IMI-Analyse 2020/29

Wiederkehr der Zwangsdienste?

von: Gernot Lennert | Veröffentlicht am: 30. Juni 2020

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2011 wurde in Deutschland die sogenannte Wehrpflicht[1] ausgesetzt, was die AfD und Teile der CDU schon seit Jahren rückgängig machen wollen. Im Sommer 2018 häuften sich Forderungen nach militärischen und zivilen Zwangsdiensten. Am meisten beachtet werden seitdem die immer wieder neuen Vorstöße von Kramp-Karrenbauer, damals noch Generalsekretärin der CDU, inzwischen die für Krieg und Kriegsdienste zuständige Ministerin. Die Forderung nach einem Zwangsdienstjahr für junge Frauen und Männer war auch Thema eines Werkstattgesprächs der CDU im November 2019. Eine Rückkehr der „Wehrpflicht“ oder zivile Dienstpflichten fordern auch Kräfte links der CDU. Die Corona-Pandemie dient Politikern von CDU und AfD als Aufhänger, um erneut nach ziviler und militärischer Zwangsrekrutierung zu rufen.[2]

Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts wurden in fast ganz Kontinentaleuropa junge Männer ins Militär gezwungen. In den 1990er begannen Staaten in Europa, den Kriegsdienstzwang abzuschaffen oder auszusetzen. Mit großer Verspätung wurde 2011 auch in Deutschland der Kriegsdienstzwang ausgesetzt. Das bedeutet, dass in Deutschland Männer gemäß dem nach wie vor gültigen Wehrpflichtgesetz weiterhin zum Kriegsdienst verpflichtet sind, dass aber zurzeit niemand zwangsweise gemustert oder einberufen wird. Der Bundestag kann mit einfacher Mehrheit den Kriegsdienstzwang reaktivieren. Im Spannungs- und Verteidigungsfall tritt die Zwangsrekrutierung automatisch wieder in Kraft.

2013 begann die Trendwende. Ein Referendum in Österreich bestätigte die Dienstpflicht, in Norwegen dehnte man die Zwangsrekrutierung auf Frauen aus. Ab 2014 reaktivierten die Ukraine, Litauen und Georgien die Kriegsdienstpflicht, 2018 Schweden. In Frankreich startete 2019 der Service universel national.

Debatte in Deutschland seit 2018

Am heftigsten fordert die AfD die Reaktivierung der sogenannten Wehrpflicht, verbunden mit Ersatzdiensten bei Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und dergleichen. Die Vorschläge aus der CDU kombinieren Militärdienstzwang mit Dienstpflicht für Jugendliche beider Geschlechter. Kramp-Karrenbauer will sogar Asylsuchende, Flüchtlinge und Nicht-Deutsche zu einem Jahr Zwangsdienst verpflichten, angeblich um ihre Integration zu fördern.[3]

Bundeskanzlerin Merkel erklärte: „Ich möchte die Wehrpflicht nicht wieder einführen“,[4] befürwortete die Dienstpflichtdebatte und verwies darauf, dass sich mehr Menschen fürs Freiwillige Soziale Jahr bewerben, als bezahlt werden können. 

Jenseits von AfD und CDU plädierten Günter Wallraff und eine marxistische Autorin der Wochenzeitung Jungle World[5] für den Kriegsdienstzwang. Abgesehen von der AfD werden kaum militärische Argumente angeführt, sondern vermeintliche Segnungen einer Dienstpflicht. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung spricht von einem „Anti-Egoismus-Jahr.“[6]

Kriegsdienst, Militär und Heldentod fürs Vaterland sind gegenwärtig nicht gut angesehen. Wer also die sogenannte Wehrpflicht reaktivieren will, tut gut daran, vermeintlich gesellschaftlich nützliche zivile Dienste zu betonen.

