das militärische Engagement der USA und Japans bedroht. Die Rivalität zu Indien und zu den Anrainern am Südchinesischen Meer untermauern den Gedanken einer realen Einkreisung und Abriegelung. Dieses Containment durch die USA findet nicht nur militärisch real an der Peripherie der chinesischen Grenzen statt, es ist auch Gegenstand diplomatischer und ökonomischer Bemühungen. Und es ist begleitet von der einseitigen medialen Inszenierung der VR als dem einzigen Aggressor in der Region. Es ist eine Inszenierung!

China verfügt über keinen ungehinderten Zugang zum Pazifik oder in den Indischen Ozean und auf dem Weg nach Europa oder Afrika gibt es mehr als eine Engstelle, die ein chinesisches Handels- oder Kriegsschiff passieren muss. Hierin liegt die strategische Bedeutung der Paracel- und Spratly-Inseln, wie auch der Senkaku-/Diaoyu-Inseln. Der Aufbau militärischer Infrastruktur weitab der eigenen Küste vor der Küste Malaysias kann man als defensiv interpretieren und hinzufügen, dass diese Anlage militärisch letztlich nur von geringem Nutzen ist. Man kann aber auch fragen, warum Beijing eigentlich in eine (scheinbar so offensichtlich nutzlose) Anlage so viel Energie und Geld steckt. Sicher lässt sich Chinas Aufrüstung als Reaktion auf die westliche Eindämmungspolitik beschreiben ist sie aber deshalb frei von Kritik, wenn sie doch zum Beispiel massiv dazu beiträgt, regionale Rüstungsdynamiken zu befeuern?

China verfolgt eine Politik der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das ist angesichts der grenzenlosen Einmischung, wie sie die NATO-Staaten praktizieren, eine positive Alternative. Dem scheinheiligen Vorwurf des Westens, auch mit korrupten und brutalen Regimen zu paktieren, begegnet die Führung in Beijing mit dem Mantra, jedem Volk und Staat seinen eigenen Weg nicht abzusprechen. Chinas Investitionen in andere Länder folgen den Erfordernissen der eigenen Entwicklung und im Idealfall verlaufen sie zum beiderseitigen Vorteil. Das gilt in der Praxis nicht für jedes Projekt, das von chinesischer Seite aus initiiert wird, aber es ist ein Grundsatz, dem die Politik folgt. Für die internationalen Partner Chinas, gerade in Afrika, Südamerika und auch Zentralasien ist dies eine attraktive Politik und eine ehrliche Alternative zum gängelnden Westen, der meist ein hohes Maß an Zugeständnissen im politischen und ökonomischen Feld als Voraussetzung für ein Engagement fordert – und in seiner Arroganz auch nicht davor zurückschreckt, dies militärisch abzusichern. China wird in den Eliten dieser Partnerländer sehr geschätzt. Lange Zeit hat es China vermieden in Feldern und Ländern aktiv zu sein, in denen ein starkes „westliches“ Engagement im ökonomischen oder auch militärischen Bereich festzustellen war. Eine Politik, die unter Xi Jinping teilweise aufgegeben wurde. Heute kann man durchaus auch Ansätze in der chinesischen Diplomatie finden, in denen die VR-Regierung konformes Verhalten als Voraussetzung seines Wohlwollens und Engagement begreift – geopolitisches Denken ist auch in Beijing vorhanden.

Militarismus und Aufrüstung sind aus meiner Sicht immer kritisch zu bewerten – sie wirken mehrfach negativ. Die schiere Existenz von Waffen erhöht die Gefahr ihres Einsatzes; sie fördern Ängste und Abgrenzung und befördern Aufrüstungstendenzen bei anderen; sie entziehen der Gesellschaft Ressourcen, die an anderer Stelle besser eingesetzt werden können – und vor allem: der Einsatz von Waffen tötet und verursacht Zerstörung.

Dies gilt auch für den Part einer chinesischen Aufrüstung – ihre Ziele gehören benannt und die Folgen ebenso. Sie wird nicht dadurch besser, dass sie einer NATO-Aufrüstung nachsteht.

