IMI-Analyse 2023/53 - in: Ausdruck Dezember 2023

Feindbild China

Eine Bestandsaufnahme

von: Renate Dillmann | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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China hat hierzulande keine gute Presse: Uiguren, Hongkong, Überwachungsstaat, Taiwan. Das Land wurde zwar auch schon früher durchweg misstrauisch beäugt. In den Mao-Zeiten galt es als „gelbe Gefahr“ und seine Einwohner firmierten als „blaue Ameisen“ – was heute vielleicht als politisch unkorrekt gelten würde. Die Wende der kommunistischen Staatspartei hin zu Öffnung und Kapitalismus wurde dann im Westen erleichtert bis euphorisch begrüßt. Deutsche Unternehmer und Politiker waren ganz vorne dabei, als es darum ging, Beziehungen zu knüpfen und erste Joint Ventures zu gründen.

Kaum aber stellte sich heraus, dass an diesen Geschäften auch chinesische Firmen verdienten und sich zu weltmarktfähigen Konkurrenten entwickelten, kaum wurde deutlich, dass Chinas Regierung sich keineswegs so behandeln ließ, wie man es von anderen „Dritte-Welt-Staaten“ gewohnt war, gingen die Beschwerden los. Und aktuell vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein neues Thema gewählt wird, um China gegenüber der Weltöffentlichkeit ins moralische Abseits zu stellen.

Deutscher Blick auf China

Zunächst – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ein Blick auf die Titel einiger Veröffentlichungen zu China in den vergangenen 20 Jahren: „China – eine Weltmacht kehrt zurück“ (Konrad Seitz 2000), „Herausforderung China“ (Wolfgang Hirn 2005), „Das asiatische Jahrhundert“ (Karl Pilny 2005), „Globale Rivalen – Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens“ (Eberhard Sandschneider 2007) und dazu die zeitweise im Jahresrhythmus veröffentlichten Bücher des Handelsblatt-Journalisten Frank Sieren wie zum Beispiel „Der China-Schock: Wie Peking sich die Welt gefügig macht“ (2008) bzw. „Zukunft? China!“ (2018). Weiter: „Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet“ (Matthias Naß 2021), „Chinas Griff nach dem Westen“ (Geinitz 2022), „China First“ (Sommer 2019), „Lautlose Eroberung“ (Hamilton/Ohlberg 2020), „Ende der China-Illusion“ (Oertel 2023), „Die dreckige Seidenstraße“ (Mattheis 2023). Insgesamt eine wirklich fast endlose Reihe mit der immer gleichen Fragestellung.

Was bedeutet das „neue China“ für Deutschland und seine Erfolge auf dem Weltmarkt bzw. in der Staatenkonkurrenz? Das ist die offenbar selbstverständliche Fragestellung, mit der sich deutsche Wissenschaftler und ihre populären Dolmetscher einer „Länderanalyse“ zuwenden. Diese Wahrnehmung Chinas als neuer und mächtiger Konkurrenz bringt einerseits durchaus eine gewisse Hochachtung hervor. Doch zugleich verraten bestimmte Vokabeln die vorherrschende Sorge: „Herausforderung“, „unberechenbar“, „Bedrohung“, „Schock“. Das ist aufschlussreich. Offensichtlich ist es nicht so, dass sich der Rest der Staatenwelt und mit ihm seine Völker unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen.

Erinnern wir uns einmal kurz an die seit den siebziger Jahren gern propagierte Vorstellung von den „Entwicklungsländern“. Die sah bekanntlich so aus, dass sich die aus dem Kolonialismus entlassenen bzw. befreiten Staaten in den Weltmarkt integrieren sollten, um sich dort – mit Unterstützung der erfolgreichen westlichen Nationen – „zu entwickeln“, mit dem Versprechen, ökonomisch und politisch zu ihnen aufzuschließen. Und gerade vom maoistischen China – dem weltgrößten „Entwicklungsland“ – hatte der Westen jahrzehntelang verlangt, es solle von seinen sozialistisch-spinösen Ideen lassen. Jetzt, da sich das Land zum Kapitalismus gewendet hat und nach den Kriterien dieser ihm immerzu ans Herz gelegten Produktionsweise offenbar ziemlich vieles richtig macht und entsprechende Erfolge feiert; jetzt, da man es im Westen mit einem (dem einzigen!) „Entwicklungsland“ zu tun bekommt, das tatsächlich ökonomisch aufgeholt hat und den Nutznießern dieser Weltordnung auf Augenhöhe gegenübertritt – wie sieht die Reaktion aus?

