IMI-Analyse 2024/10

Wächter des Wohlstands im Roten Meer

Westliche Militäreinsätze in schwierigem Gewässer

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 15. Februar 2024

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Seit 19. November 2023 greifen jemenitische Huthis[1] unter Verweis auf den Krieg in Gaza immer wieder Handelsschiffe im Roten Meer an. Unter Führung der USA wurden daraufhin Kriegsschiffe entsendet und auch bereits mehrfach Angriffe auf dem Festland durchgeführt. Auch die Europäische Union will voraussichtlich am 19. Februar 2024 mit Bundeswehr-Beteiligung einen Militäreinsatz beginnen.

Das Vorgehen ist dabei insofern symptomatisch, weil hier wie inzwischen für nahezu alle Konflikte nur noch über eine militärische „Lösung“ nachgedacht wird, die aber tatsächlich nichts zur Deeskalation beiträgt – im Gegenteil. Gleichzeitig ist der Einsatz für die innerdeutsche Debatte insofern ein Novum, weil von politischer Seite erstmals in aller Offenheit als Rechtfertigung auf die Notwendigkeit zur Durchsetzung ökonomischer Interessen verwiesen wird. Ernüchternd ist, dass dies auf kaum nennenswerten Widerstand stößt, was vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar gewesen wäre. Allerdings existieren neben völlig berechtigten grundsätzlichen Erwägungen auch eine Reihe weiterer Gründe, weshalb dieser Militäreinsatz und die deutsche Beteiligung daran abgelehnt werden sollten.

1. Eskalation an neuralgischer Stelle

Die Bedeutung des Roten Meeres und besonders der Meerenge Bab-al-Mandab ist schwer zu überschätzen. Generell werden 90 Prozent des Welthandels auf Seewegen transportiert, das Rote Meer (bzw. der Suez-Kanal) passieren 15 Prozent davon (12 Prozent des Welthandels), was sie zu einer der wichtigsten Wasserstraßen der Welt macht.[2]

Angrenzend an das Rote Meer kontrollieren die Huthi im Westen des Jemen rund ein Drittel des Landes, wo ein Großteil der Bevölkerung lebt.[3] Von dort aus begannen sie, wie erwähnt, ab dem 19. November 2023 mit Angriffen auf Handelsschiffe, wobei es bislang zu fast 40 Zusammenstößen gekommen sein soll.[4] Huthi-Angaben zufolge würden nur Schiffe ins Visier genommen, die in einem Zusammenhang mit dem israelischen Krieg in Gaza stünden[5], wobei die Angriffe bis zu einen Waffenstillstand fortgesetzt würden. Seither sehen sich viele Schiffe gezwungen, den großen Umweg um das Kap der Guten Hoffnung zu nehmen – im Februar 2024 sollen 80 Prozent weniger Schiffe den Suezkanal passiert haben, als zu erwarten gewesen wäre.[6]

Bereits am 19. Dezember 2023 startete unter Führung der USA der Einsatz „Wächter des Wohlstands“ („Prosperity Guardian“), an der sich acht weitere Länder beteiligen.[7] Am 10. Januar 2024 verurteilte der UN-Sicherheitsrat in Resolution 2722 die Angriffe der Huthis, was von den USA postwendend als Blankoscheck gewertet wurde, einen Tag darauf massiv Ziele auf dem jemenitischen Festland zu beschießen. Die USA berufen sich dabei auf mehr als fraglicher Grundlage auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 und wurden bei ihren Angriffen unter anderem umgehend von Deutschland politisch unterstützt. Eine weitere Eskalationsstufe wurde am 3. Februar 2024 erreicht, als die USA als Reaktion auf erfolgte Angriffe auf eine US-Basis in Jordanien auch Ziele im Irak und in Syrien bombardierten. Nur einen Tag später wurden noch einmal 36 Ziele im Jemen angegriffen.[8]

2. Aspides: „Schwerer Waffengang“

Parallel zu Prosperity Guardian konkretisierte die Europäische Union Pläne zur Entsendung von Kriegsschiffen im Rahmen einer eigenen Militärmission. Frankreich war von Anfang an wenig erpicht darauf, Schiffe unter ein US-Kommando zu stellen. Die eigentlich treibende Kraft soll aber Deutschland gewesen sein.[9]

Am 22. Januar gaben die EU-Außenminister*innen grundsätzlich grünes Licht für den Einsatz, der im Umlaufverfahren am 8. Februar beschlossen wurde und am 19. Februar 2024 offiziell beginnen soll. Vorgesehen ist, mindestens drei Fregatten gleichzeitig vor Ort zu haben. Zusagen gibt es aus Griechenland, Frankreich, Italien und Deutschland (F-125 „Hessen“), voraussichtlich werden aber noch weitere Länder hinzukommen. Das Hauptquartier wird sich in Griechenland (Larisa) befinden, das auch die Führung des Einsatzes übernehmen wird.[10]

Laut Ratsbeschluss soll der erst einmal auf ein Jahr begrenzte Einsatz ein recht umfangreiches Gebiet abdecken: „Das Operationsgebiet umfasst die Meerenge von Baab al-Mandab und die Straße von Hormus sowie die internationalen Gewässer im Roten Meer, im Golf von Aden, im Arabischen Meer, im Golf von Oman und im Persischen Golf.“[11] Das „strategische Ziel“ der Operation sei es, „die Freiheit der Schifffahrt sicherzustellen.“[12] Um dies zu gewährleisten, werde man „Schiffe im Operationsgebiet begleiten“ sowie „eine maritime Lageerfassung im Operationsgebiet sicherstellen“ und „Schiffe vor bereichsübergreifenden Angriffen auf See unter uneingeschränkter Achtung des Völkerrechts, einschließlich der Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, in einem Untergebiet des Operationsgebiets schützen.“[13]

Besonders wird im Ratsbeschluss betont, die Operation sei „defensiver Natur“, allerdings könne man im Sinne des „Rechts auf Selbstverteidigung, handeln, um einen unmittelbar bevorstehenden oder andauernden Angriff auf ihre eigenen Schiffe oder Schiffe von Dritten

abzuwehren.“[14] Was das dann alles umfassen kann, bleibt unklar, erkennbar ist aber durchaus ein Bemühen, eine gewisse Distanz zum US-Einsatz zu wahren, der in der gesamten Region scharf abgelehnt wird. Man werde bei Aspides „keine Operationen an Land durchführen“, beeilte sich etwa der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zu versichern.[15] Ob diese vermeintliche strikte Trennung allerdings tatsächlich so strikt sein wird, ist zumindest fraglich (siehe unten).

