IMI-Analyse 2020/27

Von Söldnern zu Wehrdienstleistenden

Ein historischer Blick auf militärische Rekrutierungspraktiken

von: Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 18. Juni 2020

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Das rechtliche Band, welches einen Soldaten an seinen Dienstherren fesselte, wurde nach Sitte der Landknechte bis zum Ende des Alten Reiches grundsätzlich durch den freiwillig eingegangenen Vertrag, den sog. Werbecontract, geknüpft. Hierzu warb man öffentlich auf Marktplätzen unter Trommelwirbel und Trompetenschall oder noch öfter in Wirtshäusern, wo sich Werber und potentielle Rekruten in großer Zahl einfanden.[1]

Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 markiert einen wesentlichen Wendepunkt in der deutschen Militärgeschichte. Mit ihr verabschiedete sich die Bundesrepublik von mehr als nur von einem Rekrutierungsmodell für den militärischen Nachwuchs. Letztlich war die „Wehrpflicht“ doch ein moralischer Pfeiler, auf dem die Legitimität des Militärs in der Nachkriegsordnung Deutschands ruhte. Anknüpfend an die Verantwortung für die Gräuel zweier Weltkriege und die Verfolgung der Juden, sollte eine neue deutsche Armee auch in ihrer Wehrverfassung beweisen, dass sie frei von Missbrauch durch menschenverachtende Ideologien sein kann: Das Konzept des Bürgers in Uniform, der politisch mündig agiert und denkt, ist eng mit der Wehrpflicht verbunden.

Die zwei Pole, die hier mit dem einleitenden Zitat und dem Verweis auf die Aussetzung der Wehrpflicht gekennzeichnet werden, markieren weitaus mehr als die Zeitspanne von knapp 350 Jahren. Sie zeigen auch auf, dass das Rekrutieren von Soldaten keineswegs nach einem einheitlichen Schema verläuft, sondern Wandlungen unterliegt, die wesentlich mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben. Dennoch: Es geht im Kern darum, wie und warum man Soldat wird.

Der Dreißigjährige Krieg, der Ausgangspunkt des Zitates ist, kennzeichnet Krieg als Projekt adeliger Eliten, die mithilfe von Söldnerheeren um Ressourcen und Macht ringen. Der Rahmen ihrer Personalwerbung wurde von den unmittelbar zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen – oder dem zu erwartenden Gewinn – bestimmt. Von Kriegsherrn beauftragte Generäle und Offiziere stellten Heere mithilfe von Werbeaktionen zusammen. Der Offizier war Unternehmer, der Krieg ein Geschäft – die Loyalität des Soldaten galt seinem Lohn. Der „Fortschritt“ in dieser Zeit bestand darin, dass der Kriegsherr, der zum Krieg „berechtigt“ war, seine Abhängigen gerade nicht in seine kriegerischen Abenteuer zwang, sondern andere beauftragte, sich abseits dieser den Personalstamm für den Krieg zusammenzustellen. Werben und Rekrutieren bedeutete mit Versprechen und materiellen Anreizen, andere in den Krieg zu locken. Dass dabei die Not und „das Unfrei sein“ motivierend wirkten, in einen solchen Dienst zu treten, wurde von den Herren hingenommen. Zwangsrekrutierungen, wie sie vorher durchaus üblich gewesen waren, wurden zum „Notfall“ oder „Rückfall“, wenn Verteidigung nicht mehr anders zu leisten war – doch den „professionellen“ Söldnern hatte eine solche Landwehr nicht viel entgegenzusetzen.

Es ist der Zeitpunkt, zu dem sich die Kleinstaaterei Europas in Richtung Nationalstaaten aufzulösen beginnt – ein Schritt, der die Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges obsolet werden ließ.

