IMI-Analyse 2024/16 - in: Ausdruck März 2024

Weg in die Kriegswirtschaft?

Deutsche Debatten über die Rolle der (Rüstungs-)Industrie

von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 13. März 2024

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Der französische Präsident war der erste, der das umstrittene Schlagwort öffentlich äußerte. Wenige Monate später griff Wolfgang Ischinger, ehemaliger Spitzendiplomat und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, die Forderung nach einer Kriegswirtschaft auf. In einem Interview mit Bild sagte er, der Bedarf an Gerät und Munition für die Bundeswehr einerseits und für die ukrainische Armee andererseits seien so groß, dass die Wirtschaft das Militärische bevorzugen müsse.2

Ähnlich äußerte sich kurz darauf André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, der größten Soldatenvertretung in Deutschland, in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner im Januar 2023: „Ich will damit nicht sagen, dass Siemens statt Kühlschränke Munition produzieren muss, aber wir müssen jetzt beschleunigen mit Blick auf die Industrie.“ Und Manfred Weber, der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), bekräftigte die Forderung: „Wir brauchen – auch wenn der Begriff kein einfacher ist – eine Art Kriegswirtschaft in der EU, um Stabilität und Sicherheit gewährleisten zu können.“3

Kriegswirtschaft: Was ist das?

Was versteckt sich hinter der provokanten Wortwahl? Laut Gabler-Wirtschaftslexikon wird in einer Kriegswirtschaft „der Marktpreismechanismus bei ausgedehntem staatlichem Dirigismus größtenteils außer Kraft gesetzt“. Zwar werde das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht angetastet, aber in einer Kriegswirtschaft entscheide der Staat, was und wie viel produziert wird. Es handle sich um eine „zentrale Verwaltungswirtschaft“.4 Ressourcen werden primär für die Streitkräfte eingesetzt, z.B. Arbeitskraft, Lebensmittel oder Mobilität. Für erwünschte Güter erlässt der Staat Preisgarantien, Patente werden aufgehoben, Ressourcen rationiert und bestimmten Unternehmen zugeteilt. Wenn kritische Rohstoffe fehlen, wird in befreundeten und neutralen Staaten beschafft, bis hin zur Beschlagnahmung und zahlreichen anderen Eingriffen. Historisch wurden neue industrielle Verfahren entwickelt, um kritische Rohstoffe zu ersetzen.

Eine Kriegswirtschaft greift zu besonderen finanz- und fiskalpolitischen Maßnahmen. Um Rüstung und Kriegsführung zu bezahlen, werden oft hohe Schulden aufgenommen und Steuern und Abgaben erhöht. Andererseits werden staatliche Leistungen, die militärisch nicht relevant sind, gekürzt oder abgeschafft. Bei äußerster Knappheit wird Geld freiwillig oder unfreiwillig eingezogen: durch Spendensammlungen, wie zuletzt im Ukrainekrieg, oder durch Beschlagnahmung oder Enteignung bei vermeintlichen äußeren oder inneren Feinden.

Tendenzen unübersehbar

Die deutsche Wirtschaftsordnung hat mit einer so verstanden Kriegswirtschaft kaum etwas gemeinsam. Es gibt (bisher) keine Wehrpflicht, keine ökonomische Mobilisierung oder massive Staatsverschuldung, wenig staatliche Lenkung und so weiter. Allerdings sind Tendenzen erkennbar, die ermöglichen würden, die deutsche Wirtschaft künftig auf eine solche Kriegswirtschaft umzustellen.

Allgemein stehen neoliberale Prinzipien in der öffentlichen Kritik. Ab der Krisenkaskade seit Covid-19 wird die Abkehr vom Just-in-time-Prinzip gefordert, hin zu „Just in Case“, eine größere Lagerhaltung, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 und für den Klimaschutz hat die Bundesregierung neue Finanzierungsmöglichkeiten und Sondervermögen geschaffen.

Bei der aktuellen Debatte um die Kriegswirtschaft geht es primär um das Hochfahren der Rüstungsindustrie. „Eine schnelle Beschaffung setzt vorhandene industrielle Kapazitäten voraus – Kapazitäten, die man skalieren kann“, sagte Bundesminister Boris Pistorius am 10. November 2023 auf der Bundeswehrtagung.5 Die Produktion soll angekurbelt werden. Die EU hat der Ukraine im März 2023 eine Million Artilleriegranaten bis März 2024 versprochen und der Industrie entsprechende Abnahme- und Preisgarantien gemacht. Auch wenn dieses Versprechen nicht eingehalten werden konnte, weil die Industrie zu einem solch schnellen Hochfahren der Produktion nicht in der Lage war, ist allein das Versprechen und die Finanzierung bisher einzigartig in der Geschichte der EU.

In den sogenannten Rahmenverträgen der Bundeswehr werden auch künftige Produktionskapazitäten, die über den konkreten Bedarf hinausgehen, vertraglich vereinbart. Beispielsweise hat die Bundeswehr 18 neue Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A8 geordert, um die an die Ukraine gelieferten Panzer zu ersetzen. Der Vertrag enthält Klauseln, denen zufolge die Bundeswehr zusätzlich bis zu 105 Stück abrufen kann, wobei Verbündete wie die Niederlande, Litauen und Tschechien eventuell überschüssige Panzer abnehmen sollen. Weiterhin hat sie 2.600 Panzerabwehrminen bestellt, weil diese Menge in die Ukraine geliefert wurde. Die Industrie soll allerdings Kapazitäten vorhalten, um bei Bedarf bis zu 10.000 weitere Minen liefern zu können.
An der im August 2022 von Deutschland organisierten Initiative European Sky Shield beteiligen sich 19 EU- bzw. NATO-Staaten. Deutschland, Estland, Lettland, Slowenien und Österreich kaufen in diesem Rahmen gemeinsam das Flugabwehrsystem IRIS-T SLM. Weitere haben Interesse bekundet. Deswegen wird das Konsortium unter Leitung von Diehl Defence seine Produktionskapazitäten verdoppeln.

