IMI-Analyse 2023/50 - in: Ausdruck Dezember 2023

Der Spiegel der Gesellschaft?

Über die deutsche Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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Damit hatten sie laut einhelligen Medienberichten den großen Coup gemacht, sich ins Zentrum der öffentlichen Debatte katapultiert und sich Sendezeit in Talkshows, Interviews mit großen Medien und bestimmt einiges an gut dotierten Vorträgen gesichert: Der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer klagen in ihrem Buch „Die Vierte Gewalt“[1] an, eine Mehrheit der Medienmachenden würde im Bezug auf den Ukrainekrieg einseitig informieren und die Bundesregierung in Bezug auf Waffenlieferungen vor sich hertreiben – und das obwohl sich diese scheinbar einhellige oder überwiegende Medienmeinung nicht mit der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung decke. Journalist*innen deutscher Leitmedien nähmen es sich zur Aufgabe, die Bevölkerung von ihrer Meinung überzeugen zu wollen – und verfehlten dabei ihre Aufgabe als vierte Gewalt in der Demokratie.

Passend zu dieser These war das Buch mit dem Untertitel „Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ versehen. In der Talkshow von Markus Lanz im ZDF durften die beiden dann die Kernthesen ihres Buchs vorstellen und gegen zwei Journalisten verteidigen. „Die Medien“, oder zumindest einige von ihnen, stellten sich also dieser Kritik – wobei sie sich diese freilich nicht zu eigen machten und die beiden Autoren im Kreuzfeuer der Kritik standen. Bemängelt wurde unter anderem, dass das Buch, so gar nicht wissenschaftlich, komplett ohne eigene quantitative Forschungsergebnisse geschrieben wurde. Diese Untersuchung, versprachen sie jedoch damals, sei schon in Arbeit und wurde dann im Mai 2023 unter dem Titel „Die veröffentlichte Meinung“ publiziert.[2]

Jedoch erschien zuvor eine von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner Stiftung (OBS) finanzierte Studie dreier Wissenschaftler der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, auf die sich die beiden Autoren schon berufen hatten, als hätten sie bereits im Vorfeld Einblick in die Ergebnisse gehabt. Doch, so zumindest der Tenor in vielen Medien, hätten die Studienergebnisse die Behauptungen Welzers und Prechts eher entkräftet. Aber stimmt das? Oder suchen sich hier wieder einige sehr von sich selbst überzeugte Medienmacher*innen nicht die Kirschen heraus, die ihre Positionen scheinbar unterfüttern?

Die Studienergebnisse von Maurer, Jost und Haßler

Die von Prof. Marcus Maurer, Dr. Pablo Jost und Dr. Jörg Haßler durchgeführte Studie betrachtet die Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg in acht Leitmedien (FAZ, SZ, Bild, Spiegel und Zeit, sowie den Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF und RTL) im Zeitraum vom 24. Februar bis zum 31. Mai 2022. Im Zeitraum sind anhand von inhaltlichen Textmerkmalen, die kennzeichneten, dass sie sich mit Inhalten der betreffenden Thematik befassen, 4292 Beiträge identifiziert worden. Diese wurden von einem Codierteam der Ludwig-Maximilians-Universität nach der Methode der quantitativen Inhaltsanalyse codiert. Die abgefragten inhaltlichen und Bewertungs-Kategorien spiegeln folgende Forschungsfragen wieder: welche Akteure in der Berichterstattung vorkommen und wie diese bewertet werden; welche Maßnahmen zur Lösung des Konflikts in den untersuchten Medien thematisiert werden und wie diese bewertet werden; welche thematischen Schwerpunkte die Berichterstattung hatte; ob sich die untersuchten Medien in ihrer Berichterstattung unterscheiden und ob die untersuchten Medien die Position der Bundesregierung widerspiegeln und wohl auch wie abweichende Positionen dargestellt werden (obwohl hierfür keine Ergebnisse präsentiert wurden). Die Ergebnisse wurden u.a. in einem vorläufigen und einem abschließenden Forschungsbericht am 15. Dezember 2022 und am 31. Januar 2023 öffentlich zugänglich gemacht.[3]