Vorsorglich legte die Fregatte Hessen bereits am 8. Februar schon einmal in Richtung Einsatzgebiet ab, um bei Missionsstart auch vor Ort zu sein. Obwohl die EU-Mission bereits am 19. Februar beginnen soll, wird der Bundestag wohl erst am 21. Februar erstmals über den Einsatz debattieren, dann wird die Angelegenheit im Eilverfahren zur weiteren Beratung an den federführenden Auswärtigen Ausschuss überwiesen, bevor der Bundestag dann abschließend am 23. Februar 2024 über ein notwendiges Mandat abstimmen kann.[16]

Entschieden wird dann über den bislang riskantesten Einsatz der Bundeswehr-Marine, die einen „schweren Waffengang“ erwartet.[17] So gab Marineinspekteur Jan Christian Kaack zu Protokoll: „Wir rechnen mit dem gesamten Spektrum von direkten und indirekten Angriffen […] Das reicht von ballistischen Flugkörpern großer Reichweite […] über normale Seezielflugkörper bis hin zu Drohnen und auch Kleinstdrohnen, aber auch ferngesteuerte Überwassereinheiten im Kamikazebetrieb.“[18]

3. Gekippte Debatte: Krieg für Interessen

Lange war die Debatte um das Für und Wider deutscher Kriegseinsätze buchstäblich zwiegespalten: Auf der einen Seite wurde in einem nicht notwendig geheimen, aber dennoch in der Öffentlichkeit kaum präsenten Fachdiskurs kein Blatt vor den Mund genommen und offen die militärische Durchsetzung ökonomischer und machtpolitischer Interessen gefordert. Und auf der anderen Seite existierte eine politische und öffentliche Debatte, in der Anfangs Militäreinsätze mehrheitlich generell abgelehnt und später dann nur in Fällen Zustimmung fanden, wenn auf vorgeblich hehre Motiven wie den Schutz von Menschenrechten verwiesen wurde. Über die Jahre näherte sich der öffentliche Diskurs aber immer näher an die Strategiedebatte an und ist jetzt im Falle von Aspides kaum mehr von ihm zu unterscheiden.

1990-2010: Krieg nur für Menschenrechte: Mit dem (zweitweisen) Wegfall der Sowjetunion bzw. dann Russlands musste schnell eine neue Rechtfertigung für hohe Militärausgaben, mit allem was dazugehört, gefunden werden. Dies gelang, indem innerhalb weniger Jahre Militäreinsätze außerhalb des NATO-Bündnisgebietes („Out-of-Area“) als neuer Markenkern der Bundeswehr auserkoren wurden. Die Neuausrichtung war spätestens mit der deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 abgeschlossen, der unter der mehr als fragwürdigen Rechtfertigung geführt wurde, ein Völkermord müsse aufgehalten werden.[19] Damit war der Schritt über den Rubikon getan, für eine deutliche Mehrheit in Politik und Bevölkerung führte kein Weg mehr zurück – aber Kriege mussten fortan mit edlen Motiven begründet werden.

Ganz anders sah der Fachdiskurs aus, der sich vor allem auch in den wesentlichen Dokumenten der Bundeswehr niederschlug. Bereits in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Jahres 1992 wurde zu den „vitalen Sicherheitsinteressen“ die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“ gezählt.[20] Ähnliche Sätze fanden sich anschließend dann auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Jahres 2003 oder dem Weißbuch der Bundeswehr von 2006 – öffentlich wurden aber weiter humanitäre Kriegsrechtfertigungen ins Feld geführt.

Wer hier ausscherte, der riskierte in dieser Phase buchstäblich seinen politischen Kopf, wie sich im Mai 2010 anhand von Äußerungen des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler gezeigt hatte: „Meine Einschätzung ist aber, dass […] im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen – negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“[21]

Die Ausführungen des Bundespräsidenten entfesselten einen Sturm der Entrüstung, in dessen Folge Köhler zurücktreten musste. Ganz augenscheinlich war damals in der Bevölkerung eine große Mehrheit der Auffassung, Militäreinsätze zur Durchsetzung ökonomischer Interessen seien unmoralisch und ethisch nicht akzeptabel – doch von da ab ging es leider steil bergab.

2010-2023: Doch Blut für Öl? Gänzlich unbeeindruckt enthielten zentrale sicherheitspolitische Dokumente allerdings auch nach Köhlers Rausschmiss weiter recht eindeutige Passagen, in denen betont wird, selbstverständlich solle die Bundeswehr zur Durchsetzung ökonomischer Interessen eingesetzt werden. So etwa die im Mai 2011 erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien[22] oder das Dokument „Neue Macht – Neue Verantwortung“, in dem in vielerlei Hinsicht bereits wichtige Elemente einer neuen deutschen Militär- und Machtpolitik formuliert wurden, die später in die sogenannte Zeitenwende münden sollten.[23]

Ein Zeichen dafür, dass sich der Wind zu drehen begann, war, dass sich die Bundeswehr nun allmählich in ungewohnte öffentliche Gefilde traute, etwa 2013 als sie die „Bananen-Videos“ veröffentlichte: Dabei handelte es sich um an die Öffentlichkeit adressierte Werbevideos, in denen für einen „notwendigen“ Schutz von Handelswegen geworben wurde. Augenscheinlich hatten die zu erwartenden Reaktionen bereits damals ihre abschreckende Wirkung verloren, allerdings riefen die Videos überwiegend eine Mischung aus Ablehnung und Häme hervor.[24] Trotz solch stetiger Bemühungen gelang es somit lange immer noch nicht, die öffentliche Meinung komplett zu drehen, wie sich ein letztes Mal anhand der Debatten um eine Entsendung deutscher Kriegsschiffe in den Persischen Golf in den Jahren 2019 und 2020 zeigte.

