IMI-Standpunkt 2023/051 - in: Ausdruck Dezember 2023

Verzerrte Berichterstattung und Meinungsbildung

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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Meine These ist, dass die meisten Menschen in Deutschland relativ schlecht über den Verlauf des Krieges in der Ukraine informiert sind, obwohl sie nahezu täglich Berichterstattung über den Krieg verfolgen oder aufgetischt bekommen. Das Angebot der öffentlich-rechtlichen Sender wurde nach dem russischen Einmarsch sehr schnell massiv ausgeweitet: „Liveblogs“ im Internet, eigene, ganz oben gelistete Sonderrubriken in den Mediatheken, kaum eine Sendung in den ersten Monaten im Deutschlandfunk, die nicht irgendwie Russland und die Ukraine zum Thema hatte und dabei unterschwellig Freund-Feind-Schemata reproduzierte. Offenbar tut man sich angesichts des Krieges auch im Bereich von Wissenschaft, Kultur oder Religion schwer, irgendetwas Gutes über Russland oder irgendetwas Schlechtes über die Ukraine zu sagen oder zu schreiben. Alltäglich wurden Erfolgsmeldungen der einen und manchmal auch der anderen Seite wiedergegeben, gelegentlich mit dem Hinweis, diese könnten nicht bestätigt werden. Als eine Art Schiedsrichter wird häufig der britische Geheimdienst zitiert, der mit seinen täglichen, knappen Berichten Agenda-Setting in Reinform betreibt. Ähnliches gilt für verschiedene regierungsnahe westliche Thinktanks und auch für einige Wissenschaftler*innen. Vermittelt werden einige Informationen, v.a. aber Emotionen und Siegesgewissheit.

Selbstzensur

Dabei lässt sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ein Ausmaß an Selbstzensur der Leitmedien beobachten, das in einer demokratischen Gesellschaft mit freien Medien schwer nachzuvollziehen ist. Besonders drastisch ist dies etwa im Hinblick auf die Opferzahlen, v.a. im ukrainischen Militär. Die ukrainische Regierung hat die Veröffentlichung entsprechender Schätzungen untersagt – und die hiesigen Medien verzichten freiwillig darauf. Wie aber sollen Verlauf und Aussichten eines Krieges – eines Abnutzungskrieges insbesondere – eingeschätzt werden, wenn es kaum valide Einschätzungen über die Verluste auf beiden Seiten gibt?

Etwas subtiler zeigt sich die Selbstzensur an ausbleibenden Berichten über Vorteile oder „Erfolge“ der russischen Truppen. Sofern es diese überhaupt gibt, werden sie stets relativiert. Einer der Momente im Kriegsverlauf, der hierzulande am meisten Aufmerksamkeit erhalten hat, war die monatelange und verlustreiche Schlacht um Bachmut. Diese hat letztlich das russische Militär mit umfangreicher Unterstützung der Wagner Gruppe – wie hierzulande jede*r weiß – für sich entschieden. Vergleichbar intensiv wie die Rolle von Wagner wurde in Deutschland jedoch kommuniziert, dass Bachmut strategisch weitgehend unbedeutend sei und die Verluste auf russischer Seite in keinem Verhältnis zur Eroberung der Stadt standen. Während der monatelang angekündigten und mit absurden Erwartungen aufgeladenen Frühjahrsoffensive – die dann eher eine gescheiterte Sommeroffensive war – wurde über jede einzelne von ukrainischen Truppen eingenommene oder befreite Siedlung berichtet, ohne dass deren strategische Lage oder die damit verbundenen Verluste in Frage gestellt wurden. Über das Ende – vielleicht gar Scheitern – dieser Offensive und seine Folgen wurde lange nicht diskutiert; stattdessen wurden gleich wieder Erwartungen an die nächste ukrainische Großoffensive aufgebaut.

Zweifellos wurden mittlerweile auch einige Waffensysteme durch Russland zerstört, welche die NATO-Verbündeten geliefert haben und die bereits im Vorfeld als vermeintliche Game-Changer aufgebaut wurden. Das gilt u.a. für die Leopard-Panzer, bei denen schon vor der Lieferung darüber gesprochen wurde, wie Russland mit den Bildern ihrer Zerstörung Propaganda betreiben werde. Entsprechend wurden diese Bilder auch nicht gesendet und – anders als in der US-Presse – auch fast nur dann berichtet, wenn es sich offenbar um Fälschungen handelte. Monatelang wurde zuvor über die ein- bis zweistelligen Zahlen von Leopard-Panzern aus diesem oder jenem Land geschrieben und gestritten, Militärexpert*innen träumten davon, wie sie den ukrainischen Durchbruch zum Asowschen Meer beflügeln könnten. Eine ehrliche Bilanz darüber, wie sich die Panzer bewährt haben und wie viele noch einsatzfähig sind, sucht man in der Presse hingegen vergeblich.