Jörg Lang: Andreas ist offenbar der Auffassung, dass auch die VR China mit ihrer „massiven Aufrüstung“ in den vergangen Jahren auf der weltpolitischen Ebene inzwischen eine den westlichen Militärbündnissen unter Führung der USA vergleichbare militaristische Macht darstelle. Man kann aber Chinas Aufrüstung bzw. „Militarismus“ nicht bewerten ohne Bezug zu der eingangs geschilderten imperialistischen Weltpolitik des Westens seit Ende des 2. Weltkriegs. Und v.a. kann man die historischen, quantitativen, qualitativen, strategischen und v.a. auch ökonomisch-politischen Unterschiede nicht einfach ausblenden.

Historisch hat nicht China als Kolonialmacht Europa oder Japan besetzt. Umgekehrt haben diese, darunter auch Deutschland, China über mehr als ein Jahrhundert hinweg ausgeplündert und mit Krieg überzogen.

Quantitativ. Nach den vom Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm SIPRI am 26.4.2021 veröffentlichten Zahlen betrugen die weltweiten Rüstungsausgaben 2020 nahezu 2.000 Milliarden US $. Davon entfallen allein auf das Konto der USA 778 Milliarden $ = 39 %, und zusammen mit allein ihren NATO-Verbündeten ca. 1.000 Milliarden, also ca. die Hälfte aller Rüstungsausgaben weltweit. Im Vergleich dazu hat China 2020 lediglich 252 Milliarden US $ für Rüstung ausgegeben, etwa 13 % der weltweiten Ausgaben, und nur etwa 1/3 der Ausgaben der USA (bzw. bezogen auf die Bevölkerungszahl sogar nur etwa 1/12!). Diese nüchternen Zahlen stehen im eklatanten Widerspruch zu all dem, was uns Tag für Tag in fast sämtlichen „führenden“ Medien über die angeblich wachsende militärische Bedrohung „aus dem Osten“ suggeriert wird; und was derzeit hier von fast allen „führenden“ PolitikerInnen einschließlich der Grünen zur Begründung einer noch stärkeren Aufrüstung beschworen wird. Der U.S.-amerikanische Kolumnist Fareed Zakaria hat dagegen in der Washington Post vom 18.03.2021 nüchtern festgestellt: „Das Pentagon benutzt China als Entschuldigung für riesige neue Budgets“. Er weist auch darauf hin, dass qualitativ die militärische Aufrüstung der USA, etwa mit Flugzeugträgern, modernen Kampfjets und unbemannten Flugkörpern, nach wie vor der VR China überlegen ist.

Strategisch verfügen allein die USA weltweit über 800 Militärbasen in Übersee. China unterhält nur einen Militärstützpunkt für seine Flotte in Dschibuti. Und: Immer noch sind es US-Flugzeugträger und U-Boote, die zuhauf u.a. im Südpazifischen Meer und in der Straße von Taiwan manövrieren; und keine chinesischen im Golf von Mexico oder in der Ostsee.

Nukleare Drohung: Dazu hat der amtierende Chef des US Strategic Command, Admiral Charles Richard, in einem Artikel „Forging 21st Strategic Deterrence“ – „die Abschreckungsstrategie für das 21. Jahrhundert schmieden“ (abgedruckt im Februar-Magazin 2021 des „US Naval Institute“ und im internet abrufbar) jüngst unverblümt gedroht: China „acts aggressively to challenge democratic values and shape the global economic order to its benefit“. Dem müsse man durch eine verstärkte Aufrüstung begegnen. Und: ein „nuclear employment is a very real possibility”… .

Politisch-ökonomisch unterliegt die Volksrepublik China – anders als westliche imperialistische Mächte – jedenfalls nicht einem immanenten Zwang zur Beherrschung und Ausbeutung dritter Länder. Zwar achtet auch die VR China in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Ländern insbesondere in Afrika in Asien, Afrika und Lateinamerika sehr wohl auf ihre eigenen Vorteile. Ihre Handelsbedingungen sind jedoch günstiger; und China legt vor allem Wert auf die Entwicklung der Infrastruktur anderer Länder.

Positionierung und Aufgabe von Menschen, Gruppen und Publikationen in der Diskussion über und den Umgang mit China

Jörg Lang: Nach meiner Auffassung ist es nicht unsere Aufgabe, China und seine Gesamtentwicklung sozusagen von einer unabhängigen Warte fortschrittlicher Intellektueller im Westen aus und nach deren Werten zu beurteilen. Dies erscheint mir objektiv auch nicht möglich. Angebracht wäre eher ein Vergleich der Entwicklung der VR China mit der beispielsweise von Ländern wie Indien, Brasilien oder Nigeria und mit der Lage der Menschen dort.