Der Westfälische Friede von 1648 beendete den Dreißigjährigen Krieg und setzte an die Stelle der Willkür der Kriegsherren ein Vertragssystem zwischen souveränen Staaten, die auf die territoriale Integrität der von ihnen beherrschten Gebiete achteten. Dabei gestanden sich die Staaten gegenseitig das Recht zur Kriegsführung zu und etablierten gleichzeitig ein Verfahren, das die Spontanität von Kriegen unterbinden sollte. Einhergehend damit ging das vormalige Recht der Kriegsherren, stehende Heere zu unterhalten, auf die oberste Ebene, die nun geschaffenen Staaten, über.[2] Nationalstaaten nutzten das Militär aber nicht allein zur Aufrechterhaltung ihrer Grenzsicherheit. Darüber hinaus wirkte das Militär als Bestandteil der Identitätsfindung der Nation mit. „Gleichzeitig wurde auch das Militär zu einer ‚Schule der Nation‘, in der allen (männlichen) Bürgern bestimmte Fähigkeiten antrainiert und besondere Werte vermittelt werden sollten. Dies stellt einen Paradigmenwechsel dar, denn die unteren Klassen hatten Armeen bislang entweder als marodierende Truppen kennen gelernt oder als eine Art mobiles Gefängnis, in das betrunken gemachte Bauernjungen gepresst wurden. Oder sie kamen mit dem Militär in Berührung, wenn es Aufstände im Inneren blutig niederschlug. […] Die Armee wurde mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zum Instrument der erzwungenen Homogenisierung. Sie war ein obrigkeitlichen Interesse dienendes Erziehungs- und Disziplinierungsinstrument, das gegenüber Arbeiter- und Bauernsöhnen eingesetzt wurde, um aus ihnen gehorsame Untertanen […] sowie brave Soldaten und fügsame Arbeiter […] für die moderne Industrie und Landwirtschaft zu machen.“[3]

Die Französische Revolution war Ausgangspunkt und Beispiel für diese Entwicklung. Der Nationalstaat und die Aufstellung einer Armee von Wehrpflichtigen machten Napoleons Eroberungen in Europa erst möglich – dabei waren es die „Massen“ der Bürger, die die Last und den Schaden des Krieges zu tragen hatten und ihn nach innen wie außen entgrenzten. Ein Beispiel, dem andere „Nationen“ in unterschiedlichen Ausprägungen nacheiferten und damit Heere und Kriegsgeschehen immer umfangreicher werden ließen. Mit der Wehrpflicht erschuf sich der Staat ein Instrument, breite Bevölkerungskreise in den Krieg bzw. in die Landesverteidigung einzubeziehen. Die aktive Werbung von Freiwilligen, die in den Krieg ziehen wollen, unterblieb und wurde ersetzt durch ein Zwangssystem, dem sich der einzelne (vornehmlich männliche) Bürger nur schwer entziehen konnte. Sich der Wehrpflicht zu entziehen galt in allen Staaten, in denen es eine solche Wehrpflicht gab, als Straftat, die mit drakonischen Strafen belegt wurde.

Armeen, die ihre Ränge ausschließlich aus Wehrpflichtigen bestreiten, gab es wenige[4] – der Standard wurde eine Mischung aus einem Korps erfahrener Soldaten, die kontinuierlich um Wehrpflichtige ergänzt werden, deren Ausbildungs- und aktiver Dienstzeit sich eine Zeitspanne anschließt, in der sie als Reserve zur Verfügung stehen. Dabei waren diese Mischformen durchaus auch schon der Versuch, dem demokratischen Impetus des französischen Beispiels nicht folgen zu müssen – die herrschenden Monarchen hatten nur ein bedingtes Interesse daran, die unteren Klassen ihrer Gesellschaft als Miliz zu bewaffnen und damit zu dem zu ermächtigen, was man auf alle Fälle vermeiden wollte: Revolutionen und die demokratische Verteilung von Entscheidungsmacht. Die Idee, dass der Bürger mit seiner unmittelbaren Beteiligung am Militär auch Einfluss auf die Motive für Krieg und Frieden und die Gewaltausübung im Inneren nimmt und damit ein „Recht“ ausübt, wird durch eine „Pflicht“ verdreht, an Kriegen teilnehmen zu müssen, über die er nicht mitentschieden hat.

