IMI-Analyse 2023/49 - in: Ausdruck Dezember 2023

Erkenntnisse aus der Propagandaforschung

Betrachtungen zum Krieg in der Ukraine

von: Sabine Schiffer | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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Medien hätten die Aufgabe, Faktenräume auszuleuchten, statt sich zu positionieren. Leisten sie das nicht, so entstehen polarisierte Diskurse, die nicht der Aufklärung, sondern der (Kriegs)Propaganda dienen – bewusst oder unbewusst. Das wird den Menschen vor Ort, die unter dem Krieg leiden, sowie den Soldaten, die in die Kriege geschickt werden, nicht gerecht. Es mag polemisch klingen, aber auch die folgende Erkenntnis hat sich als zeitlose Wahrheit erwiesen: „Die Waffen liefern die Reichen, die Armen die Leichen.“

Nicht erst im Krieg stirbt die Wahrheit, sondern schon lange vorher. An dieser Stelle ist Lord Arthur Ponsonby zu widersprechen, dem die Aussage „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst!“ zugeschrieben wird. Dessen 1928 publizierte Grundsätze der Kriegspropaganda, die von der belgischen Historikerin Anne Morelli zu zehn Thesen zusammengestellt wurden, können hingegen zeitlos Gültigkeit beanspruchen:

– Wir wollen den Krieg nicht
– Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung
– Der Führer des Gegners ist ein Teufel
– Wir kämpfen für eine gute Sache
– Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen
– Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich
– Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm
– Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache
– Unsere Mission ist »heilig«
– Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter[1]

So wie man es sich beim Angriff russischer Truppen auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 nicht vorstellen konnte, so wird es auch in Bezug auf den Schrecken des Hamas-Überfalls auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem daraus folgenden Krieg sein: Die Grundregeln Ponsonbys überdauern den Moment des Erschreckens und erweisen sich als beständig. So war es bezüglich dem Kosovo-Krieg 1999, so ist es mit Blick auf den massiv geschädigten Nahen Osten oder auch auf Konfliktzonen in Afrika. Dass bereits seit 2014 im Osten der Ukraine Krieg herrschte, wurde – da kein Medienthema – weitestgehend ignoriert, die über 10.000 Toten auch.[2]

Medien und Propaganda in Krieg und Krise

Aus der Forschung ist bekannt, dass Krisen – besonders in ihren Anfängen – sich durch einen Tunnelblick auszeichnen. Die Korridore, die man zur Erklärung und möglichen Lösung einer Krise wahrnimmt, verengen sich.[3] Dabei handelt es sich um eine strukturelle Verschlechterung der Voraussetzungen zur Bearbeitung der Krise, weil nicht alle kreativen Lösungsmöglichkeiten gleichwertig erörtert werden. Gerade in einer solchen Situation setzen sich etablierte Machtstrukturen durch.

Hier würde idealtypisch die Rolle der Medien ansetzen, die ja als Kontrolleur von Macht gedacht und zum großen Teil auch ausgestattet sind – womit sie dem Idealtypus einer vierten Gewalt entsprechen könnten. Aber auch in Medien arbeiten Menschen, die Angst haben und auch Medienmachende sind manipulierbar. Tatsächlich ist der Anspruch der meisten im Journalismus Tätigen selbst, mit kühlem Kopf die Sachlage zu klären.[4] Auch Slogans wie „Alles von Relevanz – Informationen, Hintergründe, Analysen aus Politik und Kultur“ (DLF) oder „Keine Angst vor der Wahrheit!“ (Spiegel) setzen Maßstäbe jenseits medienethischer Kodizes, wie dem Pressekodex, und dem verpflichtenden Grundgesetz, das wiederum Menschen- und Völkerrecht einschließt. Dem Transparenzhinweis, dass sich „Angaben nicht unabhängig überprüfen lassen“ – ein Fortschritt in der Berichterstattung – gehört noch der Hinweis hinzugefügt, dass alle Parteien es zu verhindern wussten, dass unabhängige Journalisten in die umkämpften Gebiete der Ukraine reisen durften.[5] Wer es nach dem 24. Februar 2022 durfte, war „eingebettet“ (embedded) unterwegs – auch dies gehört als Transparenzhinweis kenntlich gemacht.

