IMI-Analyse 2020/35

US-Truppenabzug: Luftnummer oder Aufrüstungsvehikel?

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 30. Juli 2020

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Es war eigentlich eine ziemliche Bombe, die US-Verteidigungsminister Mark Esper bei einer Presskonferenz am 29. Juli 2020 platzen ließ: Dort entpuppten sich die bereits seit einiger Zeit kursierenden Pläne über den Abzug von Truppen und wichtigen Kommandos aus Deutschland als deutlich ambitionierter als bislang angenommen. Zwar hat vor allem die Friedensbewegung jahrzehntelang auf einen solchen Abzug hingearbeitet – dennoch ist die Freude angesichts der jüngsten Ankündigungen aus gleich mehreren Gründen etwas getrübt: Erstens soll ein guter Teil der Truppen überhaupt nicht abgezogen werden, sie werden innerhalb Europas verlegt – und selbst der Rest soll weiter für schnelle Verlegungen an die Grenze Russlands bei Fuß stehen. Zweitens werden die US-Pläne aktuell als argumentatives Vehikel für den vermeintlich erforderlichen Aufbau zusätzlicher militärischer Kapazitäten in Deutschland und Europa instrumentalisiert. Und drittens ist mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass die Pläne im Falle eines Wahlsieges von Joseph Biden bei den US-Präsidentschaftswahlen im November umgehend wieder einkassiert werden dürften. Selbst für den Fall, dass Donald Trump siegreich aus den Wahlen hervorgehen sollte, ist es keineswegs ausgemacht, dass der US-Kongress die erforderlichen Mittel bewilligen wird.

Trumps Truppenreduzierung

Am 5. Juni 2020 meldete zuerst das Wall Street Journal, die USA stünden vor der zweiten großen Anpassung ihrer Truppenpräsenz in Deutschland im 21. Jahrhundert. Bereits 2004 erfolgte der Beschluss, die 1. US-Panzerdivision mit Sitz in Wiesbaden und die 1. Infanteriedivision in Würzburg in die USA zurückzuverlegen. Allerdings entsprach diese Entscheidung ganz den vermeintlichen Erfordernissen des damaligen militärischen Zeitgeistes, der Interventionskriegen im Globalen Süden die Priorität über dem Säbelrasseln gegen Russland einräumte: „Obwohl hiermit von den ca. 70.000 in Deutschland stationierten US-Soldaten etwa 30.000 abgezogen werden, ist dies leider kein Grund zum Feiern. Denn beide Divisionen sind aufgrund ihrer schweren Bewaffnung und langen Verlegungszeiten strukturell nicht für die von der US-Regierung anvisierten globalen Interventionskriege geeignet. Deswegen werden sie auch keineswegs ersatzlos gestrichen, sondern durch drei schnell stationierbare und hochflexible Brigaden mit jeweils zwischen 3.000 und 5.000 Soldaten ersetzt, die hierfür weitaus besser vorbereitet sind.“ (siehe IMI-Analyse 2004/020)

Nun soll es jedenfalls zu neuen tief greifenden Veränderungen kommen: Zuerst war die Rede von 9.500 SoldatInnen, die abgezogen werden sollten. In einer Pressekonferenz am 29. Juli 2020 schob u.a. Verteidigungsminister Mark Esper weitere Details nach, vor allem wurde dort von einer Reduzierung um 11.900 SoldatInnen gesprochen. Besonders weitreichend ist auch die beabsichtigte Verlegung großer augenblicklich noch in Deutschland befindlicher US-Kommandos: Sowohl das European Command als auch das European Special Operations Command und das Africa Command sollen von Stuttgart nach Mons in Belgien verlegt werden.

Bemerkenswert bei alledem ist jedenfalls, dass die deutsche Regierung von der Meldung vollständig auf dem falschen Fuß erwischt wurde – augenscheinlich gab es keine vorhergehende Konsultation. Man werde es „zur Kenntnis“ nehmen, sollten die USA ihre Truppen abziehen, äußerte sich Außenminister Heiko Maas bemüht diplomatisch. Deutlich direkter polterte der verteidigungspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Henning Otte: „Eine Entscheidung über einen möglichen Abzug von US-Truppen aus Deutschland in dieser Größenordnung hätte besser vorher bilateral oder in der Nato beraten werden müssen.“