Sicher sollten wir die Entwicklung der VR China auch nicht überhöhen. Ob deren Entwicklungsprozess, der Widersprüche aufweist, auf einen von uns erhofften menschlichen Sozialismus hinausläuft, können wir kaum sicher beurteilen. Jedenfalls aber können unsere politischen Beurteilungen und Positionierungen nicht abgehoben erfolgen von den heutigen Grundwidersprüchen des Westens selbst, in dem wir als dessen Teile leben.

Auf diesem Hintergrund sind die bloße Existenz Chinas und die von der VR erreichten Errungenschaften zu verteidigen ebenso wie ihre insgesamt positiven Auswirkungen auf die Stabilisierung der Welt. Es geht dabei nicht darum, chinesische Entwicklungen kopieren oder gar auf uns übertragen zu wollen. Wir sollten aber der VR China auch nicht vorschreiben, ihre Politik an „unseren“ westlichen individuellen Freiheits- und Teilhaberechten auszurichten, die zudem in der Praxis immer inhaltloser werden.

Zu unseren Aufgaben hier gehört vorrangig der Widerstand gegen die allumfassende Aufrüstung nach innen und außen, mit der der Kapitalismus der zunehmenden Krise seines eigenen Systems Herr werden will. Diese Hochrüstung ist nicht nur militärisch letztlich sinnlos. Sie ist vor allem hochgefährlich und zerstörerisch. Stattdessen benötigt die Welt Abrüstung. Auch insofern müssen wir auch im eigenen Interesse mit allen Kräften der Verteufelung der VR China entgegentreten.

Zugleich müssen wir für jede Form von Kooperation mit China im beiderseitigen Interesse und dem der Welt eintreten und für einen menschlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Austausch auf allen Ebenen. Nicht gegen, sondern nur mit China zusammen können vielleicht die Krisenherde und Kriege in der Welt noch befriedet, die Verelendung weiter Teile beendet, die Nahrungs- und Gesundheitsnot vieler Länder bekämpft, die Flüchtlingsströme gestoppt, ebenso wie die Erde und ihre Natur als Lebensgrundlage der Menschen erhalten werden.

Andreas Seifert: Chinas ökonomische Aufbauleistung verdient Respekt. Und Chinas Interessen müssen international eine Berücksichtigung finden. Der Eindämmungsstrategie durch die USA ist deutlich zu widersprechen. Die positiven Aspekte im chinesischen Aufbaumodell sind vorhanden und gehören auch in der öffentlichen Debatte betont. Und somit ergibt sich für mich als Sinologe auch ein Auftrag, ein differenziertes Chinabild zu befördern, das die Kritik an der VR ernst nimmt und mit ihr umgeht und das umgekehrt auch auf Aspekte hinweisen kann, die auf der Nachrichtenebene verkürzt oder auch falsch dargestellt werden. Auf Aspekte und Ansätze, die zukunftsweisend sein können.

Die Aufgaben des 21. Jahrhunderts liegen in der Bewältigung der Klimakatastrophe – grundsätzliche Fragen von Konsum und Wachstum gehören überdacht und sind nur in Kooperation aller Menschen lösbar. China ist eingebettet in die kapitalistische Globalisierung – es ist kein Zuschauer am Rande, der alles richtig macht: Auch China bedient sich nicht selten ausbeuterischer Methoden im Inland, wie in den Niederlassungen seiner Firmen im Ausland und baut seinen Wohlstand auf der Idee des fortschreitenden Wachstums auf. Und auch dies ist im Kopf zu behalten. Eine Kritik an der Globalisierung darf China als Akteur nicht aussparen – wie auch eine Lösung dieser Fragen nicht ohne China möglich ist.

Eine positive Positionierung gegenüber China und eine kritische Haltung gegenüber der von der Kommunistischen Partei vertretenen Politik, schließen sich nicht aus – wie auch die Kritik an China nicht im Reflex mit dem Befürworten der kapitalistischen Weltordnung gleichzusetzen ist.