IMI-Analyse 2021/11 - in: AUSDRUCK (März 2021)

Aufstandsbekämpfung im Sahel

Die Gewaltspirale des „Antiterrorismus“

von: ffm-online.de | Veröffentlicht am: 9. März 2021

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Grundlage dieses Artikels war ein Vortrag, der beim IMI-Kongress „Politik der Katastrophe“ im November 2020 gehalten wurde. Die Beiträge des Kongresses finden sich gesammelt in der März-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.

Die Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e.V. (FFM) arbeitet seit Mitte der 1990er Jahre zur europäischen Abschottungspolitik und – das ist unser eigentliches Thema – zu den Migrationsbewegungen als soziale, gegen all die Abwehrpolitiken wesentlich selbstbestimmte Bewegungen.

Mit Blick auf den Sahel geht es nicht allein um die Blockierung der Migrationsbewegungen im Vorfeld in Zusammenarbeit mit zweifelhaften Regimes, wie wir es auf der Internetseite www.migration-control.info dokumentieren. Sondern die Externalisierung des EU-Grenzregimes überschneidet sich mit Aufstandsbekämpfung und ist Teil einer Militarisierung dieser riesig großen Region in Afrika – einer Region, die sich südlich der Sahara einige hundert Kilometer nach Süden erstreckt und die quer durch den Kontinent verläuft. Diese Militarisierung deformiert das Alltagsleben und die sozialen Bewegungen. Die sozialen Aufbrüche, die Migrationsbewegungen in Gang gesetzt und neue Impulse zurück aufs Land gebracht haben, sind in den militärisch beherrschten Gewaltzonen deformiert und auf Gewaltprozesse reduziert worden. Die Rücküberweisungen der Migrant*innen, die in vielen Dörfern ein prekäres Überleben ermöglicht haben, bleiben aus. Massaker und Vertreibungen sind zudem ein funktionales Element der Enteignung ländlicher Bevölkerungen.

Warum haben wir uns in den letzten Jahren immer wieder mit dem Sahel beschäftigt? Einerseits ist der Sahel Kumulationsort menschgemachter Katastrophen, andererseits sind die Agilität und Mobilität der jugendlichen Bevölkerung im Sahel wie auch in anderen Regionen Afrikas zentrale Momente des Widerstands gegen die postkoloniale Ordnung. Wie können wir uns vom Norden her auf diese Akteur*innen beziehen, wenn nicht durch Ermöglichung von Migrationen und durch unser Bemühen, der weiteren Militarisierung der Region Einhalt zu gebieten?

Katastrophen im Sahel

Beginnen wir mit den Katastrophen. Die Bevölkerungen im Sahel sehen sich in die Zange genommen: Vom Norden rückt die Wüste vor und vom Süden die kapitalistische Landnahme – in Form des Landgrabbing für die industrielle Nahrungsmittelproduktion, für groß angelegte Rinderzucht und für extraktive Industrien. Dies betrifft zuerst die Fulani, die sich mit ihren Herden im Wechsel der Jahreszeiten oft auch grenzüberschreitend bewegt haben, aber es betrifft auch die bäuerlichen Bevölkerungen. Die Konkurrenz zwischen diesen Gruppen verlängert sich in die militärischen Konflikte hinein.

In dieser Situation hat sich in den letzten Jahren, vor allem in den Grenzregionen zwischen Mali, Niger, Burkina Faso und Nigeria, in der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Milizen und Militärs, eine Kriegszone ausgebildet – ein militärisches Sperrgebiet, ein Gewaltraum mit eigenen Gesetzen. Zu den Leidtragenden gehört in erster Linie, und in den letzten zwei Jahren stark zunehmend, die Zivilbevölkerung.[1] Massaker und Vertreibungen führen nicht selten zum Verlust der traditionellen Landrechte: Der Krieg ist ein Mittel der kapitalistischen Landnahme. Die Menschen landen in den Flüchtlingslagern und es gibt kein Zurück. Hinzu kommt die Unterbrechung der regionalen Migrationen und Handelswege, welche die Krise der lokalen Ökonomien verstärkt.

