IMI-Analyse 2023/51 - in: Ausdruck Dezember 2023

Die Sozioökonomie des Journalismus

Wie Meinungsmacht, Digitalisierung und soziale Ungleichheit zusammenhängen. Ein Essay

von: Alieren Renkliöz | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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Während die bürgerliche Presse linken Berichterstatter*innen aktivistischen Tendenzjournalismus vorwirft und behauptet, jede*r müsse sich an der vermeintlichen Neutralität ihrer Texte messen, berichten die großen deutschen Medienhäuser bei kriegerischen Konflikten meist einseitig und tendenziös. Es gibt eine vorherrschende Meinungsmacht. Magazine, die kritisch zu solchen Themen publizieren, wissen, wie schwer es ist, Autor*innen zu finden, die ihre nicht-hegemonialen Meinungen und Analysen kundtun. Wenn es um den Ukraine-Krieg oder um den Krieg in Gaza geht, gibt es diskursive Grenzen. Wer sie passiert, gefährdet seine Position in der Gesellschaft. Die Ausgangssituation ist repressiv.

Die Politiker*innen oder Publizist*innen, die anders denken, setzen zu Beginn eines Radio-Interviews oft Marker, um Anfeindungen zu entgehen. Wenn ein*e Pazifist*in in den vergangenen Monaten über den Ukraine-Krieg sprach, dann betonte er*sie früh im Gespräch, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handele. Das stimmt auch, aber die Vehemenz, mit der diese Aussage kommt, weist darauf hin, dass Angst eine Rolle spielt. Zwar kommen in den Randspalten und zu den schlechten Sendezeiten im Radio und Fernsehen auch differenzierte Sichtweisen zu diesen Konflikten vor, doch die Schlagzeilen weisen eine erschreckende Homogenität auf.

Für die Aufrechterhaltung einer solchen gesellschaftlichen Situation spielen die sozioökonomische Herkunft der Journalist*innen, die Eigentumsverhältnisse an den Medienhäusern und die Logiken der sozialen Netzwerke eine Rolle; neben den klassischen Medienformaten Zeitungen, Radio und Fernsehen haben sich digitale Kommunikationsplattformen wie Facebook, X (ehemals Twitter), Instagram und TikTok längst zu relevanten Nachrichtenquellen entwickelt. Diese Plattformen verfügen eigenmächtig darüber, welche Inhalte sie zensieren. Das ist eine unglaubliche, wirklichkeitskonstruierende Macht. Viele Menschen bilden ihre Meinung auf diesen Plattformen. Zunehmend reagieren nicht die sozialen Netzwerke auf die Zeitungen, sondern die Zeitungsmachenden auf die sozialen Netzwerke.

Die Illusion unmittelbaren Dabeiseins

Auf den sozialen Medien beziehen Menschen Informationen1 über Kriege scheinbar aus erster Hand über die Smartphones von Betroffenen. Das Geschehen auf den sozialen Netzwerken präsentiert sich den Konsument*innen nicht als eine subjektive und immer vorgeprägte Darstellung wirklicher Ereignisse, sondern als unmittelbare Erfahrung – als wäre man selbst dabei. So wird Betroffenheit zum Modus der Informationsbeschaffung. Das Bild- und Videomaterial wirkt stärker als eine fünfseitige Reportage, die um verschiedene Perspektiven und komplexe Darstellungen bemüht ist. Es ist zudem schneller lieferbar, weswegen selbst Journalist*innen teils erst durch Material auf den sozialen Netzwerken von einem kriegerischen Konflikt mitbekommen und dann unter dem Eindruck polarisierter Kommentarspalten ihre Texte schreiben. Auch die Berichterstatter*innen sind Konsument*innen. Auf welche Seite sich ein*e solche Nachrichtenkonsument*in stellt, kann er*sie dabei wie in einem Videospiel entscheiden – die Gegenposition, die die eigene Sicht in einen anderen Kontext rücken könnte, wird oft als feindlich wahrgenommen. Meist hört man sie nicht einmal mehr, denn die Algorithmen kreieren Filterblasen, in denen Konsument*innen v.a. Informationen erhalten, die ihr eigenes Weltbild bestätigen. Die Diskurse auf den sozialen Netzwerken ähneln Menschen, die im Gebirge rufen, nur sich selbst hören und meinen, die Antwort eines anderen zu erhalten. In einer solchen Echokammer gibt es kein wirkliches Gespräch, denn dieses braucht den anderen, der mir nicht dauernd zunickt, sondern mich infrage stellt.