In der Richtlinie 1 des deutschen Pressekodex geht es um die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit. Das Streben nach neutraler und möglichst objektiver Berichterstattung kann die eigenen Vorstellungen herausfordern. Dass dies gerade in Krieg und Krise besonders schlecht gelingt, ist eine Binse. Wenn der Zustand aber über den Moment des Schreckens hinaus anhält, dann ist Propaganda im Spiel, die daran arbeitet, emotionale Schlagseiten zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Die Forschungen zum „News-Bias“ geben hierüber Auskunft. Ebenso die Kognitionsforschung, denn jedes ergänzte Fakt differenziert das Bild weiter aus und verändert die Einschätzung der Lage. Damit würde undifferenziertes Feindbild-Denken erschwert und die investigative Neugier gestärkt. Allerdings lehrt die Kognitionsforschung auch, dass einmal akzeptierte Vorstellungen Rahmen für die weitere Wahrnehmung setzen – also Rahmungen (Framing) bereits die Auswahl von Fakten wie auch die Produktion von Darstellungen bestimmt. Propaganda zielt also nicht nur darauf ab, Falschmeldungen zu verbreiten, sondern auch darauf Aufmerksamkeit zu steuern.

Auch in Demokratien kann sich der Journalismus also nicht darauf ausruhen zu glauben, man sei vor Desinformation gefeit, nur weil man in einer seriösen Redaktion arbeitet. Der Mythos vom Gegensatzpärchen von Fake-News im Internet und der reinen Aufklärung in den etablierten Medien wurde zudem längst widerlegt; das umgekehrte Märchen von Freiheit und Wahrheit aus dem Internet gegen „den Medien-Mainstream“ auch.[6]

Kriegsanlasslügen[7] und Übertreibungen – Gräuelpropaganda für mehr Krieg

Man darf an dieser Stelle verallgemeinern, dass alle Kriege mit Lügen beginnen. Diese können False-Flag-Operationen sein, wie der sog. Tonkin-Zwischenfall 1964 oder der Angriff auf den Sender Gleiwitz am 1. September 1939. Zu den echten Kriegsanlasslügen gehört prominent die Brutkasten-Story der PR-Agentur Hill&Knowlton, eine erfundene Gräuelgeschichte über Baby-meuchelnde irakische Soldaten 1991. Dazu gehören auch – weniger bekannt – falsche Massaker-Bilder im Kosovo-Krieg 1999, die zur ersten Teilnahme der Bundeswehr an einem sog. robusten Auslandseinsatz und zudem völkerrechtswidrigen NATO-Krieg genutzt wurden.

Neben echten Kriegsanlasslügen gibt es auch die Überhöhung und Ausnutzung einer kritikwürdigen Situation, wie etwa Putins Begründung eines hehren Kampfes gegen den Faschismus in der Ukraine. Nicht ohne Grund unterscheiden Historiker zwischen Grund und Anlass. Warum gerade ein Großteil der Osteuropaforschung sich mit Blick auf den Krieg in der Ukraine dieses Ansatzes verweigert, bleibt ihr Geheimnis.[8] Auch das Aufbauschen von realen Problemen zu bestimmten Zeitpunkten, kann Propagandazwecke erfüllen – die Medienwissenschaft nennt dies „instrumentelle Aktualisierung“, wozu etwa das Cover des Time-Magazins 2010 mit Bibi Aisha, der Afghanin mit der abgeschlagenen Nase, zählt. Dieses zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein Jahr alte Foto hat dazu beigetragen, den Afghanistan-Krieg um weitere zehn Jahre zu verlängern.[9]

Das Potential historischer (Propaganda-)Forschung

Mehr Kontext hilft dabei, die geopolitischen Zusammenhänge zu klären und realistische Einschätzungen der Lage zu ermöglichen. Zur Kriegspropaganda gehört es darum, jegliche Analysen mit Kontextklärung als „Relativierung“ (einer herausragend schrecklichen Tat ohne Zusammenhang) zu diffamieren. Wenn die Verurteilung eines Völkerrechtsbruchs, einmal abgesehen von der jeweiligen Vehemenz (Russland-Ukraine vs. USA-Irak) im konkreten Fall, zu einer Parteinahme für eine Kriegspartei führt, dann verlassen Medien ihre idealtypische Rolle als vierte Gewalt. Wenn die Standards des humanitären Völkerrechts nur selektiv gelten sollen, dann verlieren wichtige Normen ihren Wert.[10]