Staatliche Eingriffe

Im Fall der Munitionsherstellung wird tatsächlich in die Produktion eingegriffen. Die Herstellung der Geschosse für den Gepard-Panzer hat Rheinmetall auf politischen Druck von einem Schweizer Tochterunternehmen ins Stammwerk in der Lüneburger Heide verlagert, weil die traditionell neutrale Schweiz sich gegen die Lieferung in die Ukraine sperrte.

Wichtiger noch ist, dass die staatliche Beteiligung an Rüstungskonzernen kontinuierlich zunimmt. Damit wachsen auch die Zugriffsmöglichkeiten auf die Branche. Beteiligungen an den Firmen Airbus, MBDA Deutschland und Jenoptik gibt es schon lange. 2021 kaufte sich der Bund bei Hensoldt ein und erwarb dort eine Sperrminorität.

Angestrebt wird eine solche Sperrminorität auch bei dem Unternehmen ESG, außerdem bei der Marinesparte von Thyssen-Krupp, die aus dem Konzern ausgliedert werden soll. 2022 kaufte der Bund die Warnowwerft bei Rostock. Darüber hinaus fordert Kriegsminister Pistorius ein generelles Vorkaufsrecht für die Bundeswehr bei deutschen Rüstungskonzernen, wie es beispielsweise in den USA bereits seit längerem gehandhabt wird. Auch in der Bundesregierung wird laut hierüber nachgedacht: „Scholz will die Produktionskapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie ausweiten. […] Die Bundesregierung will das Problem nun lösen, indem sie der Industrie langfristige Abnahmegarantien gibt. Eine Möglichkeit hierzu wären Bestellungen mit anderen EU-Partnern. Die Rüstungskonzerne sollen zusätzlich Geräte und Geschosse künftig auch auf Vorrat produzieren dürfen, damit sie im Ernstfall sofort verfügbar sind. Diese Pläne setzen jedoch eine Abkehr von der restriktiven Rüstungspolitik voraus. Ohne Gesetzesänderungen wird es nicht gehen, heißt es in der Bundesregierung.“6

Doch es geht nicht nur um militärisches Gerät im engeren Sinne. Unübersehbar soll auch die deutsche Energie- und Industriepolitik militär- und geostrategisch ausgerichtet werden. Deutschland soll unabhängiger werden von der Einfuhr strategisch wichtiger Rohstoffe, z.B. von Lithium. Das prominenteste Beispiel für das Streben nach „strategischer Autonomie“ ist die Mikroelektronik. Bei Magdeburg (IBM), Dresden (TSMC) und in Ensdorf im Saarland (Wolfspeed) sind neue Chipfabriken geplant, die zu einem erheblichen Teil mit Staatsgeldern finanziert werden sollen.

Ein weiteres, weniger bekanntes Beispiel ist Panzerstahl. Schon vor längerem sind die letzten Kapazitäten nach Schweden abgewandert. Welche Auswirkungen das Verfassungsgerichtsurteil zu Schattenhaushalten allerdings auf die notwendigen Subventionen für die Wirtschaftlichkeit der Chip- und Panzerstahlproduktion in Deutschland haben wird, ist aktuell noch immer offen.

Fazit

Kurz, die gegenwärtige Mobilisierung betrifft nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die deutsche Rüstungsindustrie und die weitere Industrie- und Wirtschaftspolitik. Deutschland soll kriegstüchtig werden. Protagonisten der Kriegswirtschaftsdebatte wie Wolfgang Ischinger ruderten später übrigens etwas zurück. „Ich wollte provozieren“, sagte er im März 2023 in der ARD-Talkshow „Maischberger“. „Jedenfalls ist eins klar, selbst wenn man den Begriff nicht benutzen möchte – aus historischen Gründen: Wir brauchen ein organisiertes und von staatlicher Seite vorgegebenes Hochfahren der Rüstungsindustrie.“7

Ben Tallis von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) findet diese Provokation eher kontraproduktiv, zumindest verfrüht: Zu einer Kriegswirtschaft gehörten „eine hochgradige Kontrolle sowie eine staatliche Lenkung der Wirtschaft“ und „vermutlich Rationierungen in verschiedenen Bereichen“, sagte er. „Dieses Signal ist die gegenwärtige Generation westeuropäischer Politiker meiner Überzeugung nach nicht bereit (an die Bevölkerung) zu senden.“8 Hoffen wir, dass es dabei bleibt.

Anmerkungen:

1 Déclaration de M. Emmanuel Macron, président de la République, sur les industries d’armement française et européenne, à Villepinte le 13 juin 2022. Vie-publique.fr

2 Knallhart-Forderung von Wolfgang Ischinger. Deutschland braucht die „Kriegswirtschaft“! Bild.de 21.11.2022.

3 Mehr Panzer, mehr Munition: CSU-Vize mahnt „Kriegswirtschaft“ an – spielt die Ampel mit? Merkur.de 26.1.2023.

4 Kriegswirtschaft, o.D. Wirtschaftslexikon.gabler.de

5 Bundeswehrtagung 2023: Rede von Boris Pistorius, Youtube.de 10.11.2023.

6 Matthias Gebauer, Marina Kormbaki: Mangelware Munition: Scholz lädt nach, Der Spiegel 6/2024.

7 Ampel-Abrechnung bei „Maischberger“. Bild.de, 16.3.2023.

8 Muss Europa auf Kriegswirtschaft umstellen? DW.com, 3.6.2023.