Geschickt ist auch, als Opfer der Pflichtdienste diejenigen ins Visier zu nehmen, die sich am wenigsten an der Debatte beteiligen können. „Dienstpflicht – Ein Angriff auf die Jugend“, hieß es in der Zeitschrift Cicero.[7]

Widerspruch kam von Linkspartei, Grünen und FDP und Teilen der SPD: Sie lehnen die mit Zwangsdienst verbundene Freiheitseinschränkung und die staatliche Bevormundung ab. Die FDP betont den volkswirtschaftlichen Schaden. Die Linke sieht Zwangsdienst als Teil von Aufrüstung und Militarisierung. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn und Ex-Verteidigungsminister Rühe argumentierten, die Bundeswehr könne mangels Infrastruktur die Massen an Rekruten nicht aufnehmen und habe sich strukturell so grundlegend gewandelt, dass sie durch eine Rückkehr zur „Wehrpflicht“ ins Chaos gestürzt werde. Für eine allgemeine Dienstpflicht müsse die Verfassung geändert werden, wofür keine Mehrheit erreichbar sei.[8]

Zwangsdienste

Entsprechend der Entwicklung in anderen Staaten werden Frauen in Zukunft in Deutschland von etwaigen Zwangsdiensten kaum verschont bleiben. Früher ging man davon aus, nur Männer seien für Militärdienst geeignet. Nach der Zulassung von Frauen zu Kampftruppen, fragten immer mehr junge Männer, warum Frauen sich frei für oder gegen Militärdienst entscheiden können, während Männer dazu gezwungen werden.

Die Bundeswehr wurde drastisch verkleinert und gleichzeitig zur weltweit einsetzbaren Interventionstruppe umgebaut. Weil sogenannte Wehrpflichtige schlecht dazu passen, wurde die Zwangsrekrutierung eingestellt. Von Regierungsseite hieß es, man habe kein Interesse an einer Reaktivierung des herkömmlichen Militärdienstzwangs. Doch nun soll massiv aufgerüstet werden, auch für Krieg in Europa. Gleichzeitig fällt es der Bundeswehr schwer, ihre Rekrutierungsziele zu erreichen. Die Option der Zwangsrekrutierung wurde bewusst offengehalten, als die Zwangsrekrutierung 2011 nur ausgesetzt und nicht abgeschafft wurde. Die nötigen Institutionen wurden beibehalten.

Der Wehrbeauftragte Bartels (SPD) nannte eine allgemeine Dienstpflicht „eine sympathische Idee“, der aber das Verbot der Zwangsarbeit entgegenstehe.[9]  Er plädiert für eine „Auswahlwehrpflicht“, wie sie schon 2000 vorgeschlagen war und wie sie in Schweden und Norwegen für Männer und Frauen praktiziert wird. Im Juni 2018 wurde für den Bundestag ein Gutachten über die „Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden“ erstellt.[10] Mit der „Auswahlwehrpflicht“ wäre es auch hinfällig, zu argumentieren, die Reaktivierung des Kriegsdienstzwangs sei organisatorisch, strukturell und finanziell nicht machbar. Die Bundeswehr würde gemäß ihrer Kapazität einberufen.

Kramp-Karrenbauer nennt den französischen Service national universel als „spannendes Modell“.[11]

Gegen Ausbeutung und Abwertung von Arbeit

Einer Dienstpflicht ohne Bezug zum Militärdienstzwang steht das Verbot der Zwangsarbeit entgegen. Artikel 4 GG erlaubt Zwangsarbeit nur „im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht“ und „bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung“. Die Menschenrechtskonventionen von Europarat und UN verbieten Sklaverei und Zwangsarbeit mit Ausnahme von Militärdienst und Militärersatzdienst. Allerdings ist zu bedenken, dass Staaten, wenn es um Krieg, Militär und Zwangsdienste geht, sich häufig ungestraft über Rechtsvorschriften hinwegsetzen.

Es ist zu fragen, warum irgendein Mensch für seine Arbeit nicht adäquat bezahlt werden soll. Doch wenn es um Militärdienstzwang und zivile Zwangsdienste geht, gelten im gesellschaftlichen Bewusstsein, auch bei Gewerkschaften, die üblichen Standards nicht. Warum sollen Jugendliche und Flüchtlinge fast unbezahlt und in Unfreiheit arbeiten? Und das in einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander geht? Der soziale und der Pflege-Bereich werden gern als Einsatzfelder für einen Pflichtdienst genannt, unter anderem wegen des Personalmangels. Doch der Personalmangel ist ein Resultat der miserablen Bezahlung dieser wichtigen Arbeit. Der Einsatz von billigen Zwangsdienstleistenden würde diese Arbeitsplätze gefährden und die Billig-Konkurrenz würde das Lohnniveau weiter sinken lassen. Der vermeintlich so soziale Zwangsdienst erweist sich als zutiefst antisozial. Wer damit rechnen muss, selbst einmal gepflegt werden zu müssen, hat ein Interesse daran, von qualifizierten, gut bezahlten und motivierten, professionell arbeitenden Menschen versorgt zu werden.