Ed Herman und Noam Chomsky beschreiben das Phänomen im Kapitel „wertvolle und wertlose Opfer“ in Ihrem Buch-Klassiker „Die Konsensfabrik“.[11] Es gibt demnach strukturelle und weitere Faktoren, die die Verbreitung von Herrschaftsdiskursen und Propaganda begünstigen – ganz entgegen einem idealisierten Selbstbild einer die Mächtigen kontrollierenden Instanz. Diese strukturelle Vorgabe lässt zudem wichtige Akteure übersehen, die Mittel für die Diskursbeeinflussung im Informationskrieg einsetzen – wie sie etwa eine Analyse des Quincy-Institutes in den USA für den Kriegs-Lobbyismus rund um den Ukraine-Krieg darstellt.[12]

Wenn mit dem Schicksal von Frauen und Kindern, mit Bildern der Gräuelpropaganda für Krieg geworben wird, wie es etwa ein CIA-Szenario[13] erörtert, schlüge eigentlich die Stunde des Investigativ-Journalismus; nämlich zu prüfen, wo – bei vergleichbarer Sachlage – diese Fakten (instrumentell) aktualisiert werden und wo sie nicht auf den Tisch kommen; wo also vermutlich andere Interessen vorliegen als die in den Vordergrund gehobenen. Der Blick hinter die Kulissen erfordert also einiges an Aufwand und dieser wird am besten vor dem Krieg investiert, jenseits der Aufmerksamkeitsökonomie. Von den vielen verpassten Diplomatie-Chancen von allen relevanten Seiten im Vorfeld des Krieges in der Ukraine berichtet der Beitrag der Historikerin Sandra Kostner im Buch „Ukrainekrieg. Warum wir eine neue Entspannungspolitik brauchen“.[14] In den meisten Medien sucht man derlei Auseinandersetzungen derzeit vergebens.[15]

Propaganda machen nicht nur die anderen

„Desinformation“ ist als „Falschinformation + Intention“ kürzest möglich zu definieren und weder ein Spezifikum Russlands noch auf das Internet als Hort von Fake-News zu projizieren.[16] Die gewichtigeren Falschmeldungen sind immer noch die, die von besonders glaubwürdigen Stellen verbreitet werden. Und das sind in Deutschland angesehene Persönlichkeiten und journalistisch arbeitende Medien, bei denen man von einer sorgfältigen Prüfung der Sachverhalte ausgeht. Das widerspricht allen Kenntnissen, die die Propagandaforschung in Bezug auf subtile Soft-Power-Techniken und graue PR hervorgebracht hat.[17] Wenn es gelingt, dass (freie) Medien die Botschaften strategischer Kommunikation verbreiten, hat das den Vorteil, dass unkritische Geister die Quelle nicht erkennen und die Botschaft als journalistische aufgewertet wird. Der Journalismus ist genau darum im besonderen Fokus von PR. Dafür fehlt noch vielfach das Bewusstsein.

Der staatlichen Repression auf russischer Seite steht eine zunehmende Repression von Medien auch in der Ukraine gegenüber, während sich in Deutschland und Europa ganz subtil eine Sprache der Kriegslogik und Militarisierung durchsetzt. Wer vor der Kriegslogik und einer Eskalationsspirale warnt, gilt in diesem Diskurs schnell als „Putintroll“ oder „Hamas-Verharmloser“, sprich: Verräter. So entsteht ein kohärentes System der Kriegspropaganda.[18]

So erklärt sich, dass man russische Staatsmedien und Trollfabriken kritisiert und gleichzeitig Diktaturen wie Saudi-Arabien als „Stabilitätsfaktor im Nahen Osten“ schönredet, eigene Kriegseinsätze als „Stabilisierungsmission“ verharmlost oder gar die angegriffene Ukraine, die vor dem Kriegsende noch einen führenden Platz in diversen Korruptionsrankings hatte, nun als freiheitliche Demokratie idealisiert.

