IMI-Analyse 2020/43

Nation, NATO, Krieg

Militärseelsorger nach US-Zuschnitt für die Ukraine

von: Wladimir Sergijenko | Veröffentlicht am: 27. November 2020

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Um die Dienste der Militärseelsorger im Land zu professionalisieren, bittet die Regierung in Kiew Geistliche aus Armeen der NATO-Länder um Hilfe. Ob dies dem Friedensprozess dienlich ist, bleibt fraglich.

Der Krieg in der Ukraine ist der bislang verlustreichste Krieg in Europa des 21. Jahrhunderts. Mehr als 13.000 Tote zählen die Vereinten Nationen in diesem Zusammenhang bis heute. Mindestens 3.350 davon seien Zivilisten – mehrheitlich aus dem Rebellengebiet. In den vergangenen Monaten ist im Osten des Landes zwar eine brüchige Waffenruhe in Kraft getreten. Eine politische Lösung des Konflikts ist jedoch nicht in Sicht, die Kämpfe können jederzeit wieder aufflammen. Die ukrainische Regierung verweigert sich immer noch offen der Umsetzung des Minsker Abkommens – des einzigen international gültigen Regelwerks zur Befriedung der Region. Zu den letzten Beschlüssen, die von Kiew faktisch verworfen wurden, zählt auch die sogenannte Steinmeier-Formel, wonach die vereinbarten Lokalwahlen auf dem von Kiew nicht kontrollierten Territorium unter Aufsicht der OSZE durchgeführt werden sollen.

Zu der Entwicklung tragen auch anhaltende Medien-Propaganda und eine damit einhergehende ideologische Rahmung des Konflikts in der Ukraine bei. Auch fünf bis sechs Jahre nach dessen Ausbruch wird der Bürgerkrieg in den Medien als großer vaterländischer Krieg gegen den „Aggressor-Staat“ Russland dargestellt. Auch Vertreter der staatsnahen Kirchen vermitteln die Darstellung eines gottgenehmen, gerechten Krieges. Friedensbemühungen werden demgegenüber als Verrat verurteilt.

„Patriarch“ von Kiew erhebt Kollektivvorwürfe

Einer der bekanntesten Kirchenhierarchen ist Filaret Denyssenko, der selbsternannte „Patriarch von Kiew“, der 1992 Teile der Ukrainischen Orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat abspalten ließ. Immer noch weiß man um seine Worte, die er im Jahre 2016 von einer Kirchenkanzel an die Donbass-Einwohner gerichtet hatte:

„Man sollte nicht glauben, dass die Bevölkerung von Donbass an diesem Leid unschuldig ist. Schuldig! Und ihre Schuld sollte mit Leid und Blut getilgt werden. Haben sie in der Volksabstimmung für die Föderalisierung abgestimmt? Sie haben es. Haben sie gesündigt? Sie haben. Und das ist die Folge dieser Sünde.“

Aus Filarets Sicht gibt es nicht nur deshalb keinen Grund, das Morden zu verurteilen. Seiner eigenen Darstellung zufolge treibt der Krieg Mitglieder in seine schismatische Kirche, die über Jahrzehnte hinweg nicht in der Weltorthodoxie, sondern nur von der ukrainischen Regierung und der ukrainischen Diaspora anerkannt worden war: „Unser Ziel ist es, zu wachsen, das Kiewer Patriarchat zu vergrößern. Und der Herr selbst hilft uns dabei. Auf welche Weise? Er ließ den Krieg zu. Und dieser Krieg trägt zum Wachstum des Kiewer Patriarchats bei.“

