IMI-Standpunkt 2023/044
Blüten des Eurozentrismus
Nigers Junta kippt von der EU erkauftes Schleusergesetz.
von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 29. November 2023
Das Narrativ der Putschisten in Westafrika, ihre Politik nun nach den Interessen ihres Landes auszurichten, statt wie die vorherigen „Marionetten“ Frankreichs, nach den europäischen Bedürfnissen, dürften sie in ihrem Land damit verfestigen: Die Junta im Niger hat ein Gesetz außer Kraft gesetzt, dass den Transport, die Unterbringung und Verpflegung von People on the Move in Richtung Libyen und damit Europa unter Strafe stellte. „Die Schleusung irregulärer Migranten soll im westafrikanischen Niger künftig straffrei bleiben,“ steht dazu im Untertitel eines Tagesschau-Artikels, „Schleusung wieder straffrei“ darüber.1 Tatsächlich grenzt die Wortwahl hier jedoch an Fake-News, da die gemeinten Migranten im Land größtenteils keineswegs irregulär sind. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, auch als ECOWAS bekannt, steht der EU zumindest in diesem Punkt in nichts nach: Seit 44 Jahren schon dürfen sich die Bürger der Mitgliedsländer nämlich im ganzen Unionsbereich frei bewegen.2 Freilich nur, wenn sich keine Regierung bestochen durch Abermillionen von Euro aus der EU dazu entschließt, dieses Recht entgegen seiner internationalen Verträge einzuschränken.
Ehrlicherweise berichtet die Tagesschau auch davon, dass das „Gesetz unter Druck der EU verabschiedet“ wurde und auch, dass es „bei den Wüstenbewohnern in Niger unbeliebt“ gewesen sei, da „die ihren Lebensunterhalt durch die Versorgung und Unterbringung der Migranten verdienten“ und in vielen Gegenden die Arbeitslosigkeit deswegen stieg. Doch eine solche Änderung sei laut der Tagesschau natürlich so zu sehen, dass „die Junta Unterstützung im Inland“ suche.
(un)angebrachte Empörung
Das Verwerfliche daran kann die Tagesschau jedoch nur durch ein gebetsmühlenartige Wiederholung des Wortes Schleuser für das traditionelle Geschäft der nomadischen Wüstenbewohner aufbauen. Dass Menschen, die dem Geschäft ihrer Vorfahren nachgehen, nämlich dem Transportieren von Waren und Menschen durch die Wüste, dafür mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden konnten, scheint keiner Skandalisierung wert. Auch nicht, dass die EU sich dieses Gesetz gegen die Interessen der Bevölkerung durch die Aufrüstung und Ausbildung eines Sicherheitsapparates mit 75 Millionen Euro erkaufte, der sich dann schlussendlich gegen die demokratisch legitimierten Führungspolitiker stellte. Was die Tagesschau auch für keine notwendige Seiteninformation hält, das Onlinemagazin German-Foreign-Policy3 aber als durchaus wichtigen Kontext präsentiert, ist, dass durchaus nicht nur die nigrische Bevölkerung unter dem Gesetz litt, sondern natürlich zuallererst auch Geflüchtete. Diese mussten, keine Hilfe von der lokalen Bevölkerung aber Verfolgung durch die von Europa aufgerüsteten lokalen Behörden erwarten könnend, auf gefährlichere Routen durch die Wüste ausweichen. Nach Zählungen des Missing Migrants Project der International Organization for Migration (IOM) starben 2015, im Jahr vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, 56 Menschen auf ihrem Weg durch den Niger. 2017 waren es schon 433, fast das Achtfache an Toten. Die ohnehin hohe Dunkelziffer könnte durch die Notwendigkeit auf abgelegeneren Routen zu reisen, zudem gestiegen sein. Folgerichtig forderten neben lokalen Verbänden auch internationale Hilfsorganisationen und das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen einen anderen gesetzlichen Rahmen: „Migrationsgesetzgebung muss die Menschenrechte als zentrale Komponente beinhalten.“4