„Anfechtung der Legitimität von unten“


Die „djihadistischen“ Milizen werden oft als Ableger von Al Qaeda oder dem Islamischen Staat beschrieben. Diese Bezeichnungen dienen vor allem dazu, den Zusammenhang zum globalen antiterroristischen Diskurs herzustellen, damit Gelder für das Militär weiterhin fließen. Diese Bezeichnungen entsprechen allerdings nur bedingt den Tatsachen. Fulani-Jugendliche sind keine Gotteskämpfer – sie nutzen den Djihadismus eher als ein Medium ihrer Rebellion gegen einen Staat, der ihnen nichts bringt außer Repression, und gegen die alten Eliten ihrer eigenen Ethnie. Sie haben sich zum Teil in den Camps der Djihadisten ausbilden lassen und bilden bewaffnete Gruppen in Regionen, aus denen die Staatsorgane sich zurückgezogen haben. Zum Teil ersetzen sie die staatliche Infrastruktur und gewinnen die Unterstützung der Bevölkerung. Zusammenstöße mit Milizen anderer Ethnien oder dem Militär enden immer wieder in Massakern an einer Zivilbevölkerung die zwischen die Fronten gerät.

Hier ein Zitat aus einer Untersuchung, die 2017 veröffentlicht wurde. Damals war die Gewaltspirale gegen die Zivilbevölkerung in Zentral-Mali noch nicht so weit fortgeschritten wie heute:

„Der malische Staat klagt die Fulani an, terroristische Gewalttaten zu begehen, aber indem er das tut, übergeht er alle Missstände. Wir argumentieren, dass die Nomaden die Legitimität des Staats von unten angreifen. In den letzten Jahren haben die Fulani eine neue Position in der Gesellschaft eingenommen: Sie haben von den Tuareg und von den Djihadisten gelernt. Ihr Selbstbewusstsein – ihre Emanzipation sozusagen – entwickelt sich in einem Dreieck verschiedener Faktoren: einer langen Vorgeschichte der Marginalisation, dem Gebrauch neuer Kommunikationsmittel und der Dynamik des Antiterrorkriegs in der Region. Das hat sich als eine Konstellation erwiesen, in der die „Anfechtung der Legitimität von unten“ zu einer echten Kraft in der Gesellschaft geworden ist.“[2]

Gewaltspirale des Antiterrorismus

Die Bevölkerung Malis lebt überwiegend in Dörfern. Aber es ist eine jugendliche Bevölkerung, die nicht mehr mit Kamelen oder Eseln unterwegs ist, sondern mit Motorrädern, und die mit dem Handy aufgewachsen ist. Die patriarchalen Traditionen funktionieren nicht mehr. Die Gesellschaft muss neu erfunden werden. Migration ist für die Jugendlichen ein wichtiges Medium der Selbstfindung, auch für die jungen Frauen. Wenn der Krieg zum Geschäft wird und die Migrationswege versperrt sind, finden die männlichen Jugendlichen Bestätigung und Einkommen bei den Milizen. Die militärischen Interventionen führen zu einer Spirale der Gewalt.

Sehr anschaulich hat Nick Turse, ein amerikanischer Antimilitarist, die Auswirkungen der Militärinterventionen auf die Gewaltspirale am Beispiel Burkina Faso beschrieben.[3] Als dort 2013 der Kampf gegen den Terrorismus begann, gab es gar keine gemeldeten Vorfälle „djihadistischer“ Natur. Auf Verdacht, die Situation in Somalia vor Augen, durchkämmten die Green Berets das Land, gemeinsam mit Einheiten des burkinischen Militärs. Heute ist Burkina Faso ein Hotspot im Sahel-Krieg. Auch in Bezug auf Boko Haram, Nordnigeria, ist beschrieben, wie sich eine ursprünglich ländliche Protestbewegung unter den Schlägen des Militärs zu einer Terrororganisation wandelte.[4]

Über die Details der Militarisierung des Sahel zu sprechen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen – über die Operation Barkhane und Takuba, mit Bombern und Drohnen, MINUSMA, die G5 Joint Forces, die amerikanischen Drohnenschläge. Im September haben wir zu diesem Thema zusammen mit Christoph Marischka einen Vortrag gehalten, auf den wir hier verweisen möchten.[5]

„Counterterrorism Governance“

Worauf wir aber an dieser Stelle noch kurz eingehen wollen, ist die Verknüpfung der postkolonialen Staaten mit dem Antiterrorismus. Aufstandsbewegungen werden schon deshalb als djihadistischer Terrorismus bezeichnet, um die Geldzuflüsse zu erhalten, die bis zu zwei Drittel der Staatshaushalte ausmachen. Diese Staaten funktionieren nur in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz, der Antiterrorismus ist quasi die Existenzbedingung dieser Staaten. Deshalb wird der Krieg auf Dauer gestellt. Bruno Charbonneau hat bereits 2016 von einer „neuen Normalität militärischer Interventionen“ im „globalen Krieg gegen den Terrorismus“ gesprochen und von „Conterterrorism Governance“ als einer Art von Staatsraison.[6]