Algorithmen sind ein gesellschaftsbestimmender Faktor und niemand kann sich ihrem Einfluss entziehen, auch nicht jene, die bei keinem sozialen Netzwerk einen Account erstellen. Denn auch sie lesen Berichte von Menschen, die geprägt sind von der Informationskultur auf den sozialen Netzwerken oder unterhalten sich mit Leuten, die ihre Nachrichten mit Vorliebe auf der Kloschüssel sitzend ihrem Smartphone entnehmen. Es ist bekannt, dass die Algorithmen, die bestimmen, was ein Konsument sieht oder nicht, extreme Meinungen bevorzugt behandeln2 und, dass auf sozialen Netzwerken Propaganda-Instrumente wie Social Bots eingesetzt werden.3 Ihren Einsatz kann sich jede*r ermöglichen, der*die über das nötige Kapital verfügt.

In einer solchen sozialen Situation, in der extreme Meinungen bevorzugt behandelt werden und fast alle Diskursteilnehmer*innen wichtige Informationen aus Echoräumen beziehen, braucht es nicht zu wundern, wenn auch Journalist*innen polarisieren, zu extremen Positionen tendieren und Stimmen, die eine andere Weltsicht kommunizieren, nicht aushalten. Die Dominanz der digitalen Informations- und Kommunikationskultur hat in den Jahren der Pandemie erheblich zugenommen. Durch Lockdowns, Videokonferenzen und vermehrte Zeit in der eigenen Wohnung und ohne physischen Austausch mit anderen Menschen wurde die digitale Kommunikation schlagartig zur Hauptkommunikationsweise. Damit wurden auch die Regeln der digitalen Welt und der sozialen Netzwerke noch relevanter als zuvor. Die durch Anonymisierung und das Fehlen eines physisch wahrnehmbaren Gegenübers enthemmten Kommentarspalten in den sozialen Netzwerken bevorzugen empathielose Kommunikationsstile. Die Bereitschaft, die*den Andersdenkende*n auszuschließen, ist von Links bis Rechts gängige Praxis geworden. Die Reflektion darüber, was die sozialen Netzwerke mit öffentlichen Debatten und der sozialen Atmosphäre machen, gerät angesichts ihrer Omnipräsenz in den Hintergrund.

Die sozioökonomische Herkunft der Journalist*innen

Die Homogenität der Berichterstattung in Deutschland rührt zu einem gewichtigen Anteil aus der Homogenität der sozioökonomischen Herkunft der Berichterstatter*innen. In deutschen Redaktionen gibt es weniger Arbeiterkinder und Menschen mit Migrationsgeschichte als in der Gesamtbevölkerung. Kinder von Beamt*innen, Selbstständigen und Angestellten sind hingegen überrepräsentiert. Sie stellen Zweidrittel aller Journalist*innen.4 Diese Überbesetzung der Redaktionen mit Kindern der oberen Mittelschicht hat lange Tradition. Im Jahr 1980 waren fast 50 Prozent der männlichen Erwerbstätigen Arbeiter, bei den Journalisteneltern waren es hingegen nur rund neun Prozent.5 Das liegt daran, dass der Beruf der*s Journalist*in sehr exklusiv ist. Um ein Volontariat zu erhalten, muss man möglichst viele Praktika vorweisen und schon als Freiberufler gearbeitet haben. Beides wird sehr schlecht bezahlt, sodass es Menschen aus einkommensstarken Familien leichter fällt, eine Karriere als Journalist*in zu beginnen.

So kommt es, dass vor allem die Mittelschicht Informationen und Meinungen produziert. Jene Leute also, die zwar arbeiten müssen, um ihre Existenz zu sichern, Arbeiter*innen und Wohnungslosen also weiterhin näher sind als der*m Kapitalisten*in, der*die vom Mehrwert fremder Arbeit lebt, sich aber eher mit der*m Multimillionär*in identifizieren als mit den Menschen auf der Straße. Wer nie am eigenen Leib Armut gespürt hat, wird die kapitalistische Klassengesellschaft, welche die BRD ist, nicht oder nur schwach thematisieren. Wessen Eltern ihren Renteneintritt mit einer monatelangen Kreuzfahrt feiern, dem werden Enteignung, Basisdemokratie und Kommunismus als totalitäre Schreckgespenster erscheinen. Und wer als Kind von Beamt*innen gelernt hat, sich mit dem Staat zu identifizieren, der*die wird angesichts kriegerischer Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten schwer auf die Idee kommen, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine, niemanden dazu zwingt, sich auf die Seite irgendeiner dieser Staaten zu stellen. Staatlichkeit selbst ist ein zunehmendes Problem.

