IMI-Standpunkt 2024/004 - in: YeniHayat (14tägige deutsch-türkische Zeitung)

Deutschland erreicht das 2%-Ziel der NATO

Interview mit Tobias Pflüger

von: 27. Februar 2024

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Das Interview wurde für diese Dokumentation redaktionell überarbeitet. Es findet sich auch in türkischer Sprache hier: https://yenihayat.de/almanya-natonun-yuezde-2-hedefine-ulasti/

Tobias Pflüger ist Friedensforscher und Politikwissenschaftler. Er ist Mitglied des erweiterten Vorstands der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) in Tübingen. Wir haben mit ihm über den Aufrüstungskurs Deutschlands gesprochen.

YENIHAYAT: Deutschland hat das 2 % Ziel der NATO erfüllt. Wird Deutschland nun im internationalen Wettrüsten „kriegstüchtig“? Wird Deutschland eine offene Konfrontation mit Russland suchen?

Die Bundesregierung hat mit diesem Haushalt zum ersten Mal, dass 2%-Ziel erreicht. Man muss sich einfach klarmachen: das bedeutet, dass 2% des Bruttoinlandsprodukts für militärische Produkte verausgabt werden – für die Bundeswehr und zum Beispiel für die Finanzierung der Militarisierung im Bereich der Europäischen Union. Das Budget ist in drei Bereiche aufgeteilt. Einmal der so genannte „normale“ Militärhaushalt. Dann gibt es den Bereich des Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden, was eigentlich 100 Milliarden Euro Schulden sind. Und es gibt den gesamten Bereich der Militärpolitik in der Europäischen Union, da liegt der Schwerpunkt auf Munitionsfinanzierung und der sog. „Friedensfazilität“ der EU, mit der z.B. Waffenlieferungen in Drittstaaten finanziert werden. Somit erreicht die Bundesregierung, dass die Bundesrepublik das militärisch stärkste Land in der Europäischen Union wird. Damit ist Deutschland ungefähr auf dem gleichen Niveau, wie Frankreich und Großbritannien. Auch die beiden rüsten enorm auf. Insgesamt ist somit ein Level erreicht, dass es viele Jahre nicht gab.

Außer bei den Nuklearwaffen. Frankreich und England sind Nuklearmächte. Kann die Atomfrage auch in Deutschland gestellt werden?

Die Diskussion läuft ja bereits. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die damalige Bundesregierung auf Atomwaffen verzichtet. Es wäre ein geschichtlicher Wendepunkt, wenn man diese Position verändern würde oder wenn man zum Beispiel mit Frankreich gemeinsam EU-Atomwaffen anschaffen würde.

Derzeit ist es so, dass in Deutschland Atomwaffen, die den USA gehören, gelagert sind und im Ernstfall mit Bundeswehr-Flugzeugen in Ziel geflogen würden. Das ist die so genannte „Nukleare Teilhabe“. Dafür werden gerade, als das teuerste Projekt, F 35 Kampfflugzeuge angeschafft. Ich weiß nicht, ob eigenständige Atomwaffen kommen werden. Aber ohnehin ist es gerade so, dass mit der nuklearen Teilhabe die Atomwaffenpolitik der NATO mitgetragen wird.

Der Haushalt 2024 sieht einen Rüstungsetat in Rekordhöhe vor, jetzt ist auch ein Sondervermögen in Höhe von 300 Milliarden ins Spiel gebracht worden. Wie betrifft dieses Sondervermögen die Bevölkerung?

Es ist gerade so, dass insbesondere von Seiten der CDU/CSU und der Grünen, aber auch von anderen Parteien wie der FDP oder in Teilen auch der SPD die Forderung kommt, ein neues Sondervermögen, also eine neue Verschuldung, aufzulegen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass das kommt. Gleichzeitig hat der jetzige Haushalt schon Kürzungen im Bereich Soziales aufgelegt. Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist man da an die Substanz von wichtigen Finanzierungen im sozialen Bereich gegangen mit einer Reihe von Kürzungen.

Es ist so eindeutig, dass man sagen kann: Weil es diese Verschuldung durch das Sondervermögen gibt, gibt es Kürzungen im sozialen Bereich. Damit sind die Auswirkungen eigentlich relativ eindeutig. Leider gibt es dazu relativ wenig Reaktionen. In den einzelnen Bereichen gibt es durchaus Proteste gegen die Kürzungen. Aber die werden nicht im Zusammenhang damit gesetzt, dass im Militärbereich gleichzeitig um ein Vielfaches mehr Geld ausgegeben wird. Also die Landwirte könnten ja durchaus auf ihre Schilder schreiben: „Gekürzt wird bei uns im Agrarwesen und beim Diesel, weil ihr in Rüstung investiert“, aber das machen sie nicht. Der Zusammenhang wird nicht hergestellt. Wenn man insbesondere in den Bereich der Renten und so weiter schaut, sieht man eine ganz fatale Entwicklung, die die sozialen Kürzungen mit sich bringen.

Der Bundeskanzler hat den Spatenstich für ein neues Rheinmetall-Werk in der Lüneburger Heide gelegt. Legt Deutschland somit den Grundstein für seine militärische Unabhängigkeit?