Auch der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, Peter Beyer, nahm bei seiner Kritik kein Blatt vor den Mund: „Im negativen Sinne beispiellos war, dass die Bundesregierung von den Abzugsideen zunächst nur aus der Zeitung erfahren hat“, sagte er. „Anschließend wurden wir eine Woche lang hingehalten, es gab keine weiteren Informationen, obwohl sich die Bundesregierung auf allen Kanälen darum bemühte, mehr in Erfahrung zu bringen. So etwas sollte in der eigentlich sehr guten und vitalen deutsch-amerikanischen Freundschaft nicht wieder vorkommen.“

Polen als Alternative?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Begriff „Abzug“ für die weiteren Pläne der USA allerdings etwas irreführend: 5.600 der bislang in Deutschland befindlichen SoldatInnen sollen an andere Standorte in Europa verlegt werden. Bereits länger war spekuliert worden, dass hiervon vor allem Polen „profitieren“ könnte, das Land dient sich ohnehin schon seit Jahren den USA als eine Art Brückenkopf in unmittelbarer Nähe zu Russland an. Bislang beherbergte Polen bereits 4.500 US-SoldatInnen, bevor im Juni des letzten Jahres die Entsendung 1.000 weiterer US-Truppen sowie die Errichtung von sechs zusätzlichen Militärbasen beschlossen wurde. 

Zusätzlich dazu hat die NATO im Rahmen der „verstärkten Vorwärtspräsenz“ bekanntlich weitere 4.000 SoldatInnen in den baltischen Staaten und Polen stationiert. Eine nochmalige Aufstockung der US-Präsenz in Polen wäre deshalb wohl der endgültige Sargnagel für die NATO-Russland-Akte. Mit ihr sagte das westliche Bündnis 1997 – als Rückversicherung für die gleichzeitig beschlossene NATO-Osterweiterung – Russland zu, keine substanziellen Truppenkontingente dauerhaft in Osteuropa zu stationieren.

Selbst ein ausgewiesener Hardliner wie der ehemalige Chef des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann wies auf die mögliche Tragweite einer solchen Entscheidung hin: „Wenn diese Truppen nach Polen verlegt werden oder zum Teil nach Polen verlegt werden, dann hat das keine dramatischen Auswirkungen für Deutschland und für Europa. Man muss allerdings fragen, ob das dann noch in Übereinstimmung steht mit der NATO-Russland-Akte, die ja eine permanente Stationierung von amerikanischen Truppen in Polen nicht vorsieht.“

Aus den Angaben bei der bereits erwähnten Pressekonferenz Ende Juli 2020 ging dann hervor, dass das Gros der in Europa verbleibenden Truppen nach Belgien und vor allem Italien und nur ein kleiner Teil nach Polen verlegt werden soll. Allerdings sollen die SoldatInnen, die in die USA zurückverlegt werden sollen, dort vor allem auf Abruf bereit stehen, um bei Bedarf schnell nach Osteuropa verfrachtet werden zu können.

Abzug als Aufrüstungsvehikel?

Zwar äußerte sich vor allem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der US-Abzug solle als Chance einer „nachhaltigen Neuausrichtung der Sicherheitspolitik in Europa“ genutzt werden, die sich „nicht in Militärpolitik und Verteidigungsausgaben erschöpfen“ dürfe. Und tatsächlich wäre es überaus wünschenswert, wenn es Entwicklungen in diese Richtung geben würde. Leider ist aber mindestens ebenso „gut“ denkbar, dass sich die jüngsten Pläne auch als Wasser auf die Mühlen derjenigen erweisen könnten, für die eine Militärmacht Europa ohnehin die oberste Priorität darstellt.

Schon bisher wurde unter dem Schlagwort einer vermeintlich erforderlichen „strategischen Autonomie“ unter Verweis darauf, die USA seien ein zu unsicherer Kantonist geworden, der Aufbau umfassender und unabhängig von Washington einsetzbarer Militärkapazitäten gefordert. Es ist damit zu rechnen, dass diese Stimmen im Zuge der neueren Debatte um US-Truppenreduzierungen in Deutschland an Gewicht gewinnen werden: „Europa wird mehr Verantwortung übernehmen müssen“, lautete etwa die bündige Schlussfolgerung des CDU-Verteidigungspolitikers Roderich Kiesewetter. Ähnlich äußerte sich auch der SPD-Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth: „Der angekündigte US-Truppenabzug ist enttäuschend. Aber wir sollten jetzt nicht jammern und in Wehklagen verfallen, sondern den Schritt der USA als Weckruf und Chance zur Stärkung unserer europäischen Souveränität begreifen. Es ist an der Zeit, dass Europa seine Rolle in der Welt stärkt und auf eigenen Füßen steht. Es geht um unsere Selbstbehauptung.“