Konkret ging es um die Frage einer deutschen Beteiligung an der „European Maritime Awareness in the Strait of Hormuz“ (EMASoH) und besonders an ihrem militärischen Teil, der von Frankreich geführten AGENOR-Mission. Hierfür warb unter anderem der Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI), der schon seit Anfang der 2000er Jahre unter anderem über seine Rohstoffkongresse und seinen Ausschuss Rohstoffsicherheit auf eine Verschiebung der Debatte hinarbeitete.[25]

Auch der heute durch sein unermüdliches Trommeln für eine größere militärische Unterstützung der Ukraine medial omnipräsente Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, bezog damals eindeutig und öffentlichkeitswirksam Stellung. Unter der provokanten Überschrift „Kein Blut für Öl?“ machte er in der Wirtschaftswoche aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er sei empört über die sich abspielende „sicherheitspolitischen Provinzposse“ und wolle deshalb seine „Anmerkungen zu einer verlogenen Debatte“ zum Besten geben: „Die politischen und ökonomischen Eliten haben das geostrategische Denken verlernt. Natürlich muss Deutschland seine wirtschaftlichen Interessen notfalls auch militärisch verteidigen. Und natürlich braucht es dazu auch mehr Geld für die Bundeswehr.“[26]

Doch es gab damals durchaus auch prominenten Gegenwind, so etwa in einer Publikation der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) oder auch vom Verband deutscher Reeder, die sich aber bereits nicht mehr aus kategorischen, sondern realpolitischen Erwägungen gegen eine Beteiligung aussprachen (siehe Kasten).

————————————— Kasten: Gegenwind: Keine Kriegsschiffe zum Persischen Golf

„Die Beschaffenheit des Seeweges birgt ebenso Konfliktpotenzial: Die Straße von Hormus liegt in iranischen und omanischen Hoheitsgewässern, es handelt sich um einen sehr schmalen Seeweg. Weitere Schiffe und Akteure erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Zwischenfällen und tatsächlichen oder wahrgenommenen Provokationen. Eine unbeabsichtigte Eskalation einschließlich des Einsatzes militärischer Mittel könnte die Folge sein, ganz besonders bei einer Beteiligung der USA und Israels. […] Eine US-geführte Mission setzt die US-Politik des ‚maximalen Drucks‘ gegenüber dem Iran fort. Eine weitere europäische, möglicherweise internationale Mission würde den Druck auf den Iran noch weiter steigern und seine internationale Isolation befördern. Die Europäer inklusive Deutschland würden damit die aus iranischer Sicht gefährliche US-Politik stärken und sich ihr anschließen. Glaubwürdigkeit büßen die Europäer eh schon ein, indem sie den Iran nicht ausreichend wirtschaftlich unterstützen und das Bartersystem (Instex), ein Handels- und Zahlungssystem, dass den US-Markt umgehen soll, wirkungslos bleibt. Mit der Beteiligung an einer Mission würde Deutschland weiter an Glaubwürdigkeit und diplomatischem Kapital für einen notwendigen Dialog mit dem Iran über die akute Krise im Seeweg hinaus verlieren. Auch vor dem Hintergrund einer möglichen zweiten Amtszeit Trumps wäre dies fatal. Denn der Iran wird ein sehr problematischer Akteur in der Region bleiben.“ (Fakoussa-Behrens, Dina: Diplomatie Ja, Militär Nein. Deutschland sollte einer Mission am Golf fernbleiben, DGAPstandpunkt 22, 29.8.2019)

„Wir haben kein Interesse an einer Eskalation am Persischen Golf. Die Straße von Hormus ist ein Flaschenhals. Der Manövrierraum für Handels- und Kriegsschiffe in internationalen Gewässern ist äußerst begrenzt. Der Raum ist derart eng, dass er kaum Platz für Kriegsschiffe bietet. Man gerät da sehr schnell in die Hoheitsgewässer der Anrainerstaaten. Je mehr Kriegsschiffe im Persischen Golf unterwegs sind, desto stärker steigt die Gefahr einer Eskalation. Die Straße von Hormus ist eine überfüllte Meeresautobahn. Unserer Meinung nach müssen alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Wir brauchen eine Deeskalation – gerade im Interesse der Schifffahrt und unserer Seeleute. Unserer Ansicht nach gilt der Primat der Diplomatie – vor allen Überlegungen über mögliche Marine-Missionen. Am Ende müssen die Staaten am Persischen Golf selber ein Sicherheits-Management organisieren, die eine gemeinsame Absicherung der freien Passage ermöglicht.“ (Ralf Nagel, damals geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbands deutscher Reeder, zitiert bei Backfisch, Michael: Schickt die Regierung deutsche Kriegsschiffe an den Golf? Waz, 26.7.2019)

—————————————

Schlussendlich wurde der Einsatz AGENOR Anfang 2020 ins Leben gerufen – allerdings lediglich mit politischer und nicht militärischer Unterstützung der Bundesregierung. Empört fasste damals Welt-Kolumnist Alan Posener seine Sicht auf die Gründe dieser Entscheidung in der Internationalen Politik folgendermaßen zusammen: „Schon vor neun Jahren ließ das schwarz-gelbe Kabinett Merkel II lieber den Bundespräsidenten wegen seiner Befürwortung von Militäreinsätzen über die Klinge springen, als dem Volk die Wahrheit zu sagen: Köhler hat recht. […] Merkels Problem ist nicht Feigheit vor dem Feind, sondern Feigheit vor dem Volk.“[27]

2023ff.: „Unser Wohlstand wird auch am Bab-el-Mandeb verteidigt!“

Rückblickend waren die Debatten um AGENOR der letzte Lacher derjenigen, die sich grundsätzlich gegen militärische Einsätze zur Durchsetzung von Interessen verwahren (und schon damals konnten sie sich nur in einer Allianz mit stärker realpolitisch argumentierenden Kritiker*innen durchsetzen). Damit ist es nun endgültig vorbei, wie die Debatte um Aspides schmerzhaft vor Augen geführt hat. Unisono scheuen sich Industrie, Militär und Politik dabei nicht, das interessenspolitische Kind des Aspides-Einsatzes beim Namen zu nennen (siehe Kasten). Mit fast schon entwaffnender Offenheit schrieb die Europäische Sicherheit & Technik: „Unser Wohlstand wird auch am Bab-el-Mandeb verteidigt!“[28] Symptomatisch ist dabei vor allem der Positionswechsel des Verbands deutscher Reeder, der mit neuem Chef nun eine 180-Grad-Kehrtwende zu seiner Argumentation nur wenige Jahre zuvor machte: „Der deutsche Reeder-Chef Martin Kröger fordert nach dem Angriff von Huthi-Rebellen auf ein Frachtschiff im Roten Meer, den Einsatz der deutschen Marine und ein internationales militärisches Bündnis zum Schutz der zivilen Schifffahrt in der Region.“[29]