Das Ziel dieser ganzen Politik ist selbstverständlich, Deutschland zu einer eigenständigen Militärmacht innerhalb der europäischen Union und innerhalb der NATO zu machen. Ziel und Zweck des Ganzen ist es natürlich, weltpolitisch eine zentrale Rolle zu spielen. Diese Entwicklung ist fatal, weil das bedeutet, dass man in einen Rüstungswettlauf einsteigt, der ein Ausmaß hat, wie noch nie. Und dieser Besuch bei Rheinmetall ist symptomatisch, weil Schulz sagte ja auch diesen Satz: „Wir leben nicht in Friedenszeiten“. Das zeigt die Wahrnehmung, dass man in Kriegszeiten lebt und man die Bundeswehr zu einer Armee machen will, die „kriegstüchtig“ ist. Es zeigt auch, dass man sich darauf vorbereitet Kriege, nicht nur indirekt, wie im Moment gerade durch Finanzierung von Waffen und Munition zu führen, sondern auch direkt Kriege zu führen. Die Strukturen dafür schafft man mit dieser enormen Aufrüstung. Insofern findet da eine gesellschaftliche Veränderung statt. Man kann sagen: Die Bundesrepublik insgesamt richtet sich auf Krieg aus. Dafür ist der Haushalt die wesentliche Finanzierung. Gleichzeitig hat sich gesellschaftlich viel verändert. Zum Beispiel spielt die Debatte um Dienstpflicht und Wehrpflicht wieder eine Rolle und die Werbung der Bundeswehr nimmt zu. Die Gesellschaft insgesamt wird ausgerichtet, dafür tüchtig zu sein, für den Krieg.

Aber gegen wen? Wie entwickelt sich die militärische Aufrüstung in der Zukunft? Wie realistisch findest du das Szenario, dass sich die USA nächstes Jahr aus dem Ukrainekrieg zurückziehen und der Krieg zur „Aufgabe“ der EU-Staaten, insbesondere Deutschland, wird?

Die Entwicklung wird so laufen, dass natürlich weltpolitische Ambitionen hinter dieser Aufrüstung stehen. Geopolitisch wird in den Regierungzentralen im Bereich der EU die USA als „unsicherer Kantonist“ eingestuft. Man weiß nicht, ob Trump wieder Präsident wird. Deshalb will man selbst militärisch in der Lage sein, alle Strukturen zu schaffen, um weltweit mit der NATO und der Europäischen Union zu dominieren. Das ist ein wesentlicher Punkt für die gesamte Aufrüstung. Das Ziel ist eindeutig Russland. Das wird auch nicht mehr geleugnet. Die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien formulieren das klipp und klar. Es geht gegen Russland aber in Klammern ist man auch immer militärisch bereit für eine Konfrontation gegen China. Es ist auch vollkommen klar, dass man inzwischen Angriffe übt. Es geht nicht mehr um „Verteidigung“, sondern um Angriffe, das sieht man bei den Manövern und Übungen. Somit haben wir eine andere Konstellation als über die letzten Jahre.

Aktuell ist es so, dass die NATO- und EU- Staaten durch ihre Finanzierung der Ukraine einen indirekten Krieg mit Russland führen. Nachdem Russland die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen hat, gibt es die Waffenunterstützung, die essenziell für die ukrainische Seite ist. Im Grunde führt die NATO inzwischen einen Stellvertreterkrieg. Zynisch formuliert kann man sagen, die NATO-Staaten kämpfen bis zum letzten ukrainischen Soldaten gegen Russland. Es kann sein, dass dieser Krieg sich verstetigt und er noch viele Jahre so laufen wird. Es gibt aktuell keine Anzeichen dafür, dass etwas in Richtung Verhandlungsende deutet. Man setzt auf die so genannte „militärische Lösung“. Was die Sanktionen gegen Russland angeht, haben diese dafür gesorgt, dass die wirtschaftliche Absicherung einfach über andere Länder läuft. Das Ziel dieser Sanktionen, dass man Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen will, ist nicht erreicht worden. Es hat sich einfach wirtschaftlich umorientiert, insbesondere in Richtung China und anderer Länder. In gewisser Weise ist es auch ein Wirtschaftskrieg, der gerade stattfindet. Was auch interessant es ist, dass sich die Wirtschaft in Deutschland in Richtung Kriegswirtschaft verändert. Die gesamte Produktion wird genau auf diesen Bereich ausgerichtet.

Die Ostermärsche stehen bevor und wir sehen, dass die Militarisierung ansteigt. Was muss die Friedensbewegung tun?

Was wir als Friedensbewegung machen müssen, ist klipp und klar gegen diesen Aufrüstungskurs Position zu beziehen und zu versuchen, gesellschaftlich so wirksam zu sein, dass in Gewerkschaften und den anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen eine Positionierung gegen diese Aufrüstung möglich ist. Die Friedensbewegung ist logischerweise auf der Straße an Ostern, um gegen diese Rüstungsprojekte und die Veränderung der Gesellschaft durch die Umorientierung in die Kriegstüchtigkeit zu protestieren. Die Friedensbewegung ist nicht stark, aber sie ist wahrnehmbar. Es war schon immer ein wichtiger Punkt, die Positionierung gegen Krieg und Kriegsorientierung auf die Straße zu bringen. Ich sage immer, was wir in Zeiten der Aufrüstung wie momentan brauchen, ist eine Renaissance des Antimilitarismus.