Dabei ließen sich die Erkenntnisse der Propagandaforschung nutzen, um aktuelle Propaganda schneller zu erkennen. Grausame Bilder, die nur schwer verifiziert werden können oder deren Aussagekraft als Momentaufnahme begrenzt ist, können genutzt werden, um von Krieg abzuschrecken oder aber zu mehr Hass und Krieg anzustacheln. Umgekehrt lassen sich mittels besonders niedlicher Bildmotive die dargestellten Personen als menschlich und empathisch rahmen – so fielen zu Beginn des Ukraine-Kriegs besonders Inszenierungen mit Katzenbildern auf.[19] Fotos rund um die Eröffnung der Oper in Odessa aus dem Frühsommer 2022 – in der taz unter dem Titel „Hochkultur in Odessa: Sinfonien und Sirenen“ vom 27. Juni 2022 veröffentlicht – könnten an eine Kampagne Kroatiens im Jugoslawienkrieg erinnern, wo mittels Kulturmarketing das Land in positivem Licht erscheinen sollte. Der Kommunikationswissenschaftler Jörg Becker schilderte im Interview mit der Autorin dazu Folgendes: „Als die kroatische Regierung die große Kraina-Offensive gegen Serbien führte, wurden auf Empfehlung einer US-amerikanischen PR-Agentur zeitgleich – während die Offensive stattfand – die Symphoniker aus Zagreb auf eine Konzerttour in die USA geschickt. Was war die Botschaft? Die Botschaft war: Seht, Kroatien ist ein zivilisiertes Land, mit Interesse, mit Geschmack und Liebe für alte Barockmusik. Gleichzeitig donnerten die tödlichen Geschütze in der Kraina-Offensive. Genauso funktioniert Public Relations.“[20]

Desinformation gegen Desinformation: Die Stunde von ThinkTanks und Lobbyisten[21]

Jenseits von Faktenchecks (ernsthaften und tendenziösen), Berichterstattung und Kommentierung, manipulativen Wordings und Framings gibt es einige wohlklingende Initiativen, die über die Kriegsberichterstattung hinaus von Bedeutung sind. Dazu gehören mindestens die Trusted News Initiative der EU und News Guard.[22] Sie vergeben Labels, welchem Medium man Glauben schenken soll und welchem nicht. Das ist gerade in Demokratien, die Medien- und Meinungsfreiheit in ihren Verfassungen verankert haben, nicht unproblematisch.

Ehemalige Bundestags- oder EU-Abgeordnete sowie hochrangige Funktionäre gründen eigene ThinkTanks und lobbyieren für mehr von dem, wofür sie sich schon politisch eingesetzt haben. Ein Beispiel auf EU-Ebene bietet Rasmussen Global, der Think-Tank des ehemaligen NATO-Generalsekretärs Fogh Anders Rasmussen, der in seiner Zeit als Ministerpräsident Dänemarks nicht unwesentlich an dem beteiligt war, was als „Karikaturenstreit“ verkürzt in die Geschichtsbücher eingegangen ist.[23] In Deutschland sticht besonders das Zentrum Liberale Moderne (LibMod)[24] des Grünen-Funktionärs-Ehepaars Ralf Fücks und Marie-Luise Beck hervor, das sich als „Nichtregierungsorganisation“ bezeichnet, aber nachweislich von Fördermitteln des Bundes sowie dem Bundespresseamt direkt alimentiert wird.[25] Seine Ausrichtung ist instrumentell „pro-ukrainisch“ und primär anti-russisch, was sich in starkem Lobbying für mehr Waffen und Krieg in der Ukraine niederschlägt.

EU und NATO kooperieren strategisch – auch in der Kommunikation. Jonas Tögel hat kürzlich eine lesenswerte Abhandlung über die Strategien der NATO zur kognitiven Kriegsführung vorgelegt.[26] Darin kommt die East StratCom Task Force etwas zu kurz, nur deren Blog EUvsDisinfo wird erwähnt. Diese Stabsstelle strategischer Kommunikation verdient aber besondere Aufmerksamkeit, weil sie ein kaum bekanntes, seit 2015 bereits etabliertes, Joint-Venture zwischen EU-Kommission und dem Militärbündnis NATO darstellt – beide ohne Mandat[27] und nennenswerte Bekanntheit.

Dabei trägt die East StratCom Task Force einen ehrlichen Namen, der das Element „strategische Kommunikation“ enthält. Diese Initiative des Europäischen Auswärtigen Dienstes EAD wurde im Nachgang zur Ukraine-Krise 2014 gegründet und richtete sich zunächst gegen Desinformation von Islamisten, Russland und China. Derzeit liegt der Fokus jedoch auf Russland. Viele Journalisten, die sich von der East StratCom im Erkennen russischer Desinformation briefen ließen, halten diese Stelle für ein Schulungsprojekt der EU und rahmen den Pressesprecher Lutz Güllner gerne als „EU-Experten für Desinformation“.[28] Während sich die EU berechtigterweise um das Mediensystem sorgt, jedoch dennoch das Prinzip „Medien als Markt“ vorantreibt und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Störfaktor behandelt, darf in Frage gestellt werden, ob ein Militärbündnis mit eigenen Interessen in Osteuropa sich einmischen sollte in Journalistenbriefings zur Sicht auf Russland. Zumal es an transparenten Kriterien und Methoden zur genauen Bestimmung von Desinformation fehlt, wie Eric Bonse, freier Korrespondent in Brüssel, für das Institut für Medienverantwortung (IMV) ermittelte.[29]