Jede Zeitung verfolgt eine Blattlinie, ob sie links oder rechts, grün oder schwarz, marxistisch oder neoliberal ist. Hinzu kommt, dass es häufig Sprachregelungen gibt, die von Chefredakteur*innen ausgegeben werden. So etwas wie eine politisch neutrale journalistische Berichterstattung gibt es nicht. Schon die Entscheidung, welchen Themen man wie viel Raum gibt, ist eng verbunden mit der jeweiligen sozioökonomischen Perspektive der Redakteur*innen. Bürgerliche Menschen aus der Mittelschicht besetzen das Ideal der journalistischen Neutralität, um ihren subjektiven und von ihrer Klasse und Ethnie abhängigen Blick auf die Welt als eine objektive und über den Dingen stehende Perspektive zu verklären.

Berichterstattung auf dem kapitalistischen Markt

Anhand der Printzeitungen lässt sich gut nachvollziehen, wie es zu Medienkonzentration kommt und welche Bedeutung diese auf die Diversität der möglichen journalistischen Perspektiven hat. Zeitungen vertreiben Nachrichten auf einem kapitalistischen Markt. Dieser Markt setzt die Zeitungen unter Druck, denn das Produkt wird verdrängt. Laut Statista lag die Gesamtauflage der Zeitungen in Deutschland 1991 noch bei 27,3 Mio. Stück und 2023 nur noch bei 10,9 Millionen.6 Das ist ein Minus von 60 Prozent. Zudem sind die Einnahmen im Werbegeschäft massiv eingebrochen. Zeitungen sterben weg. Wirtschaftswissenschaftler und Springer-Journalist Andreas Moring erklärt, dass als Folge dieser Entwicklung auf dem Zeitungsmarkt seit 2008 eine „Bereinigungswelle“ zu beobachten sei. Diese sei von Übernahmen, Verkäufen und Fusionen geprägt.7

Was der neoliberale Moring euphemistisch als Bereinigungswelle ausdrückt, ist eine Monopolisierung des deutschen Zeitungsmarktes. In vielen Regionen gibt es, wenn überhaupt, nur eine Lokalzeitung – das heißt es gibt keinen Konkurrenten an dessen Berichterstattung die einzelne Zeitung sich messen muss. Auf lokaler Ebene kommt es so zu einseitiger Berichterstattung. Es kommt erschwerend hinzu, dass der Mantelteil der meisten Regionalzeitungen zentral erstellt wird. Der Mantelteil ist der überregionale Teil einer Regionalzeitung. Bis Anfang der 1980er Jahre waren die meisten Zeitungen Vollredaktionen. Die Redaktionen hatten also eigene Ressorts für Politik, Wirtschaft, Feuilleton usw. Der Trend ist aber, dass es immer weniger solcher Vollredaktionen gibt.8 Dass viele Regionalzeitungen sich einen eigenen Politik-, Wirtschafts- und Kulturteil nicht mehr leisten können, führt dazu, dass es heute in absoluten Zahlen weniger Journalist*innen gibt, die über Überregionales schreiben als früher. Und das heißt, dass es eine niedrigere Meinungsvielfalt gibt. Meist erstellt eine große Zeitung den Mantelteil für die anderen und setzt damit Meinungsmacht.

Zudem befördern kapitalistische Produktionslogiken journalistischer Informationen einen Emotionalisierungsdruck der Berichterstattung. Clickbaiting – die gezielte Jagt nach Klicks bei online Medien – nagt an der journalistischen Qualität der Schlagzeilen und der Titelbilder. Schnelles Schreiben ist nötig. Das bedeutet aber, dass wenig Zeit für gewissenhafte Recherche besteht. Moralisierung zieht, Feindbilder auch. Leute lesen etwas eher, wenn es sie betroffen macht. Internationale Krisen werden dargestellt, als handle es sich um moralische Dilemmata. Dabei ist Moral nie handlungsleitendes Moment der Politik, sondern stets Mittel, um interessengeleitete Politik zu legitimieren. Moral mobilisiert die Bevölkerung. Gleichzeitig erschwert sie das Verständnis der realen politischen Zusammenhänge eines Konfliktes. Für die Aufrüstung der Bundeswehr wurde eine Moralisierungskampagne geführt. Die Regierung behauptete, man müsste Deutschland weiter militarisieren, um anderen helfen zu können. Die Interessen, die im Hintergrund stehen sind hingegen die imperialistischen Ambitionen Deutschlands, das, nachdem es im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege entfachte, nun wieder von einer kriegstüchtigen9 Bundeswehr spricht und sich unverhohlen als größte Militärmacht in Europa positionieren will.10