Die Liste solcher und ähnlicher Zitate ließe sich lange fortsetzen. Ein anderer Hierarch aus der Kirche Filarets, der „Metropolit“ von Luzk, Michail Sinkewitsch, drohte in seinen Predigten faktisch jedem mit dem Tode, der mit Russland sympathisiert: „Lasst uns diejenigen begraben, die immer noch nach Norden schauen. Wir werden noch viele weitere begraben, und wir werden auch diese Menschen begraben.“ Auch die Griechisch-Katholische Kirche ist bekannt für ihre militant-nationalistische Rhetorik. So findet laut Militärpriester Nikolai Medinski im Osten des Landes eine „Reinigung der Nation“ statt. Das Oberhaupt der Griechisch-Katholischen Kirche, Swjatoslaw Schewtschuk, begründete seine Weigerung, die weiteren Schritte der Donbass-Vereinbarung vom September 2019 zu unterstützen, mit folgender Argumentation:

„Der Krieg ist derer müde, die ständig darüber nachdenken, wie sie ihre eigene Haut retten können.“

Kirchenoberhaupt Onofrios: „Der Krieg muss beendet werden“

Vertreter der zahlenmäßig größten Kirche im Land – der weltweit anerkannten Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (OUK) – bewerten den Krieg diametral anders. Sie betonen, der Krieg sei ein Bürgerkrieg, in dem auf beiden Seiten vor allem ukrainische Bürger sterben. Das Kirchenoberhaupt, der Selige Onufrios, sagte bereits vor fünf Jahren in einem Interview:

„Ich möchte betonen, dass dies ein Bürgerkrieg ist. (…) Unsere Kirche verurteilte sowohl den Bürgerkrieg, der 1917 begann, als auch den gegenwärtigen Krieg, der mit der «Revolution der Würde» begann. Seit 2013 rufen wir zu Versöhnung und Vergebung auf. Nur auf diese Weise werden wir die Integrität unseres Landes bewahren und ihm die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Die Position der Kirche ist, dass es notwendig ist, den Krieg zu beenden und damit aufzuhören, sich gegenseitig zu töten.“

Seither hat sich die Position seiner Kirche in keiner Weise geändert. Dennoch oder möglicherweise auch gerade deshalb wird die OUK seit Beginn des Konflikts von staatlichen Stellen ausgegrenzt und schikaniert. OUK-Vertreter werden auch daran gehindert, ihre Dienste als militärische Seelsorger im Kriegsgebiet auszuführen. „Die meisten Gemeindemitglieder in der Armee kommen von der UOK. Gleichzeitig sind die Seelsorger der kanonischen Kirche dort kaum vertreten: Sie werden nicht zugelassen“, schreibt die Union Orthodoxer Journalisten, eine der UOK nahestehende Organisation.

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Gesetz geplant: Priester werden zu Militärs

Ende September wurde im ukrainischen Parlament ein Gesetzentwurf eingebracht, der zum ersten Mal in der ukrainischen Geschichte die Tätigkeit der Militärpriester (Kapläne) verrechtlichen soll. Wird der Entwurf Gesetz, würden Kapläne nicht länger ihrem Kirchenoberhaupt unterstellt sein, sondern einer Militärverwaltung. Außerdem müssten ihre Bewerbungen vom ukrainischen Militärgeheimdienst SBU abgesegnet werden.

Der SBU und die militärische Führung würden demnach alle erforderlichen Instrumentarien erhalten, um die Kontrolle über die Seelsorger zu behalten. Außerdem würde die Diskriminierung von UOK-Priestern sowie von gläubigen Soldaten und Offizieren, die dieser angehören, auf diese Weise legalisiert. Denn es ist klar, dass jene Vertreter der Kirche, die den Krieg mit einem unabhängigen Blick sehen, ausgegrenzt werden. In den Augen der „patriotischen Öffentlichkeit“ sind sie nämlich keine Vertreter einer ukrainischen Kirche, sondern Moskaus „verlängerter Arm“.

Die Union orthodoxer Journalisten geht davon aus, dass die Kapläne mit dem neuen Gesetz endgültig zu staatlichen Ideologiewächtern werden. Sie befürchtet, dass sie in ihrer Funktion immer mehr Politkommissaren aus den Zeiten der Sowjetunion ähneln.