Einerseits will man dem Erfolg, den dieses Land vorzuweisen hat, seinen Respekt nicht ganz versagen; andererseits bezweifelt man allerdings sehr entschieden, dass er mit rechten Dingen zustande gekommen ist. Der Produktivitätsfortschritt, der Chinas Weltmarkterfolge möglich macht, beruht, glaubt man unseren Journalisten, zum großen Teil auf Industriespionage und – man höre und staune! – purer Ausbeutung (von Mensch und Natur). Die Waren, mit denen das Land seine Devisen einheimst, sind nach allen Regeln der Kunst kopiert, gefälscht und vielleicht sogar vergiftet – natürlich nur in China! Die Geschäftsmöglichkeiten, die das Land unseren Unternehmen bietet, sind so gestrickt, dass die chinesischen Partner stets viel besser dabei wegkommen. Auf Dauer haben sich die chinesischen Kapitalisten so nicht nur ihren heimischen Markt gesichert (dessen Eroberung „wir“ offenbar fest für „uns“ verbucht hatten), sondern kommen uns jetzt auf allen Märkten dieser Welt in die Quere (was offensichtlich nicht in Ordnung ist, da „unser“ Besitzstand!).

Allgemein zielen diese Berichte auf das eine Urteil: Chinas Aufstieg ist mit unlauteren Mitteln zustande gekommen. Seine Geschäftsleute agieren nicht kapitalistisch, sondern – es folgen bedeutsame Differenzierungen – „brutal“, „früh“- oder wahlweise auch „staatskapitalistisch“. Zu solchen Formulierungen greift, wer das Prinzip aus gutem Grund ungeschoren lassen, aber einen Vorbehalt gegen den vorbringen will, der es erfolgreich anwendet.

Vor allem aber wendet sich die deutsche Presse mit viel Ärger gegen den chinesischen Staat und die Führung seiner Kommunistischen Partei (KP). Zwar ist klar, dass man es einzig und allein dieser KP zu verdanken hat, dass die westlichen Geschäftsleute und Staaten mit China einen für sie inzwischen unverzichtbaren Zuwachs ihres Weltgeschäfts bekommen haben. Das hindert aber kaum einen westlichen Journalisten, genau in dieser KP ein eigentlich unerträgliches Hindernis zu sehen und sie dauernd zu attackieren – und das sicher ein ganzes Stück fundamentalistischer als diejenigen, die tatsächlich ganz praktisch Geschäfte in China machen oder mit der Regierung in Beijing zu verhandeln haben. Mit süffisantem Unterton kreidet man der chinesischen „Kommunistischen Partei“ an, dass es in ihrem Land schlimmste Ausbeutung, Korruption und soziale Missstände aller Art gibt – das wird von denselben Leuten notiert, die hier tagtäglich dem Volk vorhalten, dass sein Lebensstandard zu hoch, seine (Lebens-)Arbeitszeit zu kurz und überhaupt seine sozialstaatliche Vollkaskomentalität von gestern sei.