————————————— Kasten: Rückenwind: Krieg für Interessen

„Die Bundesregierung muss jetzt ohne weiteres Zögern Verantwortung übernehmen und gemeinsam mit ihren Verbündeten die notwendigen Schritte unternehmen, um die derzeit bedrohten Seewege im Suezkanal und im Roten Meer gegen die anhaltenden Angriffe zu schützen, auch militärisch. […] Deutschland müsse als drittstärkste Handelsnation der Welt eine aktive Führungsrolle übernehmen. […] Die Sicherung der maritimen Handelswege liegt nicht nur im Interesse der deutschen Wirtschaft, sie ist ein elementarer Bestandteil unserer nationalen Sicherheit“. (Wolfgang Niedermark, Mitglied Hauptgeschäftsführung des BDI zit. nach Mergener, Hans Uwe: Lage im Roten Meer eskaliert weiter, Europäische Sicherheit & Technik, 11.1.2024)

„Mit der Operation Aspides wird Europa Verantwortung für die Sicherheit der Seewege auf einer der wichtigsten Handelsrouten für Deutschland und Europa übernehmen“ (Siemtje Möller, Verteidigungsstaatsekretärin, zit. bei Auftrag Schutz der Schifffahrt: Die „Hessen“ ist ausgelaufen, bundeswehr.de, 8.2.2024)

„Bleibt die Frage, warum gehen wir da eigentlich runter? […] Das ist eigentlich ziemlich einfach zu beantworten: Deutschland und Europa sind absolut abhängig von sicheren Seewegen. 90 Prozent des Handels gehen über die Seewege. Das Rote Meer und der Suez-Kanal ist die zweitwichtigste Wasserstraße der Welt.“ (Jan Christian Kaack, Marineinspekteur, zit. bei Wiegold, Thomas: Rotes Meer: „Hessen“ als Geleitschutz, bewaffnete Kommandos auf Handelsschiffen, augengeradeaus.net, 2.2.2024)

—————————————

Am 12. Januar 2024, einen Tag nach den US-amerikanischen Angriffen auf das jemenitische Festland, unterzeichnete das Auswärtige Amt zusammen mit neun Staaten zudem folgende Solidaritätsadresse: „Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs [haben] im Einklang mit dem naturgegebenen Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, das mit der VN-Charta in Übereinstimmung steht, gemeinsame Schläge gegen eine Reihe von Zielen in von den Huthi kontrollierten Gebieten in Jemen durchgeführt. Durch diese Präzisionsschläge sollten die Fähigkeiten, die die Huthi nutzen, um den Welthandel und das Leben internationaler Seeleute auf einem der weltweit wichtigsten Seewege zu bedrohen, gestört und geschwächt werden.“[30]

Die Stellungnahme begründet nicht nur ohne mit der Wimper zu zucken militärischen Handlungsbedarf aufgrund ökonomischer Interessen, sondern sie ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich die Bundesregierung damit die überaus problematische Rechtsauslegung der USA zu eigen machte.

4. Gefährlicher Holzweg: Symptome statt Ursachen

Wie eingangs erwähnt, existieren auch abseits völlig berechtigter ethischer und anti-imperialistischer Erwägungen eine Reihe weiterer Gründe, die gegen den Militäreinsatz und die deutsche Beteiligung daran sprechen. Einige davon sollen im Folgenden zusammengetragen werden.

4.1 Rechtlich unter falscher Flagge

In der Begründung ihrer Luftangriffe am 11. Januar 2024 verweisen die USA ganz explizit auf die einen Tag zuvor verabschiedete UN-Resolution 2722, aus der sie unter Bemühung des Rechts auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta ableiten, ihre Aktionen seien völkerrechtskonform.[31] In der Resolution findet sich zwar tatsächlich der Verweis auf das „Recht der Mitgliedsstaaten […] ihre Schiffe gegen Angriffe, einschließlich solcher, die die Freiheit der Schifffahrt untergraben, zu verteidigen.“ Allerdings wird recht unmissverständlich festgehalten, alle Reaktionen müssten „im Einklang mit dem Völkerrecht“ erfolgen. Weiter wird „Vorsicht und Zurückhaltung gefordert, um eine weitere Eskalation der Lage im Roten Meer und der gesamten Region zu verhindern.“[32]

Mit einiger Sicherheit lässt sich deshalb sagen, dass die wiederholten US-Angriffe an Land davon nicht gedeckt sind. Um aber noch einmal sicher zu gehen, wurde von russischer Seite ein – abgelehnter – Änderungsantrag eingebracht, in dem Moskaus Rechtsauffassung recht klar zum Ausdruck kam: „Herr Nebenzia (Russland) äußerte sein Bedauern darüber, dass der vorgeschlagene Änderungsantrag seiner Delegation nicht angenommen wurde und unterstrich, dass die heutige Resolution keine Handlungen der sogenannten Koalition der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten im Roten Meer legitimiert. Weiter schafft sie kein nicht-existentes staatliches Recht, seine Schiffe vor Angriffen zu verteidigen.“[33] Aus diesem Grund enthielt sich Russland (neben China, Algerien und Mozambique) wohl auch bei der Abstimmung über Resolution 2722 und wiederholte nach den US-Angriffen noch einmal seine Position. So wird der russische Pressesprecher Dmitri Peskow mit den Worten zitiert: „Die Länder, die zugeschlagen haben, haben versucht, sich auf das Völkerrecht zu berufen. Dieser Versuch war erfolglos, da die verabschiedete Resolution kein Recht auf einen Angriff vorsieht.“[34]

Nun mag man völlig zu Recht kritisieren, dass Russland in anderen Fällen einen deutlich anderen Umgang mit dem Völkerrecht pflegt, das tut allerdings nichts zur Sache, dass die in diesem Fall an den Tag legte Argumentation durchaus nachvollziehbar ist. Ausführlich hat sich mit dieser Frage der Völkerrechtler Stefan Talmon im Fachorgan „German Practice in International Law“ beschäftigt. Auf ein Selbstverteidigungsrecht könne sich nicht ernsthaft berufen werden, dies sei nur bei einem Angriff auf US-Kriegsschiffe möglich, was mit großer Sicherheit vor dem Beginn der US-Angriffe nicht geschehen sei. Selbst dann müssten die Reaktionen verhältnismäßig sein, was ebenfalls nicht der Fall sei. Der militärische Schutz von Handelsschiffen, die zudem unter allen erdenklichen Flaggen segeln würden, oder gar noch großangelegte Angriffe auf Stellungen an Land hätten nichts mit dem Selbstverteidigungsrecht zu tun: „Das Recht auf Selbstverteidigung in Artikel 51 der UN-Charta beschränkt sich auf eine Anwendung von Gewalt, die erforderlich und verhältnismäßig ist, um einen ‚bewaffneten Angriff‘ zurückzuschlagen. Es erlaubt keine Anwendung staatlicher Gewalt, um vermeintliche Sicherheits- Wirtschafts- oder andere Interessen zu schützen. Der Schutz von Schifffahrtsrechten und -freiheiten gegen illegale Angriffe […] erlaubt nicht die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung. Es gibt kein Recht zur Selbstverteidigung gegen Angriffe auf Internationale Handelsschiffe.“[35]