Ex-Oberbefehlshaber Turtschinow: NATO stärkt unseren Geist

Das westliche Militärbündnis NATO unterstützt die ukrainischen Streitkräfte in dieser Entwicklung massiv. Auch in den USA sowie in vielen anderen NATO-Staaten dienen Kapläne als Offiziere der Armee. Seit Juni genießt die Ukraine den Status eines NATO-Anwärters mit „erweiterten Möglichkeiten“. Seit Jahren finden auf ukrainischem Territorium nicht nur NATO-Manöver und Ausbildungsprogramme für die ukrainische Armee statt. Dutzende NATO-Beratungsprogramme haben die Funktion, auch außermilitärische Lebensbereiche in der Ukraine den NATO-Standards anzugleichen.

„Die Ukraine wird Mitglied der NATO sein“, sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Juli 2008. Nach der Eiszeit während der Janukowytsch-Ära in den Jahren 2010 bis 2013 findet die Eingliederung der Ukraine in die NATO nunmehr mit Vollgas statt. Bereits nach dem Staatsstreich von Anfang 2014 ließ das Parlament die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als Ziel in die Verfassung festschreiben. Die Militärseelsorge gehört mittlerweile zu jenen Bereichen, die am stärksten unter NATO-Einfluss stehen.

Eine der Schlüsselfiguren, die die NATO um Hilfe bei der „geistigen Wappnung“ der ukrainischen Armee gebeten hatte, war Alexander Turtschinow. Er war einer der wichtigsten Maidan-Akteure und wurde direkt nach dem Staatsstreich im Februar 2014 vom Parlament zum Rada-Vorsitzenden und Interimspräsidenten erklärt. Als damaliger Oberbefehlshaber ordnete Turtschinow auch im April 2014 den Beginn der sogenannten Anti-Terroroperation im Osten des Landes an.

Turtschinow war damit nicht nur formell für den Einsatz schwerer Waffen gegen die Donbass-Bevölkerung verantwortlich. Er trug auch entscheidend zur Gründung der sogenannten Freiwilligenbataillons bei, was eine drastische Militarisierung des öffentlichen Lebens in der Ukraine zur Folge hatte. Ab Dezember 2014 leitete Turtschinow bis zum Ende der Amtszeit des Präsidenten Petro Poroschenko im Mai 2019 als dessen Sekretär den Nationalen- und Verteidigungsrat (SNBO).

Der Kriegsfalke Turtschinow dient aber auch Gott – auf seine Weise. Der frühere Leiter der Propaganda-Abteilung des Komsomol-Regionalkomitees von Dnjepropetrowsk ist seit Jahren parallel zu seinem Politiker-Leben als Prediger in einer protestantischen Freikirche tätig. Auch aus diesem Milieu von Sektierern, wie es die großen Volkskirchen nicht nur in Osteuropa betrachten, stammten bereits in den ersten Monaten des Krieges viele freiwillige Militärpriester an der Front. Damals hieß es von ihnen oft, es sei ein Irrtum, zu glauben, das Christentum sei eine pazifistische Religion. Gleich zu Beginn der Militäroperation im Osten des Landes versprach Turtschinow, den freiwilligen Einsatz ukrainischer Kapläne durch den Einsatz von Beratern aus den USA und Kanada zu professionalisieren. Am Ende der Bemühungen soll nun das Gesetz zur Regelung der Tätigkeit von Militärkaplänen stehen, das demnächst vom ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, beschlossen werden soll.