Nach zuerst wenig überraschenden Ergebnissen über die Anzahl der Beiträge geht der Bericht auf die Schwerpunkte der Berichterstattung ein. Die Themen wurden hierfür in vier Gruppen zusammengefasst. Berichte über das Kriegsgeschehen und über Forderungen zur Beendigung des Krieges dominierten hier und wurden in 30% bis 50% der Artikel und respektive 25% bis 40% der Artikel thematisiert, wie in Grafik 1 zu sehen ist. In 10% bis 20% der Artikel thematisiert wurden der Einfluss des Kriegs auf Deutschland und der Rolle Deutschlands im Krieg; wobei die Rolle Deutschlands besonders während der Debatte um die Lieferung schwerer Waffen im April 2022 über den weniger werdenden Berichten über Auswirkungen des Kriegs auf Deutschland lag. Die Forderungen zum Ende des Krieges gipfelten dann auch mit der Entscheidung zur Lieferung schwerer Waffen Anfang Mai über den Kriegsgeschehnissen. Trotzdem hätten die Medien hauptsächlich die Perspektive Deutschlands in 42% der Beiträge eingenommen, weit öfter als den Blickwinkel der Ukraine (28%), anderer Länder (20%) oder Russlands (10%). Wie diese Perspektive ermittelt wurde, wurde jedoch nicht erklärt.

Hauptakteure: deutsche Regierungspolitiker*innen

Dies stimmt im Falle Deutschlands damit überein, dass von den maximal drei zentralen Akteuren, die aus jedem Artikel codiert werden konnten, mit 21% der politischen Akteursnennungen hauptsächlich deutsche Politiker*innen im Vordergrund standen. Dahinter lagen russische Politiker mit 8% vor ukrainischen Politikern mit 4%, wobei sich dies nahezu nur auf Putin (7,5%) und Selenskyj (3,5%) beschränkte. Insgesamt machten Politiker*innen 80% der Akteursnennungen aus. „Die verbleibenden 20 Prozent setzten sich im Wesentlichen aus Akteuren der Zivilgesellschaft zusammen“, ergänzt noch durch Wissenschaftler und Journalisten, die jedoch nur je in rund 2% der Beiträge erwähnt wurden. Unter den Akteursnennungen deutscher Politiker*innen nahm die SPD mit 48% fast die Hälfte ein, gefolgt von den Grünen mit 23% und der zweitstärksten Fraktion im Parlament, der Union, mit 17%. Insgesamt bekamen die Regierungsparteien mit zusammen 80% das Vierfache an Aufmerksamkeit wie die Oppositionsparteien zusammen. Die AfD und die Linke kamen derweil auf je nur unter 2% Anteil. Die Autoren der Studie erklären sich dies damit, dass die Regierungsparteien im Gegensatz zur Opposition „unmittelbar mit Entscheidungen und Handlungen im Rahmen der Krisenbewältigung befasst sind“. Doch geben sie zu bedenken, dass dies dazu führe, „dass eventuell abweichende Positionen der Oppositionsparteien medial weniger präsent sind.“