Der schlimmste Vorwurf, den man gegen die KP vorzubringen hat, ist allerdings der, dass diese Partei ihrem Volk das Wählen verweigert, jene demokratische Veranstaltung also, bei der Politiker darum konkurrieren, dass sie in den nächsten Jahren durchsetzen dürfen, was ohnehin „alternativlos“ feststeht: Die Geschäfte der Unternehmen und Banken müssen (wieder) laufen, die Wirtschaft muss wachsen, und dafür müssen unten die entsprechenden Opfer erbracht werden. Weil es das in China nicht gibt, lasse sich der ganze Staat dort auf eines zusammenkürzen: Er unterdrückt, er ist (was man hierzulande an keiner Maßnahme entdecken will) Gewalt gegen seine Gesellschaft – und dieses ziemlich eindimensionale Urteil lässt sich natürlich wieder unterschiedlich illustrieren:

• Niemand braucht zu wissen, wie viele Zeitungen es in China gibt und schon gar nicht, was in ihnen drinsteht, um in einer Frage ganz sicher zu sein: In der Volksrepublik wird die Pressefreiheit mit Füßen getreten. (Umgekehrt wundert sich anscheinend niemand darüber, dass unsere freie Presse ganz ohne jede Zensur die immer gleichen Kommentare produziert – und das nicht nur zu China.)

• Jeder weiß, dass China gemein mit seinen Oppositionellen verfährt, ob mit seinem Nobelpreisträger Liu Xiaobo, dem Künstler Ai Weiwei oder den Demonstranten in Hongkong. Ganz im Unterschied zu hiesigen Verhältnissen, wo erklärte Systemgegner bekanntlich als willkommene Bereicherung des Meinungsspektrums aufgefasst und in jede Talkrunde eingeladen werden. Und nebenbei: wo ein Ai Weiwei sofort zum Außenseiter wurde, als er von China- auf Deutschland-Kritik umschaltete.[1]

• Während bei uns „islamische Fundamentalisten“ und ihre störenden Parallelgesellschaften völlig zu Recht ins Visier genommen, verfassungsrechtlich einwandfrei als Terroristen bekämpft und öffentlich diffamiert werden, stellen wir uns in China ganz selbstverständlich auf die Seite der nationalen Minderheiten der Uiguren und Tibeter, deren separatistische Forderungen und gewaltsame Unruhen so eindeutig wie sonst nirgends auf der Welt gegen die böse Zentralgewalt sprechen.

Ökonomische Ausbeutung, rücksichtsloser Umgang mit der Natur, Korruption, ein ausgeprägtes staatliches Überwachungsbedürfnis und Repression gegenüber Oppositionellen und Separatisten, außenwirtschaftliche Expansion, militärische Aufrüstung (die ja nicht China erfunden hat, geschweige denn, dass es die größte Militärmacht ist) und geostrategische Positionierung, ja selbst die patriotische Begeisterung des Volks für seinen Staat (die man hier permanent einfordert) – im Falle China wird all das zum außerordentlichen Skandal stilisiert.[2]

Dabei weiß man selbstverständlich in den meisten Fällen sehr genau, dass es die genannten Hässlichkeiten in ähnlicher Form auch hierzulande gibt und Fälle offener Diskriminierung und politischer Unterdrückung spätestens bei den von Deutschland und der EU unterstützten „befreundeten Regierungen“ in Afrika, dem Nahen Osten und in Lateinamerika an der Tagesordnung sind. Doch das sind dann bloß „Ausnahmen“, korrigierbare Fehler, ist staatliches „Versagen“. In China dagegen desavouiert jeder einzelne Kritikpunkt ein für allemal „das System“ – zu verbessern ist da nichts, und „konstruktive Kritik“, die bei „uns“ ganz selbstverständlich jeder Form von Unzufriedenheit abverlangt wird, kann es nicht geben.

Umgekehrt werden Fakten, die das negative Bild dieses Staats etwas ins Wanken bringen könnten, nicht so gerne in den wichtigen Medien thematisiert. Chinas außerordentliche Erfolge bei der Bekämpfung absoluter Armut oder bei der Zurückdrängung von Wüsten durch Aufforstung passen offenbar nicht so richtig in das Bild, das die Mainstream-Medien vermitteln wollen.[3] Auch der Umstand, dass die Volksrepublik in Sachen alternativer Energieerzeugung und E-Mobilität das angebliche ökologische Musterland Deutschland längst hinter sich gelassen hat, ist eher den Fach- bzw. Unternehmerzeitschriften vorbehalten als dass man ihn dem breiten Publikum vermitteln möchte.