Theoretisch fasst dies z.B. Franz Kernic: „Je größer die Bedeutung des Militärischen für den Bestand des Gemeinwesens gegenüber außen bestimmt wird, desto intensiver und umfangreicher erfolgt die Heranziehung der Menschen zum Militärdienst; je größer die Bedeutung der militärischen Gewalt zur Konfliktregulierung im Inneren des Staates eingeschätzt wird, desto vorsichtiger und zurückhaltender sind einerseits die Herrschenden gegenüber der Volksbewaffnung (d.h. umso lieber sehen sie ein professionelles, ihnen gefügiges Heer), während andererseits die Beherrschten zu einer Volksbewaffnung tendieren, um sich mittels militärischer Gewalt zu emanzipieren.“ [5]

Im 19. Jahrhundert bildeten sich europaweit militärische Eliten von an den Staat gebundenen Offizieren, die zwar den selbstständigen Ritter des Mittelalters oder auch den adeligen General ablösten, aber wiederum auch eine eigene soziale Gruppe konstituierten, die vom Rest der Gesellschaft entfernt blieb. Die Einberufung in den Militärdienst wurde als Bruch mit den regionalen Wurzeln und zivilen Bildern zelebriert und es wurde versucht, „Kameradschaft“ als neues Bezugssystem einer gesellschaftlichen Aufgabe zu etablieren. Doch trotz dieser „Gleichmacherei“ trat die soziale Herkunft nur scheinbar in den Hintergrund – sie lebte in der Verteilung der Ränge fort. Die erzwungene Partizipation aller Schichten am Militärdienst und die selektive Verteilung der Vorteile (gesellschaftlicher Aufstieg, ökonomischer Gewinn) und Nachteile (Gefahr der Verwundung bzw. Tötung im Einsatz, durchbrochene Karrieren, politische Entmündigung während der Dienstzeit) ließen wenig von der „Gleichheit“ übrig. Letztlich kann man zu dem Schluss kommen, dass die Wehrpflicht in ihrer Konsequenz zur Reproduktion eines autoritären Wertekanons und der Militarisierung der Gesellschaft dient und „reaktionären Vorstellung vom unlimitierten Vorrang des Staates vor der Autonomie des einzelnen Individuums“ das Wort redet.[6] Gerade mit Blick auf Deutschland ist es diese Form der Wehrpflicht und des daraus resultierenden Militarismus, die demokratischem Handeln bis weit in das 20. Jahrhundert hinein im Wege ist.[7]

Lehren gezogen?

Das Grauen zweier Weltkriege führte nach 1950 in Deutschland zu einer intensiven Debatte, ob und in welcher Form eine neue deutsche Armee überhaupt möglich sei. Unmittelbar nach dem Krieg gab es eine starke pazifistische Position in Deutschland, die jede neue Armee grundsätzlich ablehnte, aber im ideologischen Schwarz-Weiß der Zeit als „kommunistisch beeinflusst“ ausgegrenzt wurde.[8] In Westdeutschland entschied sich das Parlament für das Anknüpfen an hergebrachte Strukturen und damit für eine Wiederbewaffnung und erneute Wehrpflicht, die nur mäßig in der Lage war, sich von der Tradition der Wehrmacht abzugrenzen.[9] Als Freiwilligenarmee 1955 in die Welt gesetzt und 1956 in eine Wehrpflichtigenarmee umgewandelt, bekam sie den Namen Bundeswehr. In Ostdeutschland entwickelte sich die Nationale Volksarmee (NVA), die als Freiwilligenarmee aufgestellt wurde und erst nach dem Bau der Mauer 1961/1962 in eine Armee der Wehrpflichtigen umgewandelt wurde. War im Westen die Möglichkeit der Verweigerung bereits von Anfang an im Gesetz verankert, so entstand im Osten erst 1964 mit den „Bausoldaten“ ein Hilfskonstrukt, das es jungen Männern ermöglichen sollte, den direkten Dienst an der Waffe zu verweigern. Dennoch: In beiden Staaten wurde repressiv versucht zu verhindern, dass diese Möglichkeit allzu oft genutzt wurde. Totalverweigerung wurde mit Gefängnis bestraft.

