IMI-Standpunkt 2023/045

Was ist die Zwischenbilanz nach der ukrainischen Gegenoffensive?

von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 30. November 2023

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Eineinhalb Jahre nach Beginn des Angriffs russischer Regierungstruppen auf die Ukraine und bei Wintereinbruch nach der ukrainischen Gegenoffensive vermisse ich in den Massenmedien einen Überblick – einen realitätsnahen Überblick – über den bisherigen Kriegsverlauf. Insbesondere finde ich Berichte über die Zahlen getöteter ukrainischer oder russischer Soldaten selten. Fast täglich kommen Nachrichten über zivile ukrainische Opfer und zerstörte Gebäude und Infrastruktur. Das Medienmanagement der ukrainischen und NATO-Militärs scheint gut zu funktionieren: die Front wird vernebelt und im Hinterland gibt es regelmäßig mediale Spotlights auf zerbombte ukrainische Wohnhäuser, getötete Zivilisten und zerstörte Infrastruktur. So versucht man offensichtlich, die Stimmung im Westen für Waffenlieferungen aufrecht zu erhalten.

Die bundesrepublikanische Illustrierte Stern hat eine erhellende Grafik zum Kriegsverlauf in 2023 veröffentlicht (1) – erhellend, wenn die Stern-Recherchen zutreffen: Die Grafik zeigt Geländegewinne Russlands und der Ukraine von Januar bis September 2023 und der Stern zieht damit eine Bilanz der ukrainischen sommerlichen Gegenoffensive. Es gibt demnach ungefähr gleich viele (sic!) rote, russische und blaue, ukrainische Geländegewinne! Beispielsweise südöstlich von Saporischja haben sowohl Russland als auch die Ukraine in zwei Zonen dem Gegner Territorium abgerungen. Die Tiefe und Breite dieser Geländegewinne dürfte maximal 20 Kilometer betragen. Bei Donezk hat laut Stern Russland mehrere Geländegewinne erzielt, laut der Grafik vielleicht fünf Kilometer breit und tief. Südlich und nördlich von Bahmut hat die Ukraine kleine Gebiete erobert. Um Bahmut hat Russland Bodengewinne gemacht, in der Breite vielleicht 30 Kilometer und 20 Kilometer tief. Der Stern hat diese Grafik auf Papier, analog, nicht online veröffentlicht. (1)

Über Opferzahlen – insgesamt – schweigen sich die westlichen Massenmedien meist aus und berichten stattdessen über zivile Opfer einzelner russischer Attacken in ukrainischen Wohngebieten – und blenden damit die vermutlich viel höheren Opferzahlen an der Front aus. Die Massenmedien leisten so einen Beitrag dazu, den Schrecken und Blutzoll dieses Krieges zu verschleiern und die Kriegsbereitschaft der Bürger:innen in Westeuropa zu befeuern. Eine seltene Ausnahme findet sich im täglichen Update des britischen Guardian vom 18. November: er kolportiert, insgesamt seien in diesem Krieg über 300.000 russische Menschen getötet worden. (2) Die Gesamtzahl der ukrainischen Opfer wird auch vom Guardian ausgespart. Wenn ich dem Guardian glaube und annehme, insgesamt seien durch diesen Krieg auch 200.000 ukrainische Menschen zu Tode gebracht worden, dann ergibt sich nach eineinhalb Jahren offenen Krieges: eine halbe Million Menschen ist ums Leben gebracht worden!!!

Zur weiteren Zwischenbilanz: aus antimilitaristischer Sicht hat sich die vernünftige friedenspolitische Prognose bewahrheitet, dass dieser Krieg nicht in Monaten beendet ist, wie manche Massenmedien im Frühjahr 2022 kriegslüstern schwadronierten. (Vgl.: 3) Auch eineinhalb Jahre nach Beginn des Krieges scheint die Ukraine im Wortsinn meilenweit davon entfernt, die russisch annektierten Gebiete im Osten zurück zu erobern, geschweige denn die Krim. Vor diesem Hintergrund hat auch die NATO ihre Ziele jüngst neu definieren müssen, ohne allerdings die Fortsetzung des Krieges grundsätzlich in Frage zu stellen: „Entsprechend schraubt die NATO ihre Ziele herunter. ‚Halten ist Gewinnen‘, lautet nun die Parole, und das ist deutlich weniger ambitioniert als das, was der Westen sich von der jüngsten ukrainischen Offensive erhofft hatte: dass Kiew nämlich mit westlichen Waffen einen Durchbruch erkämpfen kann, der Putin dann an den Verhandlungstisch zwingt. Das wird auf absehbare Zeit nicht geschehen. […] Wohin das alles führt, ist derzeit unklar. Solange die Ukraine nicht aufgibt, sollte man ihr aber weiter beistehen.“ (4)

Wofür wurden also so viele Menschenleben geopfert? Ich meine sowohl die uniformierten wie die zivilen Getöteten. Will die ukrainische Regierung und ihre Unterstützung in Berlin, Brüssel und Washington weiterhin in Kauf nehmen, dass Menschen in der Ukraine durch Sprengstoff, Strom- und Wasserausfall ums Leben kommen – für 10 bis 20 Kilometer Land im ukrainischen Osten, das ihnen die russische Armee wenige Tage und Kilometer weiter schon wieder wegnimmt, jeweils mit Blutzoll?!

Diese militarisierte Politik hat aus meiner Sicht in eine Sackgasse – und ein menschliches Inferno – geführt – außer für Russland und die USA: Washington kann verbuchen, dass ihr Rivale militärisch auf Jahre geschwächt wird und das Weiße Haus nimmt einen russischen Atomschlag in Europa in Kauf. Moskau hat seinen einzigen strategischen maritimen Zugang zu ganzjährig eisfreien Meeren über die Krim und das Schwarze Meer territorial – abgesichert – und das Vorrücken der NATO  und der EU in die Ukraine gebremst. Die Menschen in Europa, die mit Klimawandel, Inflation und mehr kämpfen, scheinen den Verantwortlichen in Moskau und Washington egal. Trifft dies auch für die Verantwortlichen in Berlin und Kiew zu?

Anmerkungen

(1) Wenn die Zeit zur Waffe wird. Von Stefan Schmitz, Marc Etzold, Bettina Sengling in: Der Stern (Printausgabe) 12.10.2023.

(2) Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 633, The Guardian, 18.11.2023

(3) Von Leoparden, Tigern und Siegen in der Ukraine nach dem 1. September. Friedensbewegter gesunder Menschenverstand in medialer Schlacht und Kriegspropaganda. IMI-Standpunkt 2022/038, von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 16. September 2022.

(4) Die NATO schraubt ihre Ziele herunter, FAZ, 28.11.2023.