4.2 Eskalationsgefahr: Bomben ohne Sinn und Verstand

Verhältnismäßig ist an dem US-Einsatz überhaupt nichts, insbesondere wenn man die reale Gefahr in Rechnung stellt, dass er eine großangelegte Eskalation in der gesamten Region auslösen könnte.

Ein erster Punkt besteht darin, dass das Einsatzziel überhaupt nicht klar ist – geht es darum, die Passage zu ermöglichen, scheint das Agieren vorsichtig formuliert wenig erfolgreich zu sein. War in der ersten Zeit von einer Reduzierung der Suezpassagen um rund 40 Prozent die Rede, ist diese Zahl nach den US-Angriffen auf das Festland auf 80% gestiegen. Das nüchterne Fazit des Instituts für Weltwirtschaft: „Die Streitkräfte der USA und von Großbritannien konnten bislang offenbar nicht für mehr Sicherheit auf der ehemals meistbefahrenen Handelsroute sorgen.“[36] Mit einer fast schon an Realsatire grenzenden Aussage bestätigte US-Präsident Joseph Biden nicht nur diese Einschätzung, sondern auch das kopflose Agieren seines Landes: „Halten sie [die Angriffe an Land] die Huthis auf? Nein. Werden sie weitergehen? Ja.”[37]

Mit Luftschlägen dürften die Huthis tatsächlich nicht zu besiegen sein, schließlich war Saudi-Arabien hierzu selbst mit massivstem Gewalteinsatz zwischen 2015 und 2023 nicht in der Lage. Zwar spricht bislang noch niemand von einem Einsatz von Bodentruppen, sie wären aber ein möglicher nächster Eskalationsschritt. Allerdings solidarisieren schon jetzt zahlreiche Gruppen mit den Huthis (und den Palästinensern) und haben mit Angriffen auf US-Einrichtungen begonnen: „Doch die Spannungen zwischen US-Soldaten und pro-iranischen Milizen schüren Ängste vor einem Mehrfrontenkonflikt im Nahen Osten. Seit Ausbruch des Gazakriegs wurden mehr als 160 Angriffe auf US-Truppen im Irak, in Syrien und Jordanien verzeichnet.“[38] Der bisherige Höhepunkt waren die bereits erwähnten Angriffe auf die US-Stellung „Tower 22“ in Jordanien, bei denen drei US-Soldaten starben. Als US-Reaktion darauf wurden gegen den erklärten Willen der dortigen Regierungen Ziele in Syrien und im Irak bombardiert, bei denen mindestens 34 Menschen, mutmaßlich auch Zivilist*innen, getötet worden sein sollen.[39]

Die Vorgänge im Jemen sind im breiteren Zusammenhang einer selbsternannten „Achse des Widerstands“ zu sehen. Dabei handelt es sich um einen lockeren Zusammenschluss mit dem Iran verbündeter Kräfte, die in den USA und Israel ihre Hauptfeinde sehen. Aus diesem Grund kommt es aus diesen Reihen auch zur Unterstützung der Hamas: „Seit Israel gegen die Hamas im Gaza-Streifen vorgeht, versuchen alle anderen Achsenmitglieder, die Terrororganisation in ihren jeweiligen Ländern zu unterstützen. ‚Außerhalb des Gaza-Streifens werden drei Kampfarenen synchron ausgetragen‘, schreibt Amal Saad von der Universität Cardiff im britischen ‚Guardian‘. Da sei der Krieg der Hisbollah mit Israel, die Angriffe der PMU auf US- und israelische Ziele im Irak, in Syrien und Israel sowie die Angriffe der Huthi auf Frachtschiffe im Roten Meer und gelegentliche Angriffe auf Israel. ‚Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass eine Koalition nicht-staatlicher Akteure einen anderen nicht-staatlichen Akteur, nämlich die Hamas, kollektiv verteidigt‘, erläuterte die Dozentin für Politik und internationale Beziehungen. Außerdem zeichne sich die Achse durch ein hohes Maß an Koordination und gemeinsamer Ideologie aus. Alle Akteure hätten sich ‚einer antiimperialistischen und antizionistischen Agenda verschrieben, in deren Mittelpunkt die palästinensische Sache steht.‘ Saad glaubt nicht, dass sich eine der Gruppierungen von Luftschlägen beeindrucken ließe oder sogar ‚zur Unterwerfung gebombt werden könnte‘.“[40]

So könnten die Entwicklungen im Roten Meer der Vorbote für eine weitaus größere regionale Eskalation darstellen. Im schlimmsten Fall erhalten dabei die Hardliner vor allem in den USA weiter Auftrieb, denen ohnehin seit eh und je jedes Argument recht ist, um für einen Angriff auf den Iran zu werben. Dabei steht es zwar außer Frage, dass die Huthis (und andere regionale Akteure) vom Iran unterstützt werden. Das Ausmaß dessen ist aber unklar und es wäre auch falsch, sämtliche Vorgänge auf Entscheidungen Teherans zurückzuführen: „Die jemenitischen Rebellen sind nicht willfährige Erfüllungsgehilfen oder Stellvertreter des Regimes in Teheran. Ein Blick auf die Geschichte der Bewegung und ihren Aufstieg zeigt, dass die Beziehung zu Iran von einer begrenzten Zweckgemeinschaft zu einer von (auch ideologisch) zunehmender Nähe und – wechselseitigem – großem Nutzen geprägten Waffenbrüderschaft gewachsen ist.“[41]