Die Breite der Gesellschaft war nicht in gleicher Form in allen Teilen der Armee präsent – vielmehr zeigt sich an der sozialen Herkunft in den unterschiedlichen Rängen der Bundeswehr, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten klare Dominanzen herrschten. Bestand das Offizierskorps zu Beginn der Bundeswehr (wie die NVA) noch mehrheitlich aus Wehrmachtsoffizieren, die zum Teil auf eine lange familiäre Bindung an das Militär zurückblickten, löste sich dies im Westen im Laufe der 1970er Jahre auf und machte erst Beamtenkindern, später Angestelltensprösslingen Platz. Rekrutierten sich die Unteroffiziersränge anfänglich stärker aus einer Beamtenschicht, gab es auch hier einen Wechsel hin zu Handwerkern oder Kindern von Handwerkern. Und auch in den Mannschaften gab es eine Entwicklung von einem Abbild der gesamten Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren hin zu einer stärkeren Repräsentanz sozial schlechter gestellter Schichten in den 1980er und 1990er Jahren – einem Zeitraum, in dem der Anteil der Kriegsdienstverweigerer auf über 40% eines Jahrgangs anschwoll.[10] Wehrpflicht, so zeigte sich schon in den späteren 1980er Jahren, ist letztlich nicht genug, um dauerhaft den Zustrom „geeigneter Kandidaten“ für eine Laufbahn in der Bundeswehr zu gewährleisten. Komplexer werdende Waffensysteme und der sich immer weiter verkürzende Wehrdienst bieten schon zu diesem Zeitpunkt eine Herausforderung für neue Strategien in der Rekrutierung. Dabei sind es durchaus auch die gesetzten materiellen Reize (höherer Sold, Heilsfürsorge, Arbeitsplatzsicherheit), die als „korrumpierendes Element“ begriffen werden und den „Bürger in Uniform“ wieder näher an den „Söldner“ bringen – vor allem dann, wenn es an überzeugenden normativen Mustern fehlt[11], wie sich an den aktuellen Auslandseinsätzen deutlich machen ließe.

Anmerkungen


[1] Robby Fichte, Die Begründung des Militärdienstverhältnisses (1648-1806), Ein Beitrag zur Frühgeschichte des öffentlich-rechtlichen Vertrages, Baden-Baden 2010.

[2] Ausführlicher dargestellt findet sich dieser Gedankengang bei Cathleen Kantner, Sammi Sandawi, Der Nationalstaat und das Militär, in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Militärsoziologie – Eine Einführung, 2. Auflage, Wiesbaden 2012, insb. S.49f.

[3] Kantner, Sandawi, ob. Zit., S. 45.

[4] Die Zahl der Armeen, die in Europa über 66% eines Jahrgangs einziehen hat zum Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal abgenommen. Letztlich bleibt die Schweiz als einzige Milizarmee übrig – gefolgt von der Türkei, mit einer ebenfalls hohen Quote von zum Wehrdienst herangezogenen (siehe auch die Grafik im Beitrag: „Über den Tellerrand“)

[5] Franz Kernic, Demokratie und Wehrform, in Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe, Wiesbaden 2004, S. 65-85, S. 72. Zu grundsätzlichen Überlegungen siehe auch Werkner direkt: Ines-Jacqueline Werkner, Wehrsysteme, in: Leonhard/Werkner, ob. Zit, Wiesbaden 2012, S.176-199.

[6] Kantner, Sandawi, ob. Zit., S. 48.

[7] Zur Entwicklung der Wehrpflicht in Deutschland siehe: Detlef Bald, Die Wehrpflicht – das legitime Kind der Demokratie? Vom Wehrrecht zur Wehrpflicht in Deutschland, SoWi Arbeitspapiere 56, München 1991. (Online: mgfa.de)

[8] Für eine Übersicht siehe Volker Nehring, Europäische Friedensbewegungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Jörn Echternkamp, Hans-Hubertus Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen? Europäische Dimensionen der Militärgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2017, S. 99-110.

[9] Bald, ob. Zit., S. 14f.

[10] Nina Leonhard, Heiko Biehl, Beruf: Soldat, in: Leonhard/Werkner, ob. Zit, Wiesbaden 2012, S.393-427, S. 408f.

[11] Siehe hierzu auch Leonhard, ob. Zit., S. 421f.