Am 22. September 2015 hatten SNBO-Sekretär Alexander Turtschinow und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits den Fahrplan für eine strategische Kommunikationspartnerschaft unterzeichnet. Ende Oktober 2015 fand im Trainingszentrum der ukrainischen Nationalgarde eine internationale Konferenz unter Teilnahme hochrangiger Militärseelsorger aus NATO-Staaten statt. Turtschinow begrüßte diese als „Vertreter von Ländern, die uns im Geist, in den Ansichten und Positionen nahe stehen, mit denen wir eine gemeinsame Vergangenheit und, was noch wichtiger ist, eine gemeinsame Zukunft teilen“. Geistlichkeit interpretiert er wie folgt:

„Eine mächtige Nation, ein mächtiges System siegreicher und kampfbereiter militärischer Formationen kann nur auf der Grundlage moralischer und geistiger Prinzipien gebildet werden.“

US-Kapläne im Einsatz

In den Folgejahren fanden in der Ukraine zahlreiche Konferenzen, Runde Tische und Ausbildungsprogramme unter Teilnahme von Kaplänen aus den NATO-Staaten USA und Kanada statt. Die US-Kapläne bewerten den Krieg als Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. In ihren Berichten verlieren die US-Militärseelsorger kein Wort über das Leiden der Zivilbevölkerung. Über den Charakter des Krieges sagen sie, es finde eine „Invasion der von Russland unterstützten Separatisten“ statt.

Ende Oktober berichtete das Portal der US-Armee über die Ausbildung der ukrainischen Kapläne durch US-Fachkräfte. Der Kaplan (Major) der Task Force Illini, Vincent Lambert, sagte, dass von der Ausbildung beide Seiten profitieren. „Es ist für mich sehr aufschlussreich, eine Nation zu sehen, die sich vor kurzem ihre Unabhängigkeit erkämpft hat“, sagte er – wohl in Unkenntnis darüber, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit nicht erst „vor kurzem“, sondern Ende 1991 infolge der Auflösung der UdSSR erworben hatte, und zwar ganz kampflos.

Die Task Force Illini ist das Führungselement der Joint Multinational Training Group Ukraine, die für die Ausbildung, Beratung und Betreuung der ukrainischen Kader im Combat Training Center Jaworiw zuständig ist, „um die Ausbildungs- und Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte zu verbessern“.

Orthodoxie: Frieden als Maxime

Der Dienst für und bei kämpfenden Soldaten ist der Orthodoxie nicht fremd. Insgesamt hat auch der Patriotismus in der russisch-ukrainischen orthodoxen Tradition mit ihren historischen Regimentspriestern einen hohen Stellenwert. Problematisch wird Patriotismus, wenn er zum Wunsch nach „Größe“ wird. Dann beginnt er damit, Kriege und alle anderen Gesetzlosigkeiten im „nationalen Interesse“ zu rechtfertigen, schrieb der orthodoxe Publizist Wiktor Sudarikow gleich nach Beginn des ukrainischen Bürgerkrieges im Juli 2014 zum Dilemma „Kirche und Krieg“. Er stellte fest, dass beide Seiten im Konflikt auf gleiche Art und Weise Gott um Hilfe bitten, während sie gegeneinander in den Kampf ziehen: „Die Menschen beten vor den gleichen Ikonen und auf jeder Seite gibt es Priester, die Krieger geistlich betreuen.“

Was tun in einer solchen Situation? Die Lösung Sudarikows ist Friedensstiftung um jeden Preis:

„Die Kirche muss frei von politischen Konflikten sein, aber sie kann nicht frei von Konflikten zwischen Gut und Böse sein, geschweige denn gleichgültig gegenüber menschlichem Leid. Aber wie ist das möglich, wenn Krieg, vor allem innerhalb einer Gesellschaft, immer von bösen Taten begleitet wird? Offenbar gibt es nur einen Ausweg – aufrichtige Friedensstiftung um jeden Preis.“

Der Slogan „Gott und Ukraine“ schmückt das offizielle Abzeichen auf der Uniform ukrainischer Militärpriester. Werden die Kapläne in der Ukraine nach Art der NATO zu Militärbeamten, würde Gott endgültig für einen angeblich „patriotischen“ Kriegszweck privatisiert. Für ein Land, das sich in einem langjährigen bewaffneten Bürgerkonflikt befindet, ist das ein Irrweg.

Der Autor ist Schriftsteller und leitet u.a. einen Schriftstellerverein in Berlin.