4.3 Saudi-Arabien: Strategischer Partner?

Spätestens im Zuge des Gaza-Krieges, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht unwesentlich durch eine Kampagne der Rüstungsindustrie „ermuntert“, die Blockade von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien zu beenden, näherten sich Berlin und Riad in jüngster Zeit wieder deutlich an: „Die Bundesregierung rückt von ihrem Nein zur Lieferung von Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien ab. Deutschland werde sich dem britischen Wunsch nach Bau und Lieferung von Eurofighter-Jets an das Königreich nicht weiter ‚entgegenstellen‘, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einem Besuch in Jerusalem. Sie begründete das mit der konstruktiven Rolle Saudi-Arabiens während des Gaza-Kriegs, in dem das Land positiv zu Israel steht.“[42]

Für den ansonsten eher selten im kritischen Lager antreffbaren Markus Kaim von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ handelt es sich dabei um eine mehr oder weniger logische Entwicklung, die mit ASPIDES ihre Fortsetzung findet: „Mit der Beteiligung an einem solchen Einsatz übernähme die Bundesregierung nicht zuletzt die saudische Lesart der regionalen Entwicklungen: Die Huthis hätten sich mit iranischer Unterstützung in den vergangenen Jahren zu einem destabilisierenden Faktor entwickelt, der nicht mehr nur Saudi-Arabien bedrohe, sondern dessen Angriffe sich mittlerweile gegen die internationale Gemeinschaft richteten. Dagegen müsse sich das Land verteidigen, was auch die Unterstützung westlicher Staaten verdiene. […] Riad wird damit vom Paria der deutschen Außenpolitik zum strategischen Partner: Erst Anfang [Januar] hat Außenministerin Baerbock erklärt, dass die Bundesregierung der Lieferung weiterer Eurofighter an Saudi-Arabien entgegen den Festlegungen des Koalitionsvertrages nicht länger im Weg stehen wolle. […] Wer die deutsche Teilnahme an Aspides befürwortet, wird auch diesem Kurswechsel bei Rüstungsexporten zustimmen müssen. Es sind zwei Seiten derselben politischen Medaille.“[43]

4.4 Aspides: Strikte Trennung – rein defensiv?

Ungeachtet der bemühten Versuche, sich ein wenig von den USA und ihren Angriffen abzugrenzen, unterstützten zahlreiche EU-Staaten, darunter auch Deutschland, Washingtons Vorgehen.[44] Und auch mit der vermeintlich strikten Trennung einer „rein defensiven“ ASPIDES-Mission und der offensiv ausgerichteten Prosperity Guardian ist es womöglich nicht so weit her, wie man gerne glauben machen möchte.

Wie der gewöhnlich gut informierte Journalist Thomas Wiegold betonte, reichen die Aufklärungsfähigkeiten zum Beispiel der deutschen Fregatte bis weit ins jemenitische Festland, wobei davon auszugehen sei, dass die so gewonnenen Daten auch den USA zur Verfügung gestellt werden würden: „Während der Einsatz von Waffen der Hessen auf die Abwehr anfliegender Raketen, Marschflugkörper und Drohnen begrenzt bleiben soll, werden die Aufklärungsradare der deutschen Fregatte einen deutlich weiteren Bereich abdecken: Die genannten 400 Kilometer Reichweite erfassen auch Teile des Jemen. Angesichts eines absehbaren Austauschs der Lagebilder auch mit der US-Mission hat der deutsche Einsatz damit voraussichtlich auch Bedeutung über die EU-Operation hinaus.“[45]

Und tatsächlich bestätigt das ASPIDES-Mandat, die enge Zusammenarbeit beider Operationen: „Die EUNAVFOR ASPIDES arbeitet mit der Operation ‚Prosperity Guardian‘, den multinationalen Seestreitkräften und bereitwilligen Staaten, die zur maritimen Sicherheit in ihrem Einsatzgebiet beitragen, zusammen.“[46] Was das bedeutet, erläutert noch einmal Thomas Wiegold: „Allein der Schutz der Handelsschiffe ist zulässig, ein Kampfauftrag ist damit nicht verbunden. Allerdings wird ein sehr weitreichender Datenaustausch mit der US-geführten Operation Prosperity Guardian ausdrücklich festgeschrieben.“[47]

Von einer strikten Trennung beider Einsätze kann also keine Rede sein – und es besteht kaum ein Zweifel, dass dies auch in der Region so gesehen werden dürfte: „Faktisch würde er Aspides als Ergänzung zu den US-geführten Angriffen auf die Huthis betrachtet, die für sich in Anspruch nehmen, in Solidarität mit Gaza zu handeln.”[48]

4.5 Gaza: Der Elefant im Raum

Die Aussagen der Huthis sind recht unmissverständlich: Die Angriffe hören sofort auf, wenn es zu einem Waffenstillstand im Gaza-Streifen kommt – und solange dies nicht der Fall ist, gehen sie weiter und werden womöglich sogar noch ausgeweitet. Vor diesem Hintergrund liegt die Lösung des Konflikts ja eigentlich auf der Hand, wie auch die ehemalige EU-Spitzendiplomatin Nathalie Tocci betont: „Also, wie können die Angriffe gestoppt werden? […] Der einzige Weg besteht darin, […] ihre scheinbare Ursache zu beseitigen: den Krieg in Gaza. Gäbe es einen Waffenstillstand in Gaza, würden die Huthi-Angriffe aller Wahrscheinlichkeit nach enden oder deutlich zurückgehen.“[49]

Dennoch scheint diese Überlegung im gesamten Diskurs kaum eine Rolle zu spielen, was den Verdacht nahelegt, dass die westlichen Staaten Israel weiter weitgehend freie Hand lassen wollen oder zumindest nicht bereit sind, den erforderlichen Druck für einen Waffenstillstand auszuüben. Die Reaktion auf diese Erkenntnis in der arabischen Welt dürfte man sich ausmalen können. Und wenn sich die westlichen Staaten dann auch noch auf das Völkerrecht berufen, um ihre Einsätze zu rechtfertigen, während sie zu den Vorgängen in Gaza weitgehend schweigen, dürfte auch dies mehr als nur Kopfschütteln hervorrufen.

Dies alles führt paradoxerweise dazu, dass die Huthis als Streiter für die palästinensische Sache in der Region stark an Rückhalt gewinnen.[50] Wer aber nun behauptet, das Vorgehen sei allein schon wegen der Gefahren für die Weltwirtschaft alternativlos, befindet sich nicht nur ethisch, sondern auch argumentativ auf dem Holzweg.

5. Hämmer, Nägel und Alternativen

Um es kurz zu machen: Der Weltwirtschaft droht aufgrund der Ereignisse im Roten Meer keineswegs ein Kollaps, die Auswirkungen sind sogar relativ überschaubar. Zwar verlängert sich für Schiffe, die um das Kap der Guten Hoffnung segeln, der Transportweg um rund 6.000 Kilometer, was natürlich Mehrkosten verursacht. Aufgrund der riesigen Kapazitäten und des niedrigen Anteils der Transportkosten an Produktendpreisen[51], fällt dies aber kaum ins Gewicht. „Vor allem die Menge weltweit verschiffter Waren zeigt, dass der Welthandel in keiner Krise steckt, sondern stabil geblieben ist. Zwar können einzelne Firmen unter Lieferverzögerungen leiden, insgesamt sind aber keine Engpässe bei Vorprodukten oder Konsumgütern zu erwarten“, so Julian Hinz vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. „Die Kosten für Fracht sind meist nur ein verschwindend geringer Anteil des Endpreises von so einem Produkt. Weil einfach sehr viele Produkte in so einen Container hineinpassen.“[52]

Es spräche unter diesem Blickwinkel also wirklich überhaupt nichts dagegen, unter Hochdruck an einer Lösung des Gaza-Krieges zu arbeiten und unterdessen einfach das Rote Meer zu umschiffen – doch der Ruf nach militärischen „Lösungen“ ist inzwischen nahezu reflexhaft geworden. Die Warnung, dass wer über einen Hammer verfügt in allen Problemen nur noch Nägel sieht, bewahrheitet sich hier einmal mehr. Allein schon, um nicht in diese Falle zu tappen wäre es wichtig, zu einer kategorischen Ablehnung jeglicher Militäreinsätze zurückzukehren.

Anmerkungen

[1] Ihre Eigenbezeichnung lautet Ansar Allah (Helfer Gottes).

[2] Fast 15 Prozent des internationalen Seehandels nutzt das Rote Meer als Seeweg, darunter 8 Prozent des weltweiten Getreidehandels, 12 Prozent des Erdölhandels zur See und 8 Prozent des globalen Handels mit Flüssigerdgas.“ (Wiegold, Thomas: Rotes Meer: Bundesregierung zu Beteiligung an EU-Mission bereit (Update: Warnung an Huthi-Milizen), augengeradeaus.net, 3.1.2024.

[3] Anne-Linda, Amira Augustin: Der Krieg im Jemen und seine Akteure, Rosa-Luxemburg Stiftung, Juli 2019.

[4] Das Handelsblatt schrieb am 7.2.2024 von 37 Zusammenstößen. Siehe Meiritz, Annett:

Biden droht eine Multi-Fronten-Krise in Nahost, Handelsblatt, 7.2.2024.

[5] Inwieweit diese Aussage zutrifft ließ sich leider nicht verifizieren. Es scheint allerdings nicht so zu sein, dass „nur“ Schiffe mit Israel als Ziel angegriffen würden, sondern auch solche, die einem israelischen Unterstützerstaat zugeordnet werden. Russischen und chinesischen Schiffen wird dagegen seitens der Huthis zum Beispiel explizit eine sichere Passage zugesagt. Siehe Chinesische und russische Schiffe dürfen Rotes Meer passieren, Rheinische Post, 19.1.2024.

[6] Frachtmenge im Roten Meer geht weiter zurück, weniger Schiffe in Hamburg, Institut für Weltwirtschaft, 7.2.2024.

[7]  Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Bahrain, Kanada, Dänemark, Niederlande, Norwegen, Seychellen, Griechenland. Ob gerade die EU-Staaten sich nach Beginn von ASPIDES aus Prosperity Guardian zurückziehen werden, ist unklar.

[8] USA attackieren erneut Huthi im Jemen, tagesschau.de, 4.2.2024

[9] Gros-Verheyde, Nicolas: Faced with Houthi attacks in the Red Sea, a European operation is being planned… (v3), Bruxelles2, 11.1.2024.

[10] Der Großteil der Finanzierung wird auf die teilnehmenden Staaten entfallen, lediglich ein Anteil der gemeinsamen Kosten von 8 Mio. Euro sollen für das erste Jahr der Europäischen Friedensfazilität entnommen werden.

[11] BESCHLUSS (GASP) 2024/583 DES RATES vom 8. Februar 2024 über eine Operation der Europäischen Union der maritimen Sicherheit zur Wahrung der Freiheit der Schifffahrt im Zusammenhang mit der Krise im Roten Meer (EUNAVFOR ASPIDES), Artikel 1(3).

[12] Ebd., Artikel 1(4).

[13] Ebd., Artikel 1(5).

[14] Ebd., Erwägungsgrund 8.

[15] Informal Foreign Affairs Council (Defence): Press remarks by High Representative Josep Borrell at the press conference, EEAS, 31.1.2024.

[16] Abstimmung über Einsatz der Bundeswehr im Roten Meer, Heute im Bundestag, 5.2.2024.

[17] „Im Roten Meer erwarten wir einen schweren Waffengang“, bundeswehr.de, 2.2.2024.

[18] Bundeswehrfregatte »Hessen« Richtung Rotes Meer ausgelaufen, Spiegel Online, 8.2.2024.

[19] Siehe zur fragwürdigen menschenrechtlichen Begründung zB Wagner, Jürgen: Besetzt, geplündert, aufgeteilt: Die NATO im Kosovo, IMI-Analyse 2016/25.

[20] Außerdem gehe es künftig um die „Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft, unseren militärischen Beitrag und vor allem unsere Glaubwürdigkeit als stabile, handlungsfähige Demokratie.“ (Verteidigungspolitische Richtlinien, BMVg, 26.11.1992

[21] Das umstrittene Interview im Wortlaut, Süddeutsche Zeitung, 31.5.2010.

[22] „Freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung sind für die Zukunft Deutschlands und Europas von vitaler Bedeutung. […] Störungen der Transportwege und der Rohstoff- und Warenströme […] stellen eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand dar. Deshalb werden Transport- und Energiesicherheit und damit verbundene Fragen künftig auch für unsere Sicherheit eine wachsende Rolle spielen.“ (Verteidigungspolitische Richtlinien Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, BMVg, 27.11.2011)

[23] „Wenn Deutschland die eigene Lebensweise erhalten und schützen will, muss es sich folglich für eine friedliche und regelbasierte Weltordnung einsetzen; mit allen legitimen Mitteln, die Deutschland zur Verfügung stehen, einschließlich, wo und wenn nötig, den militärischen. […] Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der friedlichen, offenen und freien Weltordnung, die sie möglich macht. Gleichzeitig ist Deutschland aber auch besonders abhängig vom Funktionieren dieser Ordnung. Es ist damit auf besondere Weise verwundbar und anfällig für die Folgen von Störungen im System.“ (Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch, SWP/GMF, September 2013)

[24] Sterben für Bananen, Spiegel Online, 27.6.2013.

[25] Lucas Renz, Lucas: Rohstoffimperialismus, Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik, IMI-Studie 2014/01. Im Handelsblatt wurde damals die BDI-Position folgendermaßen wiedergegeben: „Die Industrie will sich stärker in verteidigungspolitische Debatten einmischen. ‚Ohne Sicherheit gibt es keine florierende deutsche Wirtschaft‘, sagt Dieter Kempf, Präsident des Industrieverbands BDI. […] Gerade eine auch militärische Absicherung von Handelswegen ist aus Industriesicht unabdingbar. Denn hierzulande hängen laut Statistischem Bundesamt 11,4 Millionen Arbeitsplätze – und damit ein Viertel der Beschäftigung – vom Export ab. In der Industrie sind sogar 61 Prozent, also zwei von drei Arbeitsplätzen, vom Außenhandel abhängig. Gleichzeitig haben deutsche Firmen 1,2 Billionen Euro im Ausland investiert. […] Konkret kritisiert BDI-Präsident Kempf dabei, dass Deutschland Ende vergangenen Jahres auf der Bremse stand, als es darum ging, gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich die Durchfahrt für Handelsschiffe in der Straße von Hormus gegen iranische Angriffe zu sichern.“ (Riedel, Donata: BDI-Präsident Dieter Kempf fordert die Bundesregierung auf, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehöre auch, die Exportwirtschaft militärisch zu schützen, Handelsblatt, 14.2.2020)

[26] Masala, Carlo: Kein Blut für Öl? Wirtschaftswoche, 10.8.2019.

[27] Posener, Alan: Feigheit vor dem Volk, Internationale Politik, 1.9.2019.

[28] Mergener, Hans Uwe: Angriffe im Roten Meer: Warnung der internationalen Koalition wird die Huthi-Rebellen wenig beeindrucken, Europäische Sicherheit & Technik, 4.1.2024.

[29] Sobotta, Jerzy: Reeder fordern mehr Schutz für Handelsschiffe im Roten Meer, br.de, 16.12.2023.

[30] Angriffe der Huthi auf Handels­schiffe im Roten Meer – Gemeinsame Erklärung von 10 Ländern, Auswärtiges Amt, Pressemitteilung, 12.1.2024.

[31] Siehe Statement from President Joe Biden on Coalition Strikes in Houthi-Controlled Areas in Yemen, The White House, 11.1.2024.

[32] Resolution 2722 (2024). Adopted by the Security Council at its 9527th meeting, on 10 January 2024. 

[33] Adopting Resolution 2722 (2024) by Recorded Vote, Security Council Demands Houthis Immediately Stop Attacks on Merchant, Commercial Vessels in Red Sea, UN Meetings Coverage and Press Releases,  SC/15561.

[34] Russland verurteilt Luftangriffe im Jemen, tagesschau.de, 13.1.2024.

[35] Stefan Talmon, German Practice in International Law, 23.1.2024.

[36] Frachtmenge im Roten Meer geht weiter zurück, weniger Schiffe in Hamburg, Institut für Weltwirtschaft, 7.2.2024.

[37] Huthi-Miliz greift weiteren US-Frachter an, Süddeutsche Zeitung, 19.1. 2024.

[38] Meiritz, Annett: Biden droht eine Multi-Fronten-Krise in Nahost, Handelsblatt, 7.2.2024.

[39] Biden: Angriffe sind nur der Anfang, taz, 4.2.2024.

[40] Hackensberger, Alfred:  Darum sind die Huthis so ein starker Gegner, Welt, 26.1.2024.

[41] Ehrhardt, Christoph: Wie groß ist Irans Einfluss auf die Huthi-Rebellen wirklich? FAZ, 18.1.2024.

[42] Bundesregierung offen für Kampfjetlieferung an Saudi-Arabien, Zeit, 8.1.2024.

[43] Kaim, Markus: Warum der EU-Einsatz gegen die Huthis problematisch ist, Spiegel Online, 30.1.2024.

[44] Allerdings ist ebenso auffällig, dass sich eine Reihe von eU-Staaten nicht angeschlossen haben: „So hat Frankreich die Erklärung von 34 Staaten vom 24. Januar, die die angloamerikanischen Militärschläge unterstützt, im Gegensatz zu Deutschland nicht unterzeichnet. Spanien erklärte, es habe sich nicht an der Militäraktion im Roten Meer beteiligt, weil es den Frieden in der Region fördern wolle.“ (Ebd.)

[45] Wiegold, Thomas: Rotes Meer: „Hessen“ als Geleitschutz, bewaffnete Kommandos auf Handelsschiffen, augengeradeaus.net, 2.2.2024.

[46] BESCHLUSS (GASP) 2024/583 DES RATES vom 8. Februar 2024, Artikel 6(4).

[47] Wiegold, Thomas: EU-Beschluss zur Marinemission im Roten Meer formal festgezurrt, augengeradeaus.net, 12.2.2024.

[48] Tocci, Nathalie: Red Sea: Time to treat the cause, not the symptom, Politico, 16.1.2024.“

[49] Ebd.

[50] Burden, Richard: War on Gaza: The West’s military action against the Houthis is doomed to fail, middleasteye.net, 13.1.2024.

[51] „Bei einem T-Shirt oder einem Kühlschrank aus asiatischer Fertigung wird der Preis sich allein wegen des aufwendigeren Transports kaum verteuern. Dafür ist der Anteil der Transportkosten an derartigen Produkten zu gering. Als Anhaltspunkt gilt, dass der Seetransport einer Ware zwischen Asien und Europa etwa drei Prozent des Verkaufspreises ausmacht.“ (Birger, Nicolai: Das bedeuten die Angriffe am Roten Meer für Wirtschaft und Verbraucher, Welt, 17.1.2024)

[52] Frachtmenge im Roten Meer geht weiter zurück, weniger Schiffe in Hamburg, Institut für Weltwirtschaft, 7.2.2024.