IMI-Mitteilung
Deutschland im Kriegszustand?!
Bericht vom 27. Kongress der Informationsstelle Militarisierung
von: IMI | Veröffentlicht am: 30. November 2023
Am 25. und 26. November 2023 fand der alljährliche Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) zum inzwischen bereits 27. Mal statt. Über die Tage verteilt rund 200 Menschen informierten sich und diskutierten über „Deutschland im Kriegszustand?!“ in der Hermann-Hepper-Halle in Tübingen.Nachdem coronabedingt damit länger ausgesetzt werden musste, konnte es am Freitagabend in diesem Jahr auch endlich wieder eine Auftaktveranstaltung in der Hausbar des Wohnprojektes Schellingstraße geben. Mit einer Punk-Rock-Lyrik-Lesung mit Texten, die seit Beginn des Ukraine-Krieges entstanden sind, wurde der Kongress in lockerer und gemütlicher Atmosphäre eröffnet.
Den Auftakt am Samstag bestritt IMI-Vorstand Tobias Pflüger unter dem Titel „Deutschland im Krieg (mit Russland)?“ Er kritisierte darin sowohl den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, als auch Waffenlieferungen und Ausbildung ukrainischer Soldat*innen in Deutschland. Damit habe Deutschland die Schwelle zur direkten Kriegsbeteiligung faktisch überschritten, wie auch eine Reihe juristischer Einschätzungen, darunter auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, nahelegten. Medial, aber auch seitens politischer Akteure wie Außenministerin Baerbock werde teils offen eingeräumt, man befinde sich im Krieg mit Russland. Die Formulierung von der „Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“ in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 9. November 2023 sei damit folgerichtig. Pflüger: „Dieses Land wird von der Ampel-Bundesregierung aus SPD, GRÜNEN und FDP in eine mentale, politische und materielle Kriegstüchtigkeit geführt. Dazu wird aufgerüstet, mit Milliarden an Kosten, zugleich findet Sozialabbau statt. Es ist Zeit, dazu Nein zu sagen und mit allen verfügbaren Kräften gegen diese Militarisierung zu mobilisieren.“
Der Referent Pablo Flock, der Mitarbeiter der IMI ist und seinen Master in Global Studies mit einer Diskursanalyse zu Verschwörungstheorien in rechtsextremen Medien abschloss, begann das Panel „Die Medien im (Ukraine-)Krieg“ mit der Frage, ob die Medien in Deutschland im Krieg seien, und entgegnete sofort, dass es keineswegs den Druck wie in der Ukraine oder gar Russland auf die Medien gebe. Trotzdem scheint es, als ob die genannten 10 Grundsätze der Kriegspropaganda in Deutschland zuträfen. Die von Richard D. Precht und Harald Welzer angestoßene Debatte, ob die Medien einseitig für Waffenlieferungen und gegen Verhandlungen berichtet hätten, wurde anhand der Ergebnisse zweier quantitativer Studien, eine von der Otto-Brenner-Stiftung finanzierte und eine von Welzer selbst, erörtert. Letztendlich sprächen beide Studien dafür, da sie zeigten, dass nahezu alle Medien die Lieferung schwerer Waffen überwiegend positiv und Verhandlungen überwiegend negativ darstellten. Zudem sei der Diskurs sehr auf deutsche Politiker*innen fokussiert gewesen. Als Faktoren dafür nannte er hier die Beeinflussung durch Thinktanks wie dem Zentrum Liberale Moderne, aber auch besonders die Zentralisierung und Prekarisierung des Journalismus.
Unter dem Titel „Mental im Krieg?“ folgten mehrere kürzere Beiträge auf einem gemeinsamen Podium. Einleitend stellte Alexander Kleiß, Beirat der Informationsstelle Militarisierung, das Konzept des „banal militarism“ vor, das wesentlich auf die Wissenschaflter*innen Tanja Thomas und Fabian Virchow zurückgehe und an das ältere Konzept des „banal nationalism“ anknüpfe. Übersetzt werden könnten beide als „Veralltäglichung“ des Nationalen bzw. Militärischen. Anhand der Social-Media-Kampagne „Free the Leopards“, mit der – auf Tierrechtsparolen anspielend – für die Lieferung von Kampfpanzern geworben wurde, diente dem Referenten dabei als ein Beispiel, wie damit zugleich eine Verharmlosung und Verherrlichung von Waffensystemen und den Kriegen, in denen sie zum Einsatz kommen, einhergehe. Als weiteres, eindrückliches Beispiel hierfür nannte und zeigte der Referent das Video „Supergeil“, welches das ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlicht hatte. Dabei handelte es sich um ein neu zusammengeschnittenes Musikvideo, in dem deutsche Waffen glorifiziert und um deren Lieferung gebeten wurde.
Anschließend stellte Jacqueline Andres, Mitglied im Vorstand der IMI, dar, wie Motive an sich emanzipatorischer Bewegungen wie dem Humanismus, dem Feminismus und der queeren Community in den Kriegsdiskurs eingebunden würden. Als Beispiele dienten hierbei das sog. Einhorn-Bataillon der ukrainischen Armee und Regenbogen-Fahnen in den Ruinen von Gaza. Das Narrativ, mit militärischer Gewalt „Zivilisation“ in anderen Gesellschaften durchzusetzen, sei keineswegs neu, wie Andres im Rückgriff auf koloniale Diskurse darstellte. Besonders im Falle des Feminismus stünde diese Instrumentalisierung in einem eklatanten Widerspruch zum eigentlichen Kern des Kampfes gegen Herrschaft und das Patriarchat. Militär und Militarismus seinen geradezu deren Zuspitzung und müssten aus feministischer Perspektive bekämpft werden.
Anschließend referierte Michael Schulze von Glaßer, Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK) und langjähriger Beobachter der Rekrutierungsbemühungen der Bundeswehr. Hinsichtlich der Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr ließe sich eigentlich keine Zeitenwende ausmachen, so von Glaßer. Denn das Problem, dass die Bundeswehr nicht genug Rekrut*innen finde, bestehe schon lange, spätestens seit der von Ursula von der Leyen 2016 ausgerufenen „Trendwende Personal“. Die Bundeswehr wolle auf über 200.000 Kräfte anwachsen, „dümpelt aber in der Praxis stets nur um die 180.000 herum“. Mit dem russischen Angriff und der ausgerufenen Zeitenwende habe es zwar einen ganz kurzen Zuwachs bei den Bewerbungen gegeben, seither seien sie aber eher rückläufig gegenüber den Zeiträumen zuvor. Zweifellos werde die Bundeswehr immer aggressiver und mit immer mehr unterschiedlichen Formaten, v.a. auf Social Media, für sich werben. Dieser Trend wäre jedoch bereits zuvor offensichtlich gewesen – und aus Sicht des Militärs auch offensichtlich nötig.
Zweifellos mit der ausgerufenen Zeitenwende in Verbindung stünden dem Referenten Chris Hüppmeier zufolge jedoch die aktuellen Angriffe auf die Zivilklauseln – Selbstverpflichtungen wissenschaftlicher Institutionen wie Hochschulen, sich nicht für militärische Zwecke einspannen zu lassen. Diese seien auch eine Konsequenz aus der Instrumentalisierung der Wissenschaft im Zweiten Weltkrieg und ihrer Rolle bei der Entwicklung von Waffen, mit denen sich mehrfach der ganze Planet zerstören ließe. Aktuell jedoch werde von Wissenschaftsverbänden und der Politik vehement eine Abschaffung der Zivilklauseln und – gestützt auf rassistische Motive („Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die Partei verbergen“, Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin für Bildung und Forschung) eine Renationalisierung der Wissenschaft angestrebt. Dies stieße erfreulicherweise auf Widerstand, der sich noch intensivieren könnte, wenn künftig die Landesregierung Hessen mit einem quasi-Verbot von Zivilklauseln in die Autonomie der Hochschulen eingreifen wolle.
Am Samstagabend wurde über „Rüstungsexporte: Vehikel für Macht- und Interessenspolitik“ diskutiert.Susanne Weipert,die Koordinatorin der Aktion Aufschrei -Stoppt den Waffenhandel, beschrieb dabei die aktuelle Problematik, dass die Einhaltung der Rüstungsexportrichtlinien gesetzlich nicht geprüft und Verstöße nicht sanktioniert werden könnten. Ein Rüstungsexportgesetz solle hier Abhilfe schaffen, allerdings sträube sich die Bundesregierung vor allem, ein Verbandsklagerecht darin zu verankern, was eines der wesentlichsten Defizite der bislang vorliegenden Eckpunkte für ein solches Gesetz sei. Im Anschluss präsentierte Claudia Haydt, die Mitglied im IMI-Vorstand ist, eine grundsätzliche Kritik an jedweden Waffenexporten. Zu unterscheiden seien direkte Gründe, wodurch Waffenlieferungen zu einer unmittelbaren Beihilfe und Mittäterschaft in Konflikten würden (etwa zu Krieg, Vertreibung, Unterdrückung, Ausbeutung). Daneben hätten Waffenlieferungen aber auch negative strukturelle Auswirkungen (wie die Schwächung ziviler Alternativen, Wettrüsten, verstärkte Spannungen). Rüstungshandel gehöre zu den korruptionsanfälligsten Wirtschaftssektoren. Auch in Deutschland belegt der Rechnungshof zunehmende Verstöße gegen Richtlinien zur Korruptionsbekämpfung. Eine Abkehr von der bisherigen Rüstungsexportpolitik sei deshalb dringend geboten, so Haydts abschließende Kritik.
Der Auftakt am Sonntagmorgen beschäftigte sich mit „Kriegswirtschaft? Eine wirtschafts- und militärpolitische Einordnung“. IMI-Beirat Martin Kirsch machte den Anfang, indem er argumentierte, um von einer voll ausgewachsenen Kriegswirtschaft sprechen zu können, würden derzeit noch viele wichtig Elemente fehlen (z.B. keine Wehrpflicht; keine Umstellung von Zivil- auf Rüstungsproduktion…). Andererseits seien aber gerade in jüngster Zeit Phänomene zu beobachten, wie u.a. das Vorhalten enormer Produktionskapazitäten, direkte staatliche Eingriffe in die Produktion, zunehmende staatliche Beteiligungen an Rüstungsfirmen oder auch das aktuell erwogene Vorkaufsrecht für die Bundeswehr. Hierdurch würde sich aktuell das Pendel Stück für Stück in Richtung einer Kriegswirtschaft verschieben, so Kirschs Fazit. Im Anschluss daran argumentierte IMI-Vorstand Jürgen Wagner, auch auf EU-Ebene seien im laufenden Jahr einzelne wichtige Elemente einer Kriegswirtschaft auf die Schiene gesetzt worden. Vor allem die derzeit bis 2025 befristeten neuen EU-Finanztöpfe EDIRPA (zur gemeinsamen Beschaffung von Rüstungsgütern) und ASAP (zur Ankurbelung der Munitionsproduktion) seien hier zu nennen. Anfang 2024 wolle die Kommission dann eine Art Kriegswirtschaftsgesetz vorlegen, in dem ASAP und EDIRPA zeitlich unbefristet und auf alle Rüstungsgüter erweitert zusammenfließen sollen, so Wagner.
Das letzte Panel ging auf die „Folgen der Aufrüstung: Sozial und global“ ein. Den ersten, auf Deutschland fokussierten Vortrag hielt IMI-Vorstand Jürgen Wagner, der anhand des Verteidigungshaushaltes argumentierte, bei der Erzählung von der kaputtgesparten Bundeswehr handele es sich um ein Märchen. Mit 100 Milliarden als Sondervermögen betiteltem Kriegskredit käme man nun endlich über das lange anvisierte 2%-Ziel der NATO. Doch während 2% des BIPs sehr wenig klängen, entsprächen sie 20% des Bundeshaushalts. Und da dem Verteidigungsministerium de facto schon zugesagt sei, dass das 2%-Ziel auch nach dem Auslaufen des Sondervermögens 2027 oder 2028 gesichert bliebe, hätten diese und folgende Regierungen eigentlich keine andere Möglichkeit außer im Haushalt für Arbeit und Soziales weitere massive Kürzungen vorzunehmen oder die Steuern zu erhöhen.
Pablo Flock, der im letzten Jahr schon zu den Auswirkungen des Ukrainekriegs auf den Globalen Süden referierte, erzählte zuerst die Geschichte der beiden südasiatischen Länder Sri Lanka und Pakistan weiter, wo die Verknappung und Verteuerung des von Europa weggekauften Flüssiggases zu Zahlungsengpässen und Eingriffen durch den internationalen Währungsfonds (IWF) führte. Im Falle Pakistans gebe es mit einem geleakten Dokument Anzeichen dafür, dass die USA diesen Kredit des IWFs nutzen, um den unliebsamen Premier Imran Khan aus dem Amt zu jagen. Danach ging er auf die Sahelländer ein, wo die Doppelmoral des Westens in der Ukraine und im Gazakonflikt, die Hinwendung zu anderen Mächten befeuere. An der afrikanischen Friedensinitiative und dem wachsen von Bündnissen wie BRICS sei diese Zuwendung zur Multipolarität zu sehen.
Auf dem Abschlusspodium unter dem Motto „Raus aus der Schockstarre – rein in die Bewegungen“ waren die antifaschistische Aktivistin Kitty, die Anti-Atom-Aktivist*innen Elisabeth und Martin, die das Magazin Anti-Atom-Aktuell herausgeben, Andreas Linder, der sich antirassistisch u.a. bei Move On in Tübingen politisch betätigt und die bei Verdi in München aktive Gewerkschafterin Hedwig Krimmer, die den Friedensappell „Sagt Nein!“ mit initiiert hatte, vertreten. Eine Schockstarre konnten nicht alle in ihren jeweiligen Spektren ausmachen, zumindest wurde aber eine Krise der Linken allgemein konstatiert. Wege aus der Krise sahen die Diskutierenden v.a. im Aufbau offener Strukturen, offenen Gesprächs- und Dialogangeboten und einer verstärkten Organisierung. So hob Hedwig Krimmer hervor, dass ein langfristiger Effekt des Appells „Sagt Nein!“ auch eine Organisierung der friedenspolitischen Kräfte innerhalb der Gewerkschaften sei. Alle waren sich auch einig, dass die verschiedenen Bewegungen zusammen gehören und gedacht werden müssten. Viele sind in mehreren Spektren gleichzeitig aktiv.