„Militärische Interventionen (und [von außen gesteuerte] Entwicklung) stehen hinter dem Großteil, wenn nicht allen nationalen Machtverhältnissen: Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen Eliten, Spoilssystemen, Mehrparteiensystemen, Ressourcenmanagement, dem Aufbau und der Konsolidierung von Regierungsinstitutionen, Verfassungsreformen und mehr“, schrieb Charbonneau im Januar 2020.[7]

Wie denken die Menschen in den Gewalträumen des Sahel über diese Dinge? Sie wollen vielleicht gar nicht unbedingt regiert werden. Sie wollen Sicherheit, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Bewegungsfreiheit. Den Staat erleben sie in Form korrupter Bürgermeister, Steuereintreiber und Militärs, und seit 2015 zunehmend auch als Grenzwächter – all das geschieht in den alten kolonialen Mustern. Wir denken, dass es ein Fehler ist, wenn aus der Sicht des Nordens, einschließlich der gutwilligen Linken, die Stärkung der postkolonialen Staaten um jeden Preis an erster Stelle steht wenn über Chancen „für Afrika“ gesprochen wird. Die Perspektiven nationaler „Entwicklungsstaaten“ sind schon vor über 30 Jahren verloren gegangen. Afrika hat einen Dreißigjährigen Krieg, aber dieser muss nicht zwingend in einem afrikanischen 1648 enden. Territorialstaaten sind keine afrikanische Lösung, sondern eine europäische Projektion. Vielleicht können wir von „Afrika“ lernen, „es nicht wie einen Staat zu sehen“?[8]

Europas Nekropolitik

Europa schickt Militär und bezahlt die Regimes, damit sie die Grenzen schließen. Europa ist verantwortlich für die Todeszonen in der Sahara, im Mittelmeer und jetzt wieder im Atlantik. Das sind die Dimensionen einer Nekropolitik, die sich in den Sahel hinein fortsetzt. Widerstand gegen diese Politik heißt für uns, zu versuchen, die Blickwinkel der betroffenen Menschen wahrzunehmen – zum Beispiel im Sahel. Den Blickwinkel der Menschen, die in den Dürregebieten des Sahel ihr Überleben organisieren, die in die Flüchtlingslager vertrieben wurden und der Jugendlichen, die beharrlich gegen die Grenzen der Festung Europa ankämpfen. Wie können wir uns an die Seite dieser Menschen stellen?

Anmerkungen


[1]             Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED): Mali: Any End to the Storm?, https://acleddata.com/2020/12/17/mali-any-end-to-the-storm/

[2]             Mirjam de Bruijn & Jonna Both (2017): Youth Between State and Rebel(Dis)Orders: Contesting Legitimacy from Below in Sub-Sahara Africa, in: Small Wars & Insurgencies, Volume 28, Issue 4-5, S. 779-798, DOI: 10.1080/09592318.2017.1322329. Siehe auch https://ffm-online.org/mali-youth-contesting-legitimacy-from-below/

[3]            Nick Turse (2020): How One of the Most Stable Nations in West Africa Descended Into Mayhem, https://www.nytimes.com/2020/10/15/magazine/burkina-faso-terrorism-united-states.html

[4]            Sahara Reporters (2012): INTERVIEW: Wole Soyinka: Next Phase Of Boko Haram Terrorism-TheNEWS, http://saharareporters.com/2012/02/06/interview-wole-soyinka-next-phase-boko-haram-terrorism-thenews

[5]            Initiative gegen das EU-Grenzregime in Afrika (2020): EXIT MALI – Thesen zum MINUSMA-Einsatz der Bundeswehr in Mali, https://grenzfall.blackblogs.org/2020/11/12/exit-mali-thesen-zum-minusma-einsatz-der-bundeswehr-in-mali/

[6]            Bruno Charbonneau (2017): Intervention in Mali: building peace between peacekeeping and counterterrorism, in: Journal of Contemporary African Studies, Volume 35, Issue 4

[7]            Bruno Charbonneau (2020): Counterinsurgency governance in the Sahel, Bulletin Franco Paix, Volume 5, no. 1, S. 5

[8]            Scott, James C. (1998). Seeing Like a State: How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, Yale University Press