Die eigene Medienbeobachtung (das sog. Clipping) auf dem besagten Blog der East StratCom[30] stellt nur einen Teil des Medienerfolgs der Stabsstelle dar. Presseaussendungen, Blogeinträge und Journalistenbriefings schlagen sich regelmäßig in europaweite Berichterstattung nieder – durchaus mit Verweis auf diese (einzige) Quelle. In Deutschland erschien etwa im Spiegel vom 08. März 2021 ein entsprechender Artikel unter dem Titel „Darum ist Deutschland das Topziel für russische Fake News“.[31] Am gleichen Tag erschienen in fast allen großen Medien ähnliche Beiträge, die sich bei genauer Betrachtung als Fake News bzw. aufgebauschte Marginalfälle entpuppten.

Auf der Website werden auch „Argumentationen“ vermeintlicher oder tatsächlicher „Putintrolle“ entlarvt. Demnach würden Behauptungen, wie etwa „Die NATO-Osterweiterung stellt eine ernsthafte Bedrohung für Russland dar“, „Westliche Sanktionen führen zu Nahrungsmittelkrisen und Preisanstiegen“, „Die EU-Sanktionen schaden Europa mehr als Russland“ oder gar „Die USA profitieren von der Nordstream-Sabotage“ nun keine Diskussionsbeiträge zu einer möglichen Sachklärung mehr darstellen, sondern automatisch als russische Propaganda gewertet. So werden Hinterfragende als „Kreml-Propagandisten“ oder neuerdings nach ukrainischer Lesart gar als „Informationsterroristen“ abgestempelt.

Die neueste Spielart westlicher Propaganda stellen nun tatsächlich auch Trolle dar, die sogenannten NAFO-Fellas, die offiziell nur gegen Propaganda Moskaus vorgehen wollen.[32] Diese zumeist anonymen, vom ZDF[33] positiv als „Aktivisten“ gegen Kreml-Propaganda geframten Social-Media Accounts mit Hunde-Konterfei stürzen sich mit Schmäh-Posts auf alles, was mit einigermaßen Reichweite etwa auf Twitter/X aus dem klaren Feindbild-Schema ausschert. Auffällig ist, dass sie nicht nur gegen Russland und für mehr Krieg in der Ukraine lobbyieren, sondern nun auch in Solidarität mit Israel spammen und agitieren. Nach eigener Erfahrung mit diesen Trollen lässt sich feststellen, dass einige echte Personen – „mutige Anonyme“, wie ich sie nenne – dabei sind und viele Bots. Erstaunlich ist die Infantilisierung von Kriegspropaganda, wobei gezielt von jeglichen vernünftigen Inhalten abgelenkt und auf die Diffamierung der Person abgezielt wird. Dafür greift man zu verbalen Mitteln von Falschbehauptungen über bösartige Unterstellungen bis hin zu sexualisierten Anspielungen und Bildmontagen, die darauf abzielen, die angegriffene Person lächerlich zu machen. Interessant ist in dem Kontext noch, dass diese NAFO-Fellas, die ein ähnliches Logo wie die NATO im Account tragen, gemeinnützig sind. Und mit dieser Organisation arbeiten auch Osteuropa-Wissenschaftler zusammen, die sich aktivistisch zur Ukraine positionieren. Eine Aktion, die zu Spenden auffordert, nennt sich beispielsweise „Basteln für die Ukraine“, wo man gelb-blauen Modeschmuck erwerben kann – von Wissenschaftlerinnen gebastelt.