Wie die genannten Akteure innerhalb der Medien bewertet wurden, wurde ebenso in einer fünfstufigen Skala codiert und dann zu einem Saldo verrechnet, der in Grafik 2 zu sehen ist. Wenig überraschend bekamen Putin und Russland die schlechtesten Bewertungen und Selenskyj und die Ukraine überwiegend gute. Besser kam nur Außenministerin Annalena Baerbock mit 68% weg. Auch ihr Parteikollege Robert Habeck und die NATO wurden insgesamt eher positiv, und “die Bundesregierung“, Scholz und Lamprecht hingegen eher negativ bewertet. Die Autoren folgern also: „Insgesamt zeigt sich nicht, dass die von uns untersuchten Medien gegenüber der Bundesregierung besonders kritiklos waren“, sondern sie überwiegend kritisierten, mit Ausnahme der Grünen. Scholz wurde in 30% der Berichte über ihn überwiegend als zaudernd beschrieben, weit öfter denn überlegt/abwägend (4%) oder entscheidungsstark/tatkräftig (10%). Wie Grafik 3+4 zeigen, erreichen die Bewertungen von Scholz (-80%), der Bundesregierung (-50%) und auch der Einigkeit in der Regierungskoalition (-70%) Mitte April Tiefpunkte und erholten sich dann wieder, wobei Scholz mit der Ankündigung der Lieferung schwerer Waffen sogar kurz ein positives Saldo (rund 20%) erlangte.

Sehr kurz nur wird erwähnt, dass sich die Bewertungen von Akteuren zudem „in Richtung und Extremität“ kaum zwischen den eigentlich neutralen journalistischen Darstellungsformen (z.B. Nachricht und Bericht) und meinungsbetonten Stilformen (Kommentar, Kritik o.ä.) unterscheiden. Die Anzahl der Bewertungen lag in den eigentlich neutralen Textformen (40%) nicht sehr weit hinter den meinungsbetonten Textformen (60%).

Kriegsverursacher und die richtigen Maßnahmen zur Beendigung

Die Autoren und ihr Codierteam untersuchten auch, inwieweit die Verantwortung des Krieges den Kriegsparteien, Russland und der Ukraine sowie dem Westen zugeschrieben wurde. Artikel wurden so codiert, dass sie mehrere Verantwortliche nennen konnten. Demnach „wurde in nahezu allen Beiträgen (93%) Russland bzw. Präsident Putin die alleinige Verantwortung für den Krieg zugeschrieben. ‚Der Westen‘ wurde in nur 4% als (mit-)verantwortlich bezeichnet, die Ukraine noch seltener (2%).“ Die Zeitungen (ohne TV) benannten Russlands Widersacher in knapp 10% ihrer Beiträge als mitverantwortlich, mit Ausnahme der Bild, die zusammen mit den Fernsehnachrichten in unter 5% ihrer Beiträge eine Mitschuld der Ukraine oder des Westens diskutierte. Zudem wurde untersucht, ob Russland in den Artikeln „ein Motiv für den Angriff auf die Ukraine unterstellt wurde, und um welches Motiv es sich dabei ggf. handelt.“ Jedoch waren hier nur drei Kategorien gegeben: Großmachtstreben, Verteidigung gegen die NATO(-Osterweiterung) und wirtschaftliche Interessen. Motive Russlands wurden nur in knapp 6% der Artikel erwähnt, doch wenn „sie thematisiert wurden, dominierte eindeutig das Motiv des Großmachtstrebens (71% der Beiträge). In immerhin 28 Prozent der Beiträge wurde als zentrales Motiv für den Angriff die Verteidigung gegen die NATO genannt. Wirtschaftliche Motive wurden Russland so gut wie nie unterstellt.“ Eine Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung des Donbass, die Russland selbst anführte, wurde entweder nicht genannt oder nicht kodiert.

Ähnlich einhellig berichteten die Medien auch über die Maßnahmen zur Beendigung des Krieges. Wobei nicht nur die humanitäre Unterstützung der Ukraine (93%), sondern auch die militärische Unterstützung im Allgemeinen (74%), die Lieferung schwerer Waffen (66%) und die wirtschaftlichen Sanktionen (64%) weit durchgehender positiv bewertet wurden als diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges, die nur in 43% der Beiträge als sinnvoll dargestellt wurden. Hier lohnt sich die Betrachtung der einzelnen Medien in Grafik 4: Denn auch wenn nur die Tagesschau diplomatische Maßnahmen im Saldo überwiegend negativ bewertete, wurden diese von den meisten Medien nur in maximal 10% der Beiträge öfter positiv als negativ bewertet, mit Ausnahme der FAZ (15%) der Zeit (+-25%) und des Spiegels, der diese sogar 50% öfter als sinnvoll denn nicht sinnvoll bewertete. Der Spiegel fiel zudem etwas aus der Reihe, weil er (mit rund 30%) die wirtschaftlichen Sanktionen nur halb so oft positiv bewertete wie der Schnitt der anderen Medien, die sich darin nahe lagen, und die Lieferung schwerer Waffen in dem Zeitraum mit unter 10% positivem Saldo, fast so oft als nicht-sinnvoll wie sinnvoll bewertete – weit ausgeglichener als andere Medien, die diese überwiegend positiv bewerteten.