Die freiwillige Selbstverpflichtung führender Medien, keine Informationen zu veröffentlichen, die „Putins Propaganda in die Hände spielen“, führt freilich zu einem verzerrten Bild des Kriegsverlaufs und erschwert es der Öffentlichkeit, sich ein Bild über die Sinnhaftigkeit und Ziele der westlichen Unterstützung zu machen. Sie umfasst allerdings bemerkenswerterweise nicht alle Themen. Ein Bereich, in dem sie deutlich weniger stattfand, war die Rekrutierung ukrainischer Männer und deren Versuche, sich zu entziehen. So wurde bei tagesschau.de unter anderem über einen Telegram-Kanal berichtet, mit dem sich Wehrpflichtige über die Präsenz von Soldaten informierten, die im öffentlichen Raum Männer kontrollieren und einziehen. Später wurde dort u.a. auch berichtet, dass die Ukraine Drohnen einsetze, um die Grenzen zu überwachen und dass auch Menschen bei dem Versuch ums Leben kamen, heimlich vor dem Militärdienst ins Ausland zu fliehen.

Einseitiges Hinterfragen

Während russische Angaben – ganz zurecht – und vermeintliche „pro-russische Narrative“ nicht nur hinterfragt, sondern häufig penibel überprüft und oft bemüht widerlegt werden, fand dies für Darstellungen und Narrative der ukrainischen Regierung oder deutscher Politiker sehr selten statt. Schwer erklärbar ist etwa, wie z.B. Marie-Agnes Strack-Zimmermann in ihrer Rolle als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und „Verteidigungsexpertin“ der FDP politisch überleben konnte, nachdem sie über Monate wiederholt davor warnte, dass die russische Armee bald „vor Berlin“ stehe, wenn man ihr nicht in der Ukraine Paroli biete. Beflügelt vom ausbleibenden Widerspruch zu hanebüchenen Aussagen zur besten Sendezeit ließ sie sich später sogar dazu hinreißen, zu behaupten, es sei kein Zufall, dass das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ausgerechnet an Putins Geburtstag stattgefunden habe. Wer solche Leute interviewt und zu Talkshows einlädt, ohne sie vorzuführen, muss wissen, dass er oder sie sich damit an der Verbreitung von Fake-News und Verschwörungserzählungen beteiligt.

Der fehlende Widerspruch gegen Aussagen von Politiker*innen ist hier Ausdruck einer fehlenden Ausdifferenzierung der Funktionen von Politik, Medien und auch der Wissenschaft, wenn es um eine gemeinsame Sache geht, in diesem Falle die „Solidarität mit der Ukraine“. Für führende Außenpolitiker*innen mag es legitim oder völkerrechtlich fast schon geboten sein, sich zur territorialen Integrität der Ukraine zu bekennen und die Rückeroberung der Krim als wünschenswert, vielleicht sogar als realistisch darzustellen. Wenn dann jedoch Medien und die Wissenschaft (in Form vermeintlicher, selektiv ausgewählter Expert*innen) nicht darauf hinweisen, wie unwahrscheinlich solche Vorstellungen sind und welches Eskalationspotential damit verbunden sein kann, entsteht eine allgemeine Erwartungshaltung, welche schwer mit der Realität vereinbar und damit hochgefährlich ist. Im Gegenteil haben die Medien hier massiv dazu beigetragen, entsprechende Positionen wie auch die Warnung vor einer militärischen Eskalation zu tabuisieren und ihre Träger*innen zu diffamieren. Mehr noch als die Rückeroberung der Krim wurde das Lippenbekenntnis, dass nur „die Ukraine“ (gemeint war natürlich die amtierende Regierung) darüber entscheide, wann Verhandlungen geführt und der Krieg enden solle, zur unhinterfragten Wahrheit. Auch hier spielten die Leitmedien tw. Eine aktive Rolle dabei, jene anzuklagen, die das Offensichtliche aussprachen: Die Rolle der USA und ihrer NATO-Verbündeten.