Fazit und Ausblick

Die Nachordnung des Krieges in der Ukraine hinter dem wieder aufflammenden Nahost-Konflikt steht gerade sinnbildlich für die Versäumnisse der Logik im Mediensystem. Die Aufmerksamkeit gilt dem Negativen und der Eskalation, nicht den stillen Entwicklungen, die zum Verständnis von Sachverhalten wichtig wären. Und sie gilt schon gar nicht den konstruktiven und kooperativen Gruppen, die zeigen würden, dass eine Überwindung von Feindbild-Konstellationen möglich ist bzw. war. Wer die Reden hiesiger Politiker zu den beiden Konflikten miteinander vergleicht, stellt viele Widersprüche fest – das wären Ansatzpunkte für einen kritischen Journalismus, um Nachzufragen und Nicht-Konsistenz zu kritisieren. Schließlich ist man kein Verlautbarungsorgan politisch-strategischer Kommunikation. Und vielleicht stellt sich in beiden Konflikten nicht mehr primär die Frage nach Schuld und wer angefangen hat – was wiederum infantilisierend das Sterben der Menschen im Krieg übergeht – sondern danach, wer als erster in der Lage ist, aus der fatalen Kriegslogik auszusteigen. Medien käme dabei die Rolle der Aufklärung statt der Agitation zu.

Anmerkungen

[1] Morelli, Anne (2004): Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe: zu Klampen.

[2] Eine anschauliche Aufarbeitung des Krieges vor 2022 liefert u.a. der „Visual Explainer“ der International Crisis Group, einer keineswegs pro-russischen Organisation: https://www.crisisgroup.org/content/conflict-ukraines-donbas-visual-explainer. – Zu den Versäumnissen der Medien vgl. exemplarisch das Protokoll des ARD Programmbeirats vom Juni 2014.

[3] Vgl. Schiffer, Sabine (2022): „Zensur macht nur die Sowjetunion, wir selbst haben freie Medien“ – Interview mit Jörg Becker, in: Telepolis (24.06.2022), telepolis.de.

[4] Vgl. Schiffer, Sabine (2022): Bewährungsprobe für den Journalismus: Von der edlen Lüge zu guten Fake News? Warum für die Medien auch in Kriegszeiten die Grundregeln der Wahrheitsprüfung gelten müssen. Ein Blick zurück in die Historie, in: Berliner Tagesspiegel, (21.04.2022), tagesspiegel.de.

[5] Z.B. Jessen, Jan (2022): „So fühlt sich Krieg an“ (im Podcast-Gespräch mit der Autorin), in: WAZ (15.06.2022), waz.de; Vgl. auch Baab, Patrik (2023): Auf beiden Seiten der Front. Frankfurt: Westend-Verlag.

[6] Vgl. Schiffer, Sabine (2021): Medienanalyse – ein kritisches Lehrbuch. Frankfurt: Westend-Verlag.

[7] Vgl. Hardinghaus, Christian (2023): Kriegspropaganda und Medienmanipulation. München: Europa-Verlag.

[8] Der Historiker Herfried Münkler zeigt, dass sich nicht alle Forscher dieser Zunft der Einnahme langfristiger Perspektiven bei der tieferen Ursachenforschung verweigern: s. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Mittagssalon vom 05.10.2022 „Der Ukrainekrieg, seine Folgen für Europa und die globale Ordnung“, youtube.com.

[9] Schiffer, Sabine: Wie deutsche Medien die Bundesregierung am Hindukusch verteidigten, in: Telepolis (20.3.2022), telepolis.de.

[10] Schiffer, Sabine: Gute Kriege, schlechte Kriege?, in: Telepolis (26.2.2023), telepolis.de.

[11] Herman, Ed & Chomsky. Noam (2023): Die Konsensfabrik. Frankfurt: Westend-Verlag: S. 194ff).

[12] Freeman, Ben: Defense Contractor Funded Think Tanks Dominate Ukraine Debate, Quincy Brief No.41 (1.6.2022), quincyinst.org.

[13] Wikileaks: „Red Cell Memorandum“, wired.com; mehr hierzu siehe FN 10.

[14] Kostner, Sandra (2023): Verspielte historische Chancen, in: Luft, Stefan & Kostner, Sandra (Hg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht. Frankfurt: Westend-Verlag (S. 55-93).

[15] Eine löbliche Ausnahme bildet die Monatszeitschrift Le Monde diplomatique; Vgl. dazu vorliegende Studien zum Abdriften von Medien in Richtung Propaganda: z.B. Prinzing, Marlis: Medien und die Ukraine: Grenzen zum Kriegsaktivismus scheinen fließend.“ In: Meedia (17.06.2022); Eddy, Kirsten & Fletscher, Richard: Perceptions of media coverage of the war in Ukraine, Reuters Institute for the Study of Journalism (15.06.2022), reutersinstitute.politics.ox.ac.uk; Maurer, Marcus u.a.: Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukrainekrieg, Forschungsbericht der Otto-Brenner-Stiftung (31.1.2023), otto-brenner-stiftung.de.