Im Fazit entschuldigt

Im Fazit zeigen die Autoren viel Verständnis für die Bereiche, in denen die „untersuchten Medien tatsächlich sehr einheitlich über den Krieg berichtet“ haben. Im Falle der „Zuschreibung der Kriegsverantwortung an Russland und die Bewertung der beiden Kriegsparteien“ lässt der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine für die Medienwissenschaftler „wenig Spielraum für andere Bewertungen“. Vorauseilend wurde zudem die nahezu durchweg positiv bewertete „militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen im Besonderen“, die sogar „als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen dargestellt“ wurden, so gerechtfertigt, dass dies „angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine und der offensichtlich mangelnden Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite verständlich“ sei. Zumal es danach nur als „umso bemerkenswerter“ beschrieben wird, „dass der Spiegel als einziges Medium zumindest über die Lieferung schwerer Waffen sehr abwägend berichtete und eine diplomatische Lösung als sinnvoller darstellte.“[4] Woraufhin dieses einsame Beispiel zur Schlussfolgerung führte: „Vollkommen einheitlich berichteten die untersuchten Medien also nicht.“

Trotzdem existiert aus Sicht der Autoren „im Untersuchungszeitraum ein relativ starker Zusammenhang zwischen der Tendenz der Medienberichterstattung und der über Umfragen gemessenen Bevölkerungsmeinung zu Waffenlieferungen“, wobei sich „mit den vorliegenden Daten allerdings nicht prüfen“ ließe, „ob die Medienberichterstattung die Bevölkerungsmeinung beeinflusst hat oder umgekehrt die Medien auf die Stimmung in der Bevölkerung reagiert haben“, „weil die Befragungsdaten dazu viel zu selten erhoben“ würden. Hier wurde offensichtlich auf Prechts und Welzers These geantwortet. Auch das erneute Hinweisen darauf, dass die Berichterstattung „schon gar nicht regierungsfreundlich aus[falle]“, könnte sich auf eine (missverstandene?) Kritik von Welzer und Precht beziehen. Für besonders meinungsstarke Blogs wie den Volksverpetzer und Übermedien war dies jedoch das Stichwort. Sie titelten freudig: „Studie: Medien waren zum Ukrainekrieg regierungskritisch & differenziert.“[5]

Welzers Thesen: Journalismus gegen die Demokratie

Eingangs seines Artikels „Die veröffentlichte Meinung“, in dem Welzer zusammen mit Leo Keller seine Studienergebnisse präsentiert, schickt er noch einmal seine Kernthesen aus „Die vierte Gewalt“ und damit seine Motivation für diese Forschung voran. Er beginnt dies mit einer Anekdote. Aus der Redaktion der Zeitung Die Welt habe man ihm eine Anfrage zu einer Umfrage des ARD-Deutschlandtrends gesendet, die dokumentierte, dass unter den 18- bis 34-Jährigen die Ablehnung gegenüber der Lieferung von Leopard 2 Panzern mit 52 % am größten sei. Er solle sich dahingehend äußern, ob die „Medien den Jüngeren nur ›besser erklären‹“ müssten, „warum Leopard-Lieferungen nötig sind?“[6] Welzer hält dies für epistemisch. Es ließe „sich im deutschen politischen Journalismus eine solche Einhelligkeit in Fragen des Ukrainekrieges beobachten, als sei tatsächlich die Funktion des Journalismus für die moderne demokratische Gesellschaft, für richtig Erkanntes unters Volk zu bringen, auf dass dieses es gleichfalls als richtig erkennt.“ Jedoch sei die genuine Aufgabe des Journalismus in einer Demokratie eine andere, „nämlich die in »vielfältige Interessen differenzierte Gesellschaft« abzubilden“, gerade da „marginalisierte Gruppen geringere Chancen haben, ihre Auffassungen politisch zur Geltung zu bringen.“ Die Leitmedien würden ihre „»Integrationsfunktion«, die ihnen neben der Informationsfunktion zukommt, kaum mehr wahrnehmen.“ Auf diese Weise transformiere „sich der politische Journalist zum politischen Akteur – freilich ohne dafür in irgendeiner Weise mandatiert zu sein.“