Die „Solidarität mit der Ukraine“ führte auch dazu, dass Darstellungen und Berichte der ukrainischen Regierung zwar gelegentlich mit dem Hinweis versehen wurden, sie seien nicht überprüfbar, dies aber auch gar nicht erst versucht wurde. In Wahrheit wären etwa die täglichen Berichte über russische Angriffe auf (vermeintlich) zivile Ziele und zivile Opfer zumindest in Einzelfällen durchaus überprüfbar. In einigen Fällen gab es durchaus Hinweise, dass die Angriffe militärisch genutzten Zielen gegolten und diese auch getroffen haben. Die fehlende Plausibilität der Annahme, dass Russland lieber Schulen als Militärdepots mit Distanzwaffen angreift, mag der Öffentlichkeit zunächst durchaus bewusst gewesen sein, weicht aber durch die tägliche, unhinterfragte Kommunikation entsprechender Meldungen der oft genau so formulierten Wahrnehmung, „dass die russischen Truppen gezielt Zivilisten angreifen“. Das mag in vielen Fällen zutreffen, als Gesamtstrategie erscheint es wenig plausibel. Die Frage aber nach Plausibilität wurde in den Medien ohnehin wenig gestellt und durch die Verknüpfung zweier Annahmen ausgehebelt: Dass einerseits Putin persönlich und von der Spitze alles anordne und Putin persönlich schlicht irrational handle. Das gilt auch für Großereignisse wie die Sprengung der Nord Stream Pipelines und die Zerstörung des Staudamms bei Cherson. In vielen Fällen stand die Intensität der Berichterstattung und die Bestimmtheit der frühen Schuldzuweisungen in keinem Verhältnis zum anschließenden Interesse an einer Aufklärung.

Auch beim einseitigen Hinterfragen gab es einige Bereiche, die nicht oder weniger betroffen waren. Dies gilt u.a. für die Relevanz extrem rechter und faschistischer Kräfte in der ukrainischen Politik und dem Militär. Obwohl der „Nazismus“ der Ukraine ein zentrales Element der russischen Propaganda darstellt, schafften es entsprechende Berichte und vereinzelt auch eigene Recherchen teilweise in die Schlagzeilen und Nachrichtensendungen. Wenn sie auch insgesamt relativierend ausfielen und nicht verhinderten, dass der Bandera-Anhänger Melnyk zum Medienliebling wurde, so ist das doch eine bemerkenswerte Ausnahme angesichts der ansonsten fast vollständigen Zurückhaltung mit Kritik an der ukrainischen Führung und ihrem Militär.

Eigene Agenda bei Waffenlieferungen

Während in einigen Bereichen die funktionelle Ausdifferenzierung zwischen Politik und Medien ausblieb, ließ sie sich in anderen Bereichen durchaus beobachten, wenn auch vielleicht anders, als erwartet. Bei der Frage der eskalierenden Waffenlieferungen, welche ebenfalls über Monate nahezu täglich Thema der Berichterstattung war und die Anfang Oktober 2023 unerklärlich abrupt endete, schienen die Medien weniger als unkritischer Vermittler der Bundesregierung, denn als aktiver Verstärker der ukrainischen Forderungen nach immer mehr und immer schwereren Waffen zu fungieren. Entsprechende Forderungen aus der Ukraine, von Vertreter*innen der Opposition und auch der Regierung wurden in den Berichterstattungen und Talkshows massiv verstärkt und vorangetrieben. Politiker*innen auch aus der dritten Reihe konnten sich sicher sein, es in die Nachrichten zu schaffen, wenn sie mit ihren Forderungen noch einen Schritt weiter gingen oder besonders vehement die vermeintliche Zurückhaltung der Bundesregierung, insbesondere des Bundeskanzlers, kritisierten. Diese Forderungen, die oft von dezidiert fachfremdem Personal erhoben wurden, waren mitunter, insbesondere im Hinblick auf Verfügbarkeit und Geschwindigkeit in der Umsetzung, völlig unrealistisch. Jedes Zögern und Prüfen, jede Erwägung möglicher Konsequenzen wurde in den Leitartikeln und Talkshows in großen Worten als Hinhalten und Unentschlossenheit verurteilt, als Verrat an der „Solidarität mit der Ukraine“, oft unwidersprochen als Infragestellung des „Selbstverteidigungsrechtes der Ukraine“ – eine völlig bodenlose Verdrehung eines völkerrechtlichen Begriffs, hieraus eine Verpflichtung zu Waffenlieferungen ableiten zu wollen.

Erstaunlich war die Gleichzeitigkeit dieses Diskurses mit der ebenfalls vehementen Verstärkung der Behauptung, dass die Bundeswehr angeblich „blank“ dastehe und nur „bedingt verteidigungsfähig“ sei. In Kombination mit der anhaltenden Kritik daran, dass die Waffenkäufe aus dem Sondervermögen zu langsam umgesetzt würden, lassen sie sich zusammengenommen allerdings mit einem sehr grundlegenden Unverständnis für Rüstungs- und Militärfragen begründen. Das zeigt sich auch in der weitgehenden Ignoranz gegenüber Fragen der Planung, Ausbildung und Betriebssicherheit bezüglich der Waffenlieferungen. Aber Sachkenntnis ist im Aufrüstungswahn offensichtlich weniger gefragt als laute Töne und harsche Worte.