[16] Kohring, Matthias & Zimmermann, Fabian: Fake News als aktuelle Desinformation, Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) (2.5.2019), www.bpb.de.

[17] Nye, Joseph (2005): Soft Power. The Means to Success in World’s Politics. New York:PublicAffairs.

[18] Schiffer, Sabine (2022): „Von Solidaritätsmythen und Kriegslogiken Medien im Fokus politischer Medienstrategien.“ In: Journalistik 2/2022, journalistik.online.

[19] „Krieg mit Katzenbildern“, in: Orf.at (08.05.2022), orf.at.

[20] Vgl. Schiffer, Sabine (2022): „Zensur macht nur die Sowjetunion, wir selbst haben freie Medien“ – Interview mit Jörg Becker, in: Telepolis (24.06.2022), telepolis.de.; vgl. auch: Becker, Jörg (2016): Medien im Krieg – Krieg in den Medien. Wiesbaden: Springer VS; Becker, Jörg & Beham, Mira (2008): Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden: Nomos-Verlag.

[21] Gute Vorarbeit hat Uwe Krüger mit der Netzwerkanalyse in seiner Dissertation geleistet. Neben der Einbindung von Journalisten direkt in Think Tanks gibt es solche, die offen oder verdeckt als Lobbyisten tätig sind; vgl. Krüger, Uwe (2014): Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. Köln: Herbert von Halem Verlag.

[22] Vgl: de.ejo-online.eu/tag/trusted-news-initiative; www.newsguardtech.com/de/solutions/newsguard-ratings.

[23] Schiffer, Sabine & Gleißner, Xenia (2008): Das Bild des Propheten. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[24] Vgl. libmod.de. Die besondere Freundschaft zur Ukraine als Gegenpol zu Russland drückt sich u.a. in einigen Projekten des Think Tanks aus, wie der Website zu entnehmen ist. Sie reichen von „Ukraine verstehen“, „Russland verstehen“, „Ostklick“ über das Programm „Östliche Partnerschaft Plus“ bis hin zu den Themen „Ökologische Moderne“ und „Liberale Demokratie“. Die letzten beiden Projekte fehlen auf der englischsprachigen Website, was den Fokus gen Osteuropa noch einmal betont.

[25] Vgl. Küppersbusch TV (2022): Staatsknete für die richtige Meinung, youtube.de; Lübberding, Frank (2022): Wenn der Aktivismus zur Bekämpfung politischer Gegner staatlich subventioniert wird, in: Welt (24.11.2022), www.welt.de; Jung & Naiv (2022): Ralf Fücks (im Interview) – Zentrum Liberale Moderne, Folge 607, youtube.com; Appel, Roland (2022): Lügen für ½ Millionen Euro jährlich, in: Beueler Extradienst (26.04.2022), extradienst.net.

[26] Tögel, Jonas (2023): Kognitive Kriegsführung. Frankfurt: Westend-Verlag.

[27] Bonse, Eric (2021): Wie EU und NATO gegen Desinformation vorgehen, in: medien-meinungen.de (07.10.2022), medien-meinungen.de.

[28] Z.B. Deutschlandfunk (2021): https://www.deutschlandfunk.de/eu-experte-zu-russischer-desinformation-zu-beginn-der-100.html (25.03.2021)

[29] Bonse, Eric (2021): Wie EU und NATO gegen Desinformation vorgehen, in: medien-meinungen.de (07.10.2022), medien-meinungen.de.

[30] Vgl. https://euvsdisinfo.eu/de/in-den-medien.

[31] Vgl. Bonse, Eric (2021): Nicht Deutsche sind das Ziel, sondern Russen, in: LostInEU.eu (09.03.2021), https://lostineu.eu.

[32] Fess, Philipp (2023): North Atlantic Fella Organization (Nafo) – Hybride Kriegsführung trifft Internet-Kultur, in: Telepolis (20.1.2023), telepolis.de.

[33] Dudek, Thomas (2023): Zwischen Engagement und Geschmacklosigkeit, in: ZDF (28.7.2023), zdf.de.