Unmenschliche Sanktionen
Aufgrund der zeitlichen Nähe kann sicher nicht ausgeschlossen werden, dass der nigrische Putschist und Übergangspräsident, General Abdourahmane Tchiani, dieses Gesetz als Antwort auf eine Stellungnahme des EU-Parlaments aussetzte. In dieser Resolution lobt es nicht nur die Sanktionen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), sondern fordert auch die Verabschiedung ähnlicher Sanktionen durch den Europäischen Rat.5 Diskussionen wie sie im Zuge des russischen Angriffskrieg kurz geführt wurden, inwieweit man die Bevölkerung für die Verbrechen ihrer autoritären Regierung bestrafen dürften, schienen hier keine Rolle zu spielen. Dabei scheint ein Punkt der damaligen Diskussion hier besonders gut sichtbar: Drängt man die Bevölkerung in so einem Falle dazu, sich hinter den Patriarchen gegen den Angriff von außen zu sammeln? Die Unterstützung der Junta aus der Bevölkerung wuchs nämlich, nachdem die ECOWAS diese Sanktionen implementierte. Abertausende versammelten sich damals, um dagegen zu protestieren. Kein Wunder, denn das Wüstenland, das auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen den letzten (!) Platz besetzt und dessen Staat sich größtenteils durch Uranverkäufe (ausschließlich an Frankreich) finanziert, muss einen Großteil seiner Bedürfnisse für den täglichen Bedarf importieren. Da Benin und Nigeria, die Nachbarländer, die zwischen dem Niger und dem Meer liegen, ihre Grenzen wegen der ECOWAS-Sanktionen geschlossen haben, müssen die Waren nun durch die von Dschihadisten heimgesuchte Grenze mit Burkina Faso oder von Algerien tausende Kilometer durch die Wüste gebracht werden. Lebensmittel verteuerten sich extrem, Medikamente werden knapp und ebenso die Elektrizität, die zu 70% aus Nigeria eingeführt wurde, was nun gestoppt wurde.
Doch anstatt zu diskutieren, inwieweit eine solche Geiselhaft der Bevölkerung für die Ziele der europäischen Politik gerechtfertigt sind, konzentrieren sich Leitmedien wie die Tagesschau darauf, über Gefahren für europäische Interessen, wie sie die Rechte definieren würden, zu berichten – gerne auch mit Falschdarstellungen, die die europäische Definition illegaler Migration unzutreffend auf andere Länder überträgt. Eurozentrismus vom feinsten!
A Propos Eurozentrismus: So endet der Bericht der Tagesschau über die Entkriminalisierung von Dienstleistungen: „Die Aufhebung des Gesetzes könnte schwerwiegende Folgen für die Migration über das Mittelmeer haben, sagte der Regionalbüroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Sahelzone, Ulf Laessing: ‚Jetzt tritt für Europa das Horrorszenario ein‘.“
Anmerkungen:
1 Niger hebt Anti-Migrations-Gesetz auf. tagesschau.de 28.11.2023
2 40 Years of Free Movement in ECOWAS ecowas.int 29.05.2019; Die Länder der hauptsächlich in Italien ankommenden Nationalitäten, die den Niger auf ihrem Weg zur zentral-mediterranen Route durchqueren müssen, sind Guinea und die Elfenbeinküste, beide Teil der ECOWAS. Siehe: Most frequent immigrants‘ nationalities declared upon arrival in Italy in 2022 statista.com abgerufen 28.11.2023
3 Die ignorierte Hungerblockade. german-foreign-policy.com 28.11.2023
4 Niger: human rights protection must be central to migration policies, says expert. ohchr.org 11.09.2018; Ebenso: Ärzte ohne Grenzen: Niger, at the crossroads of migration. msf.org 17.12.2019
5 European Parliament resolution of 23 November 2023 on the unlawful detention of President Mohamed Bazoum in Niger (2023/2980(RSP)) europarl.europa.eu