Schlussfolgerungen für die Friedensbewegung

Die Friedensbewegung hat kein Interesse daran, dass Menschen ins Militär gehen, ob freiwillig oder gezwungen.

Jede Zwangsrekrutierung ist eine Menschenrechtsverletzung und ein Akt der Gewalt. Er beinhaltet Freiheitsberaubung und Aufhebung der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, aber auch entwürdigende Musterungen, Gewissensprüfungen, juristische und politische Verfolgung sowie die Zerstörung von Lebens- und Berufswegen.

Die Bundeswehr gebärdet sich als Verteidigungsarmee. Doch das war sie nie. Denn jede Armee, die zwangsrekrutiert, ist gegenüber ihren Opfern eine Angriffsarmee.

Eine konsequente Friedensbewegung muss alle militärischen und zivilen Zwangsdienste ablehnen, aufgrund friedenspolitischer und menschenrechtlicher Erwägungen.

Gernot Lennert, Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Hessen. Ausführlicher dazu: Gernot Lennert: Wiederkehr der Zwangsdienste? In: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2018, S. 17-25, www.dfg-vk-mainz.de/fileadmin/Dokumente/Hessen/2018/Wiedzwan.pdf

Anmerkungen


[1] Warum sogenannte Wehrpflicht? Wehrpflicht und Wehrdienst und davon abgeleitete Begriffe suggerieren bezüglich des zwischenstaatlichen Verhältnisses, dass das Militär der Verteidigung diene. Allerdings haben sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Das gilt gerade für Deutschland. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, denen es nicht gelingt, sich erfolgreich gegen die Rekrutierung zum Militär zu wehren. Deshalb verwende ich diese sachlich unzutreffenden und realitätsverschleiernden Propagandabegriffe nicht.

[2] Siehe z.B.: Die Zeit für die allgemeine Dienstpflicht ist gekommen, kpv.de, 02.4.2020; Streitthema allgemeine Dienstpflicht: Bundeswehr-Papier sorgt für neue Debatte in der GroKo, businessinsider.de, 11.4.2020; MdB Haase will „allgemeine Dienstpflicht“, radiolippe.de, 07.4.2020; Blick über den Zaun: Junge Union Erlangen und Erlangen-Höchstadt fordern Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, wiesentbote.de, 01.4.2020; Corona-Einsatz der Bundeswehr zeigt den Wert der Wehrpflicht, ruediger-lucassen.de, 23.3.2020; Corona-Epidemiegesetz: LINKE NRW fordert Solidarität statt Zwang, dielinke-nrw.de, 31.3.2020.

[3] Spiegel online: CDU-Generalsekretärin regt Dienstjahr für Flüchtlinge an, 25.8.2018.

[4] ARD-Sommerinterview mit Angela Merkel, tagesschau.de, 26.8.2018.

[5] Lena Rackwitz: Zu den Waffen, Genossen – Die allgemeine Wehrpflicht sollte wieder eingeführt werden. Jungle World, 14.6.2018. Auch dokumentiert in Zivilcourage Nr. 4/2018 S. 5f. mit zwei Entgegnungen. Die Entgegnung von Bernd Drücke wurde in der Jungle World stark gekürzt abgedruckt, der Leserbrief von Gernot Lennert überhaupt nicht.

[6] Heribert Prantl: Videokommentar “Deutschland braucht ein Pflichtjahr für alle”, 5:20 min., sueddeutsche.de, 07.8.2018.

[7] Constantin Wissmann: Dienstpflicht – Ein Angriff auf die Jugend, cicero.de, 06.8.2018.

[8] Zu Zorn: Interview: Wehrpflicht? Nein danke, in Die Zeit 23.8.2018 S. 7; zu Volker Rühe: Interview: Einführung einer Dienstpflicht: „Mit Sicherheit wird es keine Wehrpflicht geben in: Deutschlandfunk, 6.8.2018.

[9] Die Welt: Mehrheit der Deutschen für Wiedereinführung der Wehrpflicht , 05.8.2018.

[10] Wissenschaftliche Dienste Bundestag: Zur Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden, 13.6.2018, S. 7, 9.

[11] Zitiert nach: CDU-Debatte: Darum geht es bei der allgemeinen Dienstpflicht, sueddeutsche.de, 28.11.2019.