Der Sozialpsychologe Welzer, dessen Bücher sich mit der Massenpsychologie zu Gewalteskalationen wie dem Holocaust oder in Krisensituationen wie ökologischen Kollapsen beschäftigen, sieht in der in den Medien beobachtbaren „Komplexitätsreduktion zugunsten von eindeutigen Pro- und Kontra-Haltungen“ ein typisches Muster: „je unklarer und beängstigender eine Situation, desto eindeutiger die normativen Perspektiven und die daraus resultierenden Forderungen an die verantwortlichen Akteure.“ Jedoch sei es, „zumal für Krisen, die mit Gewalt und Eskalationsrisiken einhergehen“, verantwortungsvoll, „ein möglichst breites Spektrum von Beobachtungen, Analysen und Einschätzungen zu liefern und bestimmte Perspektiven nicht von vornherein abzuwerten oder gar nicht zu berücksichtigen.“ So sei beispielsweise die gesellschaftliche Meinungsvielfalt in der Frage nach Waffenlieferungen, die „von etwa der Hälfte der Bevölkerung unterstützt und von der anderen Hälfte abgelehnt wird, in den Leitmedien mindestens grob abzubilden.“

Studienergebnisse von Welzers digitalem Mining

Die im Mai 2023 veröffentlichte Studie von Welzer und Keller untersuchte größtenteils dieselben Leitmedien wie die Studie der OBS, jedoch im weit größeren Zeitraum von Anfang Februar 2022 bis Ende Januar 2023. Dies führte zur weit größeren Anzahl von rund 107.000 Texten, die natürlich im Gegensatz zur OBS nicht händisch codiert, sondern mit einer von KI-gestützten Analysesoftware indexiert und kategorisiert wurden. Heraus fiel die Zeit, die ihre Artikel nicht für solche automatisierten Prozesse bereitstellt. Dafür konnten Welzer und Keller, der CEO der Firma Blue Ocean Semantic Web ist, die die Datenbank mit all diesen Artikeln bereitstellte, zusätzlich „1,1 Millionen Beiträge aus 140 Regionalzeitungen auswerten.“ Darüber hinaus seien noch 13,5 Millionen Twitter-Beiträge analysiert worden. Die auf solche Prozesse spezialisierte KI wurde angewiesen, folgende quantitative Fragen aus der riesigen Datenmasse herauszufiltern: „wie oft wurde die Forderung nach Kampfpanzerlieferungen“ thematisiert und wie oft mögliche Eskalationspotentiale. Ebenso: welche Parteien und welche Expert*innen wurden im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg wie oft genannt und wie stehen diese Nennungen im Vergleich zu anderen bzw. wie veränderten sie sich im Verlauf der Zeit, und wie unterschieden „sich die Nennungsmuster in den einzelnen Medien-Kanälen“.

Die Entwicklung der für das Thema relevanten Veröffentlichungen ähnelt in den ersten Monaten der OBS-Kurve und stagniert danach. Mehr Volatilität bei weit höherer Quantität zeigten natürlich die Twitter-Posts, die ab September 2022 noch einmal stark zunahmen und im Februar 2023 noch einmal gipfelten.