Soziale Ungleichheit verhindert Meinungsvielfalt

Die Sozialkürzungen, die das Kabinett Scholz vornimmt, um das deutsche Militär aufzurüsten, werden die Ungleichheit in den Redaktionen weiter verstärken. Ein Studium wird immer teurer. Hinzu kommt, dass das Bafög nur unzuverlässig fördert und die soziale Mobilität von Kindern aus den unteren Einkommensschichten sich verschlechtert. Bildungsaufstieg wird schwieriger. Diese wachsende soziale Ungleichheit trägt ihren Teil dazu bei, dass es der Berichterstattung in Deutschland an Vielfalt und Multiperspektivität mangelt und Themen wie Klimawandel und Kapitalismus nur so weit behandelt werden wie es der*die Mittelschichtsdeutsche verdauen kann.

Gezielte Programme für Arbeiterkinder in den Redaktionen sind hilfreich, aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Solange der Kapitalismus bestehen bleibt, wird er die Entstehung eines pluralistischen und propagandaresistenten Medienwesens zuverlässig sabotieren. Soziale Ungleichheit, d.h. die sie hervorrufende Klassengesellschaft, muss überwunden werden. Digitale Kommunikation könnte besser sein, wenn nicht profitorientierte Kapitalist*innen bestimmen, wer nach welchem System welche Informationen erhält, sondern eine demokratische Öffentlichkeit sich die Macht über die Räume, in denen sie debattiert, erkämpft. Nicht die Technik ist das Übel, sondern die Klasse, die ihren Entwicklungscharakter bestimmt. Ich fordere Enteignungen.

Auch journalistische Redaktionen sollten keine Eigentümer haben. Einzelne Chefredakteur*innen sollten nicht über die Redakteur*innen hinweg Artikel, Meinungen und Themen setzen können. Chefredaktionen sind nicht nötig, um guten Journalismus zu machen. Es braucht basisdemokratisch organisierte Redaktionen. Vergenossenschaftlichungen können ein Schritt in die richtige Richtung sein. Warum nicht ein Medienhäusersyndikat? Warum nicht aus zwei deutschen Weltkriegen lernen, die Bundeswehr auflösen und mit 100 Milliarden ein anderes Bildungswesen aufbauen?

Anmerkungen

1 Statista: Soziale Netzwerke als Nachrichtenquelle weltweit. de.statista.com; Ebd.: Soziale Netzwerke als Nachrichtenquelle in Deutschland. de.statista.com je abgerufen am 17.11.2023.; sowie: Hölig, Sascha und Leonie Wunderlich (2022): Instagram statt tagesschau? Die Rolle Sozialer Medien in der Nachrichtennutzung. Über Chancen und Risiken. link.springer.com.

2 Zweig, K.; Deussen; O. Krafft, T. (2017): Algorithmen und Meinungsbildung. Eine grundlegende Einführung. link.springer.com Abrufdatum: 17.11.2023.

3 Graber, Robin; Lindemann, Thomas (2018): Neue Propaganda im Internet. Social Bots und das Prinzip sozialer Bewährtheit als Instrumente der Propaganda. link.springer.com.

4 Weischenberg, Siegfried; Malik, Maja; Scholl, Armin (2007): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. link.springer.com.

5 ebd.

6 Statista. Entwicklung der verkauften Auflage der Tageszeitungen in Deutschland im jeweils 2. Quartal ausgewählter Jahre von 1991 bis 2023. de.statista.com Abrufdatum: 17.11.2023.

7 Moring, Andreas (2016). Entwicklung des deutschen Zeitungsmarktes. link.springer.com.

8 Pürer, H. Werner Faulstich (1995): Grundwissen Medien. link.springer.com Abrufdatum: 17.11.2023.

9 IMI-Aktuell 2023/718 Kriegstüchtigkeit & Nationalbewusstsein & IMI-Aktuell 2023/719 Kriegstüchtig? Völlig daneben!

10 Deutschland hat bald größte konventionelle Nato-Armee in Europa. spiegel.de 31.05.2022.