Ebenso wenig wollen die deutschen Medien sich und ihr Publikum im Falle Chinas mit Analysen und Hintergrundinformationen belasten, die das klare Bild von der geradezu bösartig-repressiven Staatsmacht gegen die ethnische Minderheit der Uiguren oder Hongkonger Studenten erschüttern könnten. Die Redaktionen der großen Medienhäuser könnten leicht auch selbst herausfinden, was einige linke Journalisten recherchiert haben: terroristische Aktionen uigurischer Fundamentalisten, deren geistige Führer als „Exilregierung“ derweil in München sitzen[4]; die zweifelhaften Ziele und das rüde Vorgehen der Demonstranten in Hongkong; die Merkwürdigkeiten um die dortige Galionsfigur Joshua Wong, der seit bereits fünf Jahren Verbindungen zu US-amerikanischen Thinktanks und zur CIA unterhält.[5] Zu einer differenzierten Analyse würde es unbedingt gehören, sich auch damit auseinander zu setzen.

Zusammengefasst lässt sich bei dieser Art selektiver Wahrnehmung, missgünstiger Erklärung und im Grunde (völker-)verhetzender Information inklusive ihrer gebetsmühlenartigen Wiederholung von einem virulenten Feindbild sprechen.

Ein Feindbild verweist auf eine reale Feindschaft

Ein solches Feindbild entspringt einer sehr realen Konkurrenz und einer tatsächlichen, gerade erwachsenden Feindschaft. Die Gründe dafür liegen einerseits auf der Hand: China ist das neue ökonomische, politische und auch militärische Schwergewicht auf der Welt. Es macht den EU-Europäern, die ihrerseits die Dominanz der USA attackieren wollen, das Leben schwer, und die USA wiederum leiden darunter, dass ihre einzigartige Supermachtstellung angegriffen ist und sie dieses Land nicht in ihre Weltordnung einjustieren können.

Andererseits ist mit diesem lapidaren Befund noch nicht viel erklärt. Die wesentliche Frage, warum und um was alle Staaten konkurrieren und wieso sie das immer wieder in ein feindseliges, am Ende sogar kriegsträchtiges Verhältnis zueinander treibt, ist damit noch nicht geklärt – das allerdings wäre ein eigenes Thema.
Die deutschen Medien jedenfalls können sich bei ihrem patriotischen Publikum darauf verlassen, dass es Vorbehalte gegen jedes „Ausland“ gibt. Ein Feindbild erzeugen müssen sie also erst gar nicht und könnten das auch nicht. Sie können allerdings die latent vorhandenen Vorbehalte unterfüttern und dabei durchaus – den Konjunkturen der deutschen Außenpolitik entsprechend – mal mehr und mal weniger Wind machen.

Anmerkungen

1 „Ausländer mögen sie dort gar nicht.“ spiegel.de 21.01.2020.

2 Rother, Carina und Andre Zantow: Aufrüsten für eine neue Weltordnung? deutschlandfunk.de 25.04.2021 und: Roubini, Nouriel: China versucht, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben. wiwo.de 12.05.2023.

3 Anthony, Tamara und Daniel Satra: China – Armut staatlich abgeschafft. daserste.de 15.12.2019; sowie: Spannlang, Robert: Weltweit größte Aufforstungsfläche. holzkurier.com 07.11.2019.

4 Jörg Kronauer, Terror in Xinjiang, Junge Welt jungewelt.de 5.12.2019.

5 Zu den Demonstrationen in Hongkong und Joshua Wong: Christian Y. Schmidt in Konkret 1/2020 (»Trump, befreie uns. Die Pegida von Hongkong«) und Jens Berger, nachdenkseiten.de.