In Bezug auf die Akteursnennungen kommt diese Studie zu ähnlichen Ergebnissen wie die obige: Den Großteil der Aufmerksamkeit bekamen Spitzenpolitiker*innen aus Berlin. Dies korreliere, so die Autoren, mit anderen Krisen wie der sogenannten Flüchtlingskrise und der Coronapandemie, „obwohl in allen drei Krisenfällen die soziale und politische Wirklichkeit durchaus auch von anderen Akteurgruppen gebildet wurde“. Sie nennen beispielsweise Krankenhauspersonal, Wissenschaftler*innen und Querdenker*innen in der Pandemie und „Militärs, Politik- und Rechtswissenschaftler, Waffenindustrie und Energiewirtschaft“ für den Krieg.

Die auch von der OBS-Studie belegte Dominanz deutscher politischer Akteure veranschaulichen die beiden Autoren mit einer Gegenüberstellung der Nennungen von Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, gegen die der Präsidenten Indiens, Brasiliens und Südafrikas, die zusammen (außer im November) stets um ein vielfaches weniger Aufmerksamkeit bekamen. Sie verweisen in dem Zuge auf eine Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR), die bestätigt, dass diese „von der westlichen Perspektive abweichende Sichtweisen“ auch in der Bevölkerung vorkommen. Doch einer der Autoren des ECFR und vier weitere von Welzer und Keller (auf unerklärte Weise) identifizierte internationale Experten, die dem hiesigen Narrativ widersprechen und in internationalen Medien wie der Financial Times oder dem Guardian häufig auftauchten, seien in den über 100.0000 Beiträgen der Leitmedien gerade 20-mal erschienen. Alle fünf zusammen bekamen damit gerade einmal ein Zwanzigstel der Aufmerksamkeit eines Anton Hofreiters und verglichen mit neun hiesigen, Waffenlieferungen fordernden „Experten“, wie Carlo Masala von der Bundeswehr Universität München und Generalinspekteur Eberhard Zorn, bekamen sie weniger als ein Vierzigstel der Aufmerksamkeit. Bezüglich dieser „Provinzialisierung“ verweisen sie auf eine weitere von der OBS stammende und mit „Das Verblassen der Welt“[7] betitelte Studie, „die das allmähliche Verschwinden des Auslands aus dem politischen Journalismus“ dokumentiert.

Öffentlichkeiten: Medien vs. Twitter

Eine weitere (teilweise kritisierte) Methode der beiden ist, die Berichterstattung der Medien den Posts auf Twitter gegenüberzustellen, zum Beispiel bezüglich der genannten Personen oder geäußerter Positionen. Auch wenn die Posts von Twitternutzer*innen natürlich nicht unbedingt die Meinung eines Querschnitts der Gesellschaft darstellen können, wie eine ordentlich durchgeführte Meinungsumfrage, sollte man der Methode jedoch nicht jede Erkenntnismöglichkeit absprechen.

Bezüglich der Spitzenpolitiker*innen sind nur geringe Unterschiede zwischen den beiden Sphären zu beobachten. So wurde Baerbock bei Twitter im Gegensatz zu den Medien öfter genannt als Habeck. Mehr ändert sich bezüglich weniger bekannter politischer Akteure und Expert*innen. In den Medien lag Strack-Zimmermann mit der doppelten Anzahl an Nennungen vor dem zweitplatzierten Anton Hofreiter, auf den Rolf Mützenich und Sarah Wagenknecht folgten. Auf Twitter hingegen lag Sarah Wagenknecht knapp vor Strack-Zimmermann, wobei die Plätze drei und vier von Alice Schwarzer und dem ehemaligen General Erich Vad belegt wurden, die in den Medien auf den Plätzen 14 und zwölf lagen. Auch bei den Parteinennungen gab es Unterschiede: Während die Rangfolge in den Medien ungefähr dem entspricht, was die OBS-Studie schon fand, lag die AfD auf Twitter noch vor den Grünen. In den Medien rangierte sie sogar hinter der Linken. Da „das professionelle Gefälle von Informations- und Wissensbeständen sowie Hintergrundwissen“ laut den Autoren „einen solchen Unterschied prinzipiell nachvollziehbar und auch wünschenswert“ mache, müsse sich dies „auch in Form von Differenzierung und weiten informationellen Horizonten übersetzen.“