Here to stay

Was von den ganzen Vorhaben noch vor den US-Wahlen konkret umgesetzt werden soll, ist unklar. Viel dürfte es nicht sein, derart umfangreiche Aktionen sind eine Sache von Monaten, wenn nicht Jahren. Unterdessen fragen sich in den Reihen des US-Militärs immer mehr Leute, was den US-Präsidenten da geritten hat, schließlich hat Deutschland aus ihrer Sicht durchaus seinen „Wert“. Besonders lautstark macht dabei schon seit einiger Zeit Ben Hodges, der bis 2017 Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa war, seinem Ärger Luft: „Deutschland ist unser wichtigster Verbündeter in Europa. Hier ist unser ‚Brückenkopf‘, über den viele US-Operationen in Europa, Afrika, dem Mittleren Osten laufen. Wenn wir hier diese Truppen abziehen, wo es eine so gute Infrastruktur gibt, wird es schwer sein, weiterhin so reaktionsfähig zu bleiben. Wenn zum Beispiel Truppen nach Italien verlegt werden, wird es zudem Millionen von Dollar kosten, allein um die Unterbringungen aufzubauen.“ Ganz ähnlich sieht das auch der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, der aus diesem Grund die US-Ankündigungen auch reichlich entspannt sieht: „Wir sollten das nicht auf die Goldwaage legen. Die Amerikaner sind nicht hier, um uns einen Gefallen zu tun, sondern weil sie strategische Interessen haben. Deshalb werden sie auch ganz sicher nicht vollständig aus Deutschland abziehen.”

Sollte jedenfalls der Demokrat Joseph Biden siegreich aus dem anstehenden US-Urnengang hervorgehen, hieß es aus seinem Lager bereits, er werde den Abzugsbeschluss womöglich wieder einkassieren, berichtet etwa die FAZ: „Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden würde einem Berater zufolge bei einem Wahlsieg die Entscheidung von Amtsinhaber Donald Trump zu einem Truppenabzug aus Deutschland prüfen. […] Die Probleme fingen mit der Art an, wie die Entscheidung getroffen worden sei, sagte [Biden-Berater] Blinken unter Anspielung auf das Fehlen einer Rücksprache mit der Bundesregierung. ‚Aber wir haben auch ein tiefgreifendes Problem mit der Sache an sich‘.“

Doch selbst falls sich Donald Trump in eine zweite Amtszeit rettet, muss der Kongress die erheblichen Mittel bewilligen, die eine Umsetzung der US-Abzugspläne erfordern würde. Angesichts der Tatsache, dass das Vorhaben auch unter Republikanern auf erheblichen Widerstand trifft, ist dies alles andere als ausgemacht. Die Zeit berichtet etwa: „Mit den jetzt bekannt gewordenen Plänen zeigte sich auch der republikanische Senator Ben Sasse nicht einverstanden. Er bescheinigte Trump mangelndes strategisches Verständnis. ‚US-Soldaten sind nicht auf der ganzen Welt als Verkehrspolizisten oder Sozialarbeiter stationiert – sie bremsen die expansionistischen Ziele der schlimmsten Regime der Welt, vor allem Chinas und Russlands‘, sagte Sasse. Trumps Ex-Sicherheitsberater John Bolton kritisierte, die Entscheidung sende ‚unseren Gegnern das falsche Signal und macht unsere Verbündeten angesichts der zunehmenden globalen Bedrohungen verwundbar‘.“

Und selbst falls die US-Abzugspläne all diese Hürden nehmen würden, sollte ein letzter Punkt nicht unter den Tisch fallen: So positiv es empfunden werden mag, wenn eine beachtliche Anzahl an US-SoldatInnen das Land verlässt, mit einem Komplettabzug ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Denn neben 24.000 US-SoldatInnen würden auch zentrale Einrichtungen wie vor allem die Luftwaffenbasis in Ramstein, aber auch das Militärkrankenhaus in Landstuhl und das Trainingszentrum in Grafenwöhr weiter in Deutschland verweilen. Deutschland dürfte deshalb als Drehscheibe für das Säbelrasseln gegen Russland wie auch für Einsätze im Globalen Süden so oder so auch künftig eine wichtige Rolle spielen.