Die selektive Verstärkung jener, die mehr Waffen fordern und liefern, ließ sich auch sehr gut an der Berichterstattung über die Verbündeten beobachten. Immer wieder kam der Vorwurf auf, Deutschland würde sich international isolieren, wenn es nicht auch dieses oder jenes Waffensystem liefere. Dann wurden andere Staaten, die vielleicht insgesamt viel weniger lieferten, hervorgehoben, wenn sie das entsprechende Waffensystem bereitstellten, während Regierungen, die gar nichts oder weniger lieferten, insgesamt zurückhaltender agierten, aus der Wahrnehmung verschwanden. Das galt auch für den vermeintlich engsten Partner Deutschlands in der EU. Die zwischenzeitliche Zurückhaltung Frankreichs wurde hier kaum kommuniziert, während jede Ankündigung Macrons von weiteren Waffenlieferungen eine Schlagzeile wert war. Als er Anfang Januar 2023 die Lieferung von Spähpanzern an die Ukraine zusagte, titelten verschiedene ARD-Medien übereinstimmend „Frankreich legt vor“ und zitierten verschiedene Politiker*innen, welche nun einen Zugzwang zur Lieferung von Leopard-Panzern behaupteten und damit produzierten. Mit dabei war natürlich Strack-Zimmermann, der als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses die Unterschiede zwischen den betreffenden leichten Radpanzern Frankreichs und den geforderten schweren Kampfpanzern aus Deutschland durchaus bewusst sein dürften.

Die Positionierung und tw. aktive Rolle der Leitmedien in der Diskussion um Waffenlieferungen ließ sich zuletzt in der Debatte um die Marschflugkörper Taurus nachvollziehen. Hier wurde wiederholt und meist unwidersprochen behauptet, Frankreich und Großbritannien hätten mit Storm Shadow bzw. Scalp ohne Bedenken Waffen mit denselben Fähigkeiten geliefert. Allerdings unterscheidet sich deren grundsätzliche Reichweite bereits und vieles spricht dafür, dass auch Frankreich und Großbritannien Varianten mit verringerter Reichweite geliefert haben – eine Überlegung, für die Scholz hierzulande heftig kritisiert wurde. Was für Varianten Frankreich und Großbritannien tatsächlich geliefert haben, lässt sich der Presse und den anderen Qualitätsmedien nicht entnehmen. In der Berichterstattung zählt eben mehr das schnelle Argument als Recherche und sachliche Richtigkeit. Noch etwas lässt sich an der Taurus-Debatte gut nachvollziehen: Offenbar hat sich die Regierung später bemüht, jede Äußerung in dieser Sache mit der (zutreffenden) Aussage zu verbinden, dass Deutschland in absoluten Zahlen nach den USA „zweitgrößter Unterstützer der Ukraine weltweit“ sei. Viele Medien zitierten das – manchmal spürbar widerwillig – um gleich darauf wieder mit Hinweis auf Frankreich und Großbritannien einen Zugzwang zu konstruieren.

Differenzierung in der Kritik

Natürlich gibt es zu fast allem hier beschriebenen Ausnahmen in einer nun seit über anderthalb Jahren lebhaft, aber nicht besonders vielseitig geführten Debatte. Nach meinem persönlichen Eindruck jedoch finden sich Ausnahmen vor allem in den Randzonen der Leitmedien, der lokalen Berichterstattung und klassischen Medien mit geringerer Reichweite, den sogenannten „Käseblättern“. So waren die Mantelteile der Zeitungen während der Ostermärsche 2022 von den Diffamierungen der Spitzenpolitiker*innen auf Bundes- und Landesebene und entsprechenden Leitartikeln und Kommentaren geprägt, während im Lokalteil oft sachlich und teilweise fast euphorisch über die konkreten Ostermärsche berichtet wurde. Jenseits der Redaktionen für Außenpolitik erschienen im Lokalteil auch ansonsten oft wohlwollende Berichte über Veranstaltungen der Friedensbewegung mit ganz anderen Inhalten und Sichtweisen oder aber Berichte über Geflüchtete aus der Ukraine, die einfach nur hofften, dass der Krieg bald zu Ende ist. Da konnte auch mal gesagt werden, dass die Krim wahrscheinlich für die Ukraine verloren ist und da durfte auch mal jemand seine Angst vor einem Atomkrieg äußern. Das Problem ist also ganz offensichtlich nicht im Berufsstand der Journalist*innen zu suchen, sondern irgendwo anders im Gesamtsystem der (Leit-)Medien. Dieses Gesamtsystem allerdings hat einen Krieg befeuert, in dem zehntausende Menschen schon gestorben sind. Denn Waffen töten Menschen – das ging in den vergangenen Monaten oft unter.