Panzerlieferungen und Eskalationsrisiken

Die Studie von Welzer und Keller bestätigt bezüglich der tendenziösen Fokussierung für Waffenlieferungen, „dass die in der Mainzer Studie festgestellte Einheitlichkeit der Deutung keineswegs schwindet,“ sondern sich sogar noch vertiefe. Sie lehnen die Rechtfertigung der Autoren der Mainzer Universität jedoch ab und halten sie angesichts der nach damaligen Umfragen gar nicht so eindeutigen Meinung in der Bevölkerung für unverständlich. Es zeige „die Medienschaffenden in einer spezifischen Diskursgemeinschaft, die eine Auffassung teilt und kommuniziert.“ Für die Vertiefung dieses Diskurses spreche zum Beispiel, dass während der Debatte um die Lieferung von Kampfpanzern im Januar 2023 die Zuschreibung von Scholz als „zögernd“ sich um den Faktor 3,5 erhöhte, was ja auch schon im Zeitraum der OBS-Studie 30% der Scholz-Zuschreibungen ausmachte. Zudem habe während der Debatte um die Lieferung von Kampfpanzern im Januar laut Keller und Welzer die „Thematisierung von Risiken wie einer Entgrenzung des Krieges oder einer Eskalation zum Atomkrieg“ signifikant abgenommen. Im April/Mai 2022 und im Oktober 2022 habe der Anteil der Artikel, die sich mit Waffenlieferungen beschäftigten und wo das Eskalationsrisiko (u.a. mit Atomkrieg kodiert) eine Rolle spielte, noch bei 12 bzw. 17% gelegen, im ganzen Jahr durchschnittlich bei 11%. Im Januar 2023 habe sich dann zwar die Artikelmenge, die sich mit Waffenlieferungen beschäftigte, verdoppelt, jedoch sank die Thematisierung der Eskalationsrisiken im selben Zeitraum um die Hälfte.

Meinungen der Bevölkerung außer Acht gelassen

Dem sehr eindeutigen Meinungsbild unter den Journalisten bezüglich der Lieferung von Kampfpanzern stellen die Autoren gegenüber, dass die Bevölkerung weit gespaltener war, wie die Umfragen von ARD-Deutschlandtrend (46% pro vs. 43% contra), RTL/ntv-Trendbarometer (44% vs. 45%) und des ZDF-Politbarometers (56% vs. 38%) zeigten. Dort „befürchteten aber 48 Prozent eine erhöhte Gefahr der Entgrenzung des Krieges“, obwohl es in den Medien kaum noch thematisiert wurde. Dies zeigten auch die Twitterposts: Während die Zahl der Posts zu »Schwere Waffen« bzw. »Kampfpanzer« sich im Januar sogar verfünffachte (gegenüber dem Schnitt 2022), verdoppelte sich auch der Anteil der Posts daran, die sich mit einer möglichen Eskalation des Kriegs beschäftigten – während er sich in den Medien von einem schon geringeren Niveau nochmal halbierte. Dies zeigte sich auch an den zitierten Expert*innen: Während Befürworter*innen von Waffenlieferungen in den Medien mit 60% weit über den Kritiker*innen mit 34% lagen, unterlagen sie auf Twitter mit 35% zu 65%. Auch in der Debatte um Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen gehen die Leitmedien und Twitternutzer*innen stark auseinander. Ab März 2022 fällt die Zahl der Artikel in den Leitmedien, in denen Verhandlungen vorkommen, kontinuierlich. Auch auf Twitter wurde nach einem Höhepunkt im April 2022 zuerst immer weniger Beiträge mit Verhandlungen als Inhalt gepostet, doch stiegen solche Posts ab August wieder auf ihr April-Niveau, fielen dann wieder, um jedoch im Januar 2023 sogar auf das doppelte zu steigen. Auch hier versäumten es die Medien abzubilden, was die Bevölkerung anscheinend beschäftigte.

Welzers und Kellers Artikel ist offensichtlich eine sehr gerichtete Untersuchung, die im Falle der fünf ausgewählten internationalen Experten zurecht bezüglich einer voreingenommenen oder intransparenten Methode kritisiert werden kann. Mit dem Vergleich der Medienberichterstattung und der Twitterpostings konnte jedoch recht eindeutig eine Diskrepanz zwischen den beiden medialen Sphären nachgewiesen werden. Die aktiven Twitternutzer*innen gaben nicht nur Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer, Erich Vad und der AfD mehr Gewicht, sondern beim Thema der Waffenlieferungen auch einer möglichen Eskalation des Kriegs bis zum Atomkrieg. Da dies theoretisch auch nur bedeuten könnte, dass gewisse in den Medien vernachlässigte Meinungen auf Twitter stärker vertreten sind, sind die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute vieldeutig. Diese statistischen Erhebungen zeigen schließlich, dass diese Themen doch rund 40% der Bevölkerung beschäftigen, was in den Medien, wie auch die Mainzer Studien bestätigt, nicht widergespiegelt wurde. Auch die Provinzialisierung und Konzentration auf deutsche Spitzenpolitiker*innen wird in der Mainzer Studie bestätigt.

Die in der Mainzer Studie nachgewiesene, überwiegend sehr positive Darstellung von Waffenlieferungen und negative Bewertung von Verhandlungen in fast allen Medien außer dem Spiegel bestätigen Welzers Thesen ebenso und man bekommt im Fazit, in dem die OBS-Autoren die Journalisten rechtfertigen, das Gefühl, dass die Autoren die von Welzer kritisierte Auffassung teilen, die Rolle des Journalismus sei „für richtig Erkanntes unters Volk zu bringen“ und nicht, die Gesellschaft abzubilden.

Anmerkungen

1 Precht, Richard David und Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022.

2 Keller, Leo und Harald Welzer: Die veröffentlichte Meinung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg.

3 Prof. Marcus Maurer, Dr. Pablo Jost und Dr. Jörg Haßler: Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg. Forschungsbericht zu ersten Befunden otto-brenner-stiftung.de/[…]2022_Ukraine_Zwischenbericht.pdf 15.12.2022 und ebd.: [abschließender] Forschungsbericht für die Otto Brenner Stiftung otto-brenner-stiftung.de/[…]2023_Ukraine_Berichterstattung_Endbericht.pdf 31.01.2023.

4 Wirklich bemerkenswert ist jedoch, dass der Spiegel, ein ursprünglich durch die damaligen amerikanischen Besatzer gegründetes Medium, eigentlich das Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis in seiner Satzung festgeschrieben hat und trotzdem diese Abweichung wagt.

5 Krämer, Dorothée: Studie: Medien waren zum Ukrainekrieg regierungskritisch & differenziert. volksverpetzer.de 23.12.2022 und Andrej Reisin: Leitmedien berichteten weder durchgehend einheitlich noch regierungsfreundlich. In uebermedien.de 15.12.2022. Reisin hatte sich besonders auf Welzer eingeschossen: acht von zwölf Beiträgen zu Welzer auf uebermedien.de stammen von ihm und sie strotzen vor abwertenden Zuschreibungen und cherrypicking.

6 Alle folgenden Zitate beziehen sich auf „Die veröffentlichte Meinung“ aus Fußnote 2­.

7 Engelhardt, Marc: Das Verblassen der Welt. Auslandsberichterstattung in der Krise. otto-brenner-stiftung.de 2022.