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Turbulent wie ein Wüstensturm

Jahresrückblick Niger 2023: Unerwarteter Putsch, Sanktionen, Abkehr von der EU und vom Migrationsregime

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 8. Januar 2024

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(Dieser Jahresrückblick des Nigers erschien zuerst am 3. Januar 2024 in der Tageszeitung junge Welt)

Trügerisch sind die Sanddünen in der Sahara. Sie sehen allzugleich aus, und obwohl sie dem Betrachter wie feste Hügel in der Landschaft erscheinen, wandern sie mit dem Wind. Kein Wunder, dass dort jedes Jahr Tausende Menschen desorientiert ihr Leben lassen, laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund doppelt so viele, wie jährlich im Mittelmeer sterben. Niger ist ein Hauptschauplatz dieses Geschehens.

Im Norden an Libyen und Algerien grenzend, zwei der wichtigsten Startpunkte für Überfahrten übers Mittelmeer, und im Westen und Süden an die Konfliktgegenden Malis, Burkina Fasos und Nigerias, ist das Land ein Knotenpunkt der Fluchtrouten. Niger nimmt auch jährlich Tausende abgeschobene nigrische Migranten aus Algerien zurück, die auf Lkw in der nördlichsten Großstadt Agadez ankommen. Doch Algerien schiebt auch Menschen aus anderen subsaharischen, aber auch nichtafrikanischen Ländern wie Afghanistan oder Syrien nach Niger ab. Diese werden teilweise ohne Überprüfung ihres Aufenthaltsstatus in Algerien abgefangen, auf Trucks an den sogenannten Point Zero, einen Grenzpfosten an der nigrischen Grenze, gebracht und dort ausgesetzt. Pässe, Telefone und andere Wertsachen werden ihnen abgenommen, viele erfahren körperliche Gewalt. Dann müssen sie den rund 20 Kilometer langen unmarkierten Weg durch die Wüste in das erste nigrische Dorf Assamaka finden. Viele schaffen es nicht.

Liebling des Westens

Doch nicht nur Rückkehrer gehen in den Dünen verloren. Seit die nigrische Regierung 2015 ein von der EU gefordertes Gesetz verabschiedete, das unter Strafe stellt, Personen mit ungeklärtem oder ohne Aufenthaltsstatus zu transportieren, beherbergen oder zu bewirten, mussten sich nach Norden Reisende fernab der großen Straßen bewegen. Dadurch liefen sie Gefahr, ausgeraubt zu werden, Schmugglern ausgeliefert zu sein oder sich in der Wüste zu verirren. Auch die nigrische Bevölkerung litt darunter. Große Teile Nigers sind von Wüste bedeckt, und die Bevölkerung lebt vom Transport von Waren und Menschen und der Infrastruktur für Reisende. Doch die Regierung profitierte von der Zusammenarbeit mit der EU. Die Polizeiausbildungsmission der EU im Niger (Eucap Niger) erweiterte 2015 ihr seit 2012 bestehendes Antiterrormandat um die Migrationsbekämpfung. Anscheinend war Brüssel hier besonders motiviert. Von den 19 Projekten, die zwischen 2015 und 2022 mit 687 Millionen Euro von der EU finanziert wurden, zielten 13 auf verbesserte Grenzkontrollen und Gesetzesvollstreckung. Von 561 Millionen Euro Entwicklungshilfe aus Deutschland (in denselben sieben Jahren) flossen mehr als 30 Prozent in Migration betreffende Projekte. Niger stellte sich somit der EU für Pilotprojekte zur Verfügung, Migrationsbewegungen nicht nur so früh wie möglich zu stoppen, sondern gar umzukehren.

So richtig der Liebling des Westens wurde das Land jedoch nach den jeweils zwei Putschen in Mali 2020/2021 und in Burkina Faso 2022. Die Protagonisten der Staatsstreiche 2020 in Mali und Anfang 2022 in Burkina Faso hatten sich noch positiv zu den internationalen Militäreinsätzen in der Region verhalten und wurden daher sehr nachsichtig mit Sanktionen belegt, die meisten Zahlungen und Kooperationen gingen weiter. Im Mai 2021 putschten die malischen Militärs um Oberst Assimi Goïta jedoch erneut und änderten ihre Ausrichtung. Sie begannen mit Russland zu kooperieren und forderten Frankreich und andere Länder zum Abzug ihrer Truppen auf. In Burkina Faso zog im Oktober 2022 eine Gruppe von Offizieren um Hauptmann Ibrahim Traoré nach und beseitigte den profranzösischen Übergangspräsidenten Paul-Henri Damiba, der sich nur sechs Monate an der Macht halten konnte. Somit galt Niger als das letzte demokratisch regierte Land der vom Islamismus heimgesuchten französischsprachigen Sahelstaaten und avancierte glatt zum »Stabilitätsanker« und zur »funktionierenden Demokratie«. Erst im März vergangenen Jahres wurde das Land dafür mit einem Besuch von US-Außenminister Antony Blinken geadelt, der höchstrangigen Visite aus den USA seit Jahren. Dieser brachte wahrscheinlich auch die Mittel mit, die zur Befreiung eines US-amerikanischen Entwicklungshelfers und eines französischen Journalisten führten, die jahrelang von Islamisten festgehalten worden waren. Das schien der Weltöffentlichkeit erneut die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Niger zu zeigen.

Embargo beendet

Im Gegensatz zum langjährigen Antiterroreinsatz des Westens in Mali, der den Konflikt dort nicht einzudämmen vermochte, konnten die nigrischen Einsatzkräfte mit ihrer internationalen Unterstützung die Sicherheitslage im Land durchaus verbessern. Deswegen ist die Behauptung des Befehlshabers der Präsidialgarde, General Abdourahmane Tchiani, der Putsch am 26. Juli sei »aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage« erfolgt, nicht sehr glaubhaft. Abstiegsängste dürften ihn wohl eher motiviert haben. Der gestürzte Präsident Mohammed Bazoum hatte schon verschiedene Generäle abgesetzt, auch Tchiani sollte offensichtlich ausgewechselt werden. Trotzdem konnten die Putschisten auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung verweisen.

Ihre Unterstützer kamen mehrfach zu Tausenden auf die Straße und vandalisierten unter anderem den Eingangsbereich der französischen Botschaft. Die Zahl der Teilnehmer an den Demonstrationen wuchs noch, als die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) mit dem Rückhalt Frankreichs und anderer EU-Staaten drohte, die verfassungsmäßige Ordnung notfalls mit Gewalt wiederherzustellen, also einer Militärintervention. Neben Teilen der Bevölkerung, die sich zu Zehntausenden in einem Stadion einfanden, um zusammen mit den Generälen die letzten Sekunden des Ablaufens des Ultimatums der ECOWAS herunterzuzählen, stellten sich auch die beiden ebenfalls von Putschisten regierten Nachbarländer Burkina Faso und Mali hinter Niger. Im September schlossen sich alle drei zu einer Sahelallianz zusammen.

Aufgrund der besonders harten Sanktionen war Niger auf die beiden Nachbarn angewiesen. Die ECOWAS hatte alle Grenzen zu dem Land geschlossen, ohne – wie im Falle Malis – Ausnahmen für Lebensmittel und Medikamente zu gewähren. Die antikolonialen Ressentiments wuchsen mit der Vehemenz, mit der sich europäische Regierungen und besonders Paris hinter eine mögliche Intervention stellten. Unter dem Druck von Russland-Fahnen schwenkenden Demonstranten stehend, war es für Tchiani wohl ratsam, die Militärkooperation mit Frankreich zu beenden. In der Armee hatte es zwar auch Unzufriedenheit über Umfang und Art dieser »Kooperation« gegeben, doch Tchiani ist deswegen nicht unbedingt antikolonial. Zumal Frankreich als exklusiver Abnehmer des größten Exportprodukts Uran und damit bedeutendster Handelspartner in diesem Bereich nicht einfach ersetzt werden kann.

Doch Tchiani ist bereit, seine neue Regierung zu verteidigen. Vorstöße wie der des EU-Parlaments, das forderte, Niger mit Sanktionen zu belegen, wurden prompt beantwortet. Etwa im November mit der Aufhebung des Gesetzes, das Dienstleistungen für undokumentierte Schutzsuchende illegalisierte. Das lindert nicht nur das Leiden Geflüchteter und ärgert die EU, es schafft auch Einkommen in Gegenden mit grassierender Arbeitslosigkeit. Und das ist dringend nötig. Denn die sanktionsbedingte Inflation hat die Menschen hart getroffen, in einem Land, das regelmäßig den letzten Platz im Human Development Index der UNO belegt. Doch es gibt einen Lichtblick. Zum Jahreswechsel beendete das Nachbarland Benin de facto die Sanktionspolitik gegenüber Niger. Die Gefahr einer